Volume 5, No. 1, Art. 35 – Januar 2004
Rezension:
Daniel Osterwalder
Claudia Rademacher & Peter Wiechens (Hrsg.) (2000). Verstehen und Kritik. Soziologische Suchbewegungen nach dem Ende der Gewissheiten. Festschrift für Rolf Eickelpasch. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 384 Seiten, 2. Abb., 4 Tab, ISBN 3-531-13515-5, EUR 38,00
Zusammenfassung: "Verstehen und Kritik" ist der Versuch, der Unübersichtlichkeit unserer Zeit, unserer Sozialsysteme und dem Abschied von den großen Gesamtentwürfen und Großerzählungen verschiedene Suchbewegungen entgegenzustellen. Damit soll das Nebeneinander von sehr unterschiedlichen theoretischen Perspektiven zu Tage gefördert werden. Durch methodische und theoretische Reflexionen und Analysen, die beispielsweise dem Trennenden, aber auch den Affinitäten zwischen den Arbeiten der Frankfurter Schule und jenen Pierre BOURDIEUs auf die Spur gehen, wird der Weg in die Vielfalt soziologischer Entwürfe und Möglichkeiten beschrieben. Im Zentrum des Bandes wird eindrücklich die Bedeutung der soziologischen Auseinandersetzung mit Kultur, Armut, Krankheit, Umwelt und Ethik hervorgehoben. Ungeachtet der überwiegend interessanten Beiträge fehlt dem Band eine im Titel versprochene Beschäftigung mit den zentralen Begriffen "Verstehen" und "Kritik", bei einigen Beiträgen fehlt der Bezug vollends (wie sich im gesamten Band auch nur wenig Verbindungen zu dem "Geehrten" ausmachen lassen). Bei anderen Beiträgen ist die Verknüpfung eher implizit; eine einende Klammer bei der Planung und Zusammenstellung des Bandes ist weitgehend nicht erkennbar; das Thema des Bandes, das Ende von Gesamtentwürfen und Metaerzählungen bildet sich – leider – in der Strukturierung (besser: Nicht-Strukturierung) des Bandes ab.
Keywords: qualitative Forschung, neue Informations- und Kommunikationstechnologien, Populärkultur, Kulturwissenschaft, formale Ethik, Kritische Theorie, Frankfurter Schule, Bourdieu
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Nachhaltige Suchbewegungen und Grenzgänge
2.1 Kultur als Leitbegriff soziologischer Suchbewegungen?
2.2 Die Kritische Theorie im Lichte der Arbeiten von Pierre BOURDIEU
2.3 Wichtige Suchbewegungen rund um Armut und Krankheit
2.4 Die Soziologie auf der Suche nach Innovation
2.5 Auf der Suche nach einem zeitgenössischen Ethikverständnis
2.6 L'etranger in der Soziologie: Über das Fremdsein heute
3. Ein Fazit
Die hier angezeigte, im Jahr 2000 im Westdeutschen Verlag erschienene Festschrift "Verstehen und Kritik", herausgegeben von Claudia RADEMACHER und Peter WIECHENS zum 60. Geburtstag des Soziologen Rolf EICKELPASCH, versammelt Aufsätze recht unterschiedlicher Güte und Reichweite, wie das nun einmal konstitutiv ist für Sammelbände – und wohl erst recht für Festschriften. Die Aufsätze nehmen praktisch keinen Bezug zu den Arbeiten des Geehrten (er ist nur in wenigen Fußnoten aufgeführt); vielmehr drehen sich die Autoren um die "weiten" Felder von Verstehen und Kritik. [1]
Der Titel weckt aber bei den LeserInnen recht hohe Erwartungen, namentlich jene zu einer profunden Auseinandersetzung über die methodologische und wissenschaftstheoretische Bedeutung von Verstehen respektive der Hermeneutik und über die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Die Verbindung im Titel evoziert schließlich eine kritische Durchdringung des mit "Verstehen" und "Kritik" abgesteckten Forschungsfeldes. [2]
Verstehen oder – wählen wir eine sehr rasche Abkürzung – Hermeneutik drehen sich um Interpretation, um Deutung, um die Lehre der Interpretation und die Fallstricke der Interpretation, die immer dem Verstehen inhärent sind (siehe dazu auch KJØRUP 2001). Wichtig aus der Sicht der qualitativen Forschung sind dabei auch Überlegungen zur Abhängigkeit der Deutung und Interpretation von den Deutenden, dem Forscher und der Forscherin, der Umgang mit Vorverständnis und Vorurteil und letztlich die Perspektive des Lesenden als "Schöpfer der Bedeutung des Textes" (KJØRUP 2001, S.250). [3]
Gleich vorweg: Die Festschrift genügt diesem hohen Anspruch nicht immer, was die HerausgeberInnen möglicherweise auch anlässlich der Niederschrift der Einleitung vermuteten, schreiben sie darin doch, dass "die Unübersichtlichkeit eine[r] immer komplexer werdenden Sozialwelt" den "Abschied von soziologischen Gesamtentwürfen erzwingt" und dass wir künftig mit einem "pluralistischen Nebeneinander von theoretischen Perspektiven, Ansätzen und Schulen" (S.9) zu rechnen haben. [4]
Dies führt direkt zur Schwierigkeit beim Lesen (und Rezensieren!) dieses Sammelbandes: Aus den an sich sehr interessanten und wichtigen Beiträgen geht nicht hervor, dass eine Fragestellung, ein Konzept als einende Klammer bei der Planung des Bandes Pate stand. Die m.E. epistemologisch wichtigen Termini "Verstehen" und "Kritik" werden nicht auf den Punkt gebracht, um beispielsweise als Fokus der Beiträge zu dienen. – Drei Beispiele seien angeführt:
Im Versuch, die Intention und Wirkung Rolf EICKELPASCHs in der Lehre zu würdigen, verfasste Alfons CRAMER in "Im Hinterkopf die Lehre, im Blick die Karriere oder warum die besten Lehrabsichten zumeist auf der Strecke bleiben" einen Überblick zur Misere der Lehre an deutschen Universitäten. Diese Misere, trotz des Aufbruchs in den 1970er Jahren, als auch die Lehre zusätzliche Finanzquellen erschloss, macht der Autor einerseits am mangelnden Interesse der Hochschullehrer am "Karrierehemmer" Lehre fest, andererseits weist er sehr überzeugend auf die Mängel in der Ausbildung der Hochschullehrer (insbesondere in den Bereichen Didaktik, Hochschul- respektive Erwachsenendidaktik) hin. Hervorgehoben wird etwa die unzureichende Unterstützung jener Lehrstühle, die methodisch-didaktisch innovativ arbeiten und neue Wege gehen. Der Bezug zu "Verstehen", wie es eingangs ausgeführt wurde, fehlt mir, wiewohl der Beitrag von CRAMER sicher wichtig ist für die (auch politischen) Auseinandersetzungen um Lehre.
Als noch schwieriger erweist sich die Einbettung des Aufsatzes von Monika FRIEDRICH, der "[v]on der Schwierigkeit qualitativer Forschung. Schlingen und Fallen in der Praxis" berichtet. Die Autorin weist darin auf mögliche Probleme (wie beispielsweise das Protokollieren während der Durchführung von Leitfadeninterviews, die Ausschöpfung technischer Möglichkeiten, das Finden von Interviewpartnern, die Ordnung und Analyse der anfallenden Daten) bei der Befragung von Einzelpersonen in ausführlichen Leitfadeninterviews hin, vergisst dies aber in den Kontext des eingangs aufgewiesenen Bezugsrahmens einzubetten. Es wäre sicher begrüßenswert gewesen, als LeserIn Bezüge zu "Nachfühlen", "Nacherleben", "Einfühlung", "Empathie" – allesamt wichtige Begriffe bei DILTHEY (1974) oder GADAMER (1975) – zu erhalten, um die Ausführungen der Autorin zu "Verstehen" in einem größeren Rahmen zu sehen. Aber abgesehen davon beschreibt FRIEDRICH die Schwierigkeiten qualitativer Forschung sehr praxisnah und fundiert, indem sie Mittel und Wege aufzeigt, diesen im Kontext von Interviewstudien zu entgehen. So führt sie beispielsweise Kriterien an, wie sich Forschende im Sinne einer Selbstreflexion auf Interviews vorbereiten, die inhaltlich Lebenswelten zum Thema haben. Dieser Vorbereitung misst sie nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Dazu gehört ihrer Ansicht nach auch die konkrete Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit der Befragten. Weiter zeigt sie Wege auf, wie "Verweigerungshaltungen" aufgefangen werden können, beispielsweise dann, wenn die Forschenden rasch darauf reagieren müssen, dass Interviewte sich gegenüber der Aufnahmetechnik "querstellen".
Unkritisch und relativ distanzlos betrachtet Burkhard LEHMANN die so genannten neuen Bildungsmedien als Schlüssel hin zu "lernerzentrierten Modellen" von Unterricht. Ins Feld führt er dabei, dass Lerninhalte zunehmend von Institutionen und Lehrenden losgelöst beispielsweise im Internet frei Haus abgefragt werden können. Nur: Ein Online-Kurs, ein Fernstudium, das auch heute noch vorweg auf dem "geführten" Erlernen von vorgegebenen Inhalten beruht, hat noch wenig mit lernerzentrierten Modellen zu tun.1) Etwas pauschal weist er darauf hin, dass die neuen Bildungsmedien den Zugang zur Bildung per se verbessern sollen. Einmal abgesehen davon, dass die neuen Medien nicht überall dieselbe Verbreitung in ähnlicher Qualität finden, vernachlässigt LEHMANN dabei auch die Unterschiede beispielsweise in den Ländern der EU hinsichtlich des Zugangs zu neuen Medien. Lernen respektive individualisiertes Lernen beispielsweise im Sinne innerer Differenzierung wird hier verkürzt wiedergegeben als Lernen des Einzelnen. [5]
Neben solchermaßen (fundierten und nicht hinreichend reflektierten) Beiträgen finden sich auf der anderen Seite in der Aufsatzsammlung theoretische Annäherungen an die möglichen Schnittpunkte zwischen Pierre BOURDIEUs Theoriegebäude und dem der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die zumindest eine Annäherung an von "Verstehen und Kritik" erlauben; allerdings wurden die im Band versammelten Aufsätze den beiden Schwerpunkten (Verstehen oder Kritik) nur teilweise zugeordnet und danach recht zufällig hintereinander abgedruckt. Verbindungen und Übergänge zwischen den Aufsätzen werden nicht vorgenommen, obwohl dies – zumindest bei einigen – angebracht gewesen wäre, um damit Wegmarken zur besseren Orientierung innerhalb der Festschrift herzustellen. Die HerausgeberInnen lenken mit zwei kleinen Wortspielen ("Verstehende Kritik" als Überschrift für den ersten Teil, "Kritisches Verstehen" als Überschrift für den zweiten Teil der Festschrift) von einer herausgeberischen Auseinandersetzung über "Verstehen" und "Kritik" ab. – Doch trotz dieses editorischen Versäumnisses rechtfertigt die Güte verschiedener Beiträge, die sich luzide und konzis den unterschiedlichen Ansätzen der Soziologie nähern, den Kauf und die Auseinandersetzung um Verstehen und Kritik. Ich nehme mir deshalb die Freiheit, mich im Folgenden (als Suchbewegungen bezeichnet) auf einige für mich zentrale Themen zu beschränken. Und: Ich nehme mir weiter die Freiheit, einzelne Aufsätze, die unter "Verstehen" eingereiht wurden, der "Kritik" zuzuordnen, um (so hoffe ich: nachträglich) ein wenig Klarheit über den Band zu schaffen. [6]
2. Nachhaltige Suchbewegungen und Grenzgänge
Die hier als nachhaltige Suchbewegungen bezeichneten Aufsätze, die im Folgenden nachgezeichnet werden, weisen als Referenzpunkte auf: a) Kultur im weitesten Sinn des Wortes; die Arbeiten reichen dabei von der Begriffsbestimmung bis über neuere Interpretationen des Werks des Instituts für Sozialforschung (HORKHEIMER, ADORNO, MARCUSE) und der bahnbrechenden Studien des französischen Soziologen Pierre BOURDIEU; b) Armut und Krankheit, wobei auf den konstruktiven Charakter der Zuschreibung einer sozialen Lage, ob Armut oder Krankheit, hingewiesen wird, c) wissenschaftstheoretisch innovative Ansätze zum Verständnis von Akzeptanz im Verhältnis zu verändertem Verwaltungshandeln und der Integration von "Umwelt" innerhalb eines theoretischen Gesamtsystems, d) ein zeitgenössisches Verständnis von Ethik, worin u.a. aufgezeigt wird, dass das Einsetzen von Ethikkommissionen den Diskurs über Ethik zu einem Stellvertreterdiskurs verkommen lässt und schließlich e) "Fremdheit" in einer fremden Welt, wo darauf verwiesen wird, dass allem Anschein nach das Verstehen von Fremdheit nicht mehr konstitutiv ist für die Selbstreflexion des Selbst. [7]
2.1 Kultur als Leitbegriff soziologischer Suchbewegungen?
Die "Positivierung des Unbestimmten" widmet Peter WIECHENS dem Versuch einer Neufassung einer Epistemologie der Kulturwissenschaften. Er beginnt bei der vernichtenden Kritik, die noch in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts dem Versuch einer Etablierung der Kulturwissenschaft entgegenschlug und versucht zu zeigen, dass der Terminus Kulturwissenschaft eine "alternative, womöglich modernere, zeitgemäßere Bezeichnung für die bereits bestehenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen" (S.160) anbietet. [8]
Dabei drängt sich die Einsicht in die "Geschichtlichkeit von Texten", aber auch von der "Textualität der Geschichte" auf, die dazu führt, dass die Grenzen in der einzelnen Disziplin, aber auch zwischen den Disziplinen verschwimmen. Kulturwissenschaftliche Erkenntnis gründet WIECHENS zufolge auf einer spezifischen Wertebeziehung. Damit wird Kultur zu einem "vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachte[n] endlichen Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens" (S.175). WIECHENS begnügt sich – sinnvollerweise – mit der Anerkennung der "Oszillation zwischen Bestimmbarkeit und Unbestimmbarkeit, Darstellbarkeit und Undarstellbarkeit" (S.177) des Forschungsgegenstands. [9]
Claudia RADEMACHER verortet die Populärkultur in "Kitt oder Sprengstoff?" im Spannungsfeld zwischen "Reproduktion" und "Subversion". Sie greift dabei den "Trend" auf, dass die Populärkultur zunehmend Gegenstand des akademischen Diskurses wird, wobei diese Rezeptionen zwischen "flächendeckendem Schwachsinn" und Erhebung zur "Light-Version ästhetischer Innovationen und Irritationen" (S.323) oszillieren; ein "Trend", den die Cultural Studies befördern. RADEMACHER liest diesen Diskurs insofern richtig, als sie die Irritation oder auch ambivalente Rolle der Populärkultur (die dieser auch zugewiesen wird) in den Vordergrund hebt. Folgerichtig geht sie von hier aus auch der Frage nach, inwiefern die Deutungen der Populärkultur zu gesellschaftlichen Prozessen konvergieren, wobei sie drei Deutungspositionen unterscheidet (Kulturpessimismus, beispielsweise bei Neil POSTMAN; Kulturoptimismus und schließlich Sozialkonstruktivismus im Sinne einer Überwindung des Standpunktes der Kritischen Theorie). RADEMACHER weiß zu zeigen, dass die Denkfiguren ADORNOs in der heutigen Zeit merkwürdig veraltet wirken, seien es doch Differenz, Diversität und Vielfalt, die Kultur definieren. RADEMACHER verweist auf den Ansatz von HALL (2000), der Kultur nicht in "wertvoll" und "populär" einteilt, sondern als "das im weitesten Sinne geteilte Bedeutungssystem einer Gesellschaft" (S.334) versteht, wobei – so RADEMACHER – in dieser Arena ein Kampf um Bedeutungen stattfindet und der Prozess der Hegemonisierung und Konter-Hegemonisierung in den Vordergrund gerückt wird. [10]
Der Frage, inwiefern die Dichotomie "Populärkultur" versus "Hochkultur", "volkstümlich" versus "gebildet" heute überhaupt noch ein Schlüssel zum besseren Verständnis der gesellschaftlichen Funktion der Kultur ist, geht Martin DOEHLEMANN in "Erlebnisweisen des Schönen" nach. Ihm zufolge lösen sich die traditionellen Unterschiede in den Erlebnisweisen des "Schönen" auf. DOEHLEMANN führt dies auf unterschiedliche Gründe zurück, u.a. auch auf das sich ändernde Selbstverständnis der Künstler/der Kunstproduzenten selbst, denn die "Künstler des 20. Jahrhunderts wollten den Kunstbegriff radikal entgrenzen und gewöhnliche Dinge, in ungewöhnliche Umgebungen gestellt, zu Kunstwerken von eigentümlicher Schönheit erklären" (S.350). Dafür stehen etwa die Werke von Marcel Duchamp, Andy Warhol oder Beuys. Ironisch-spielerische Selbstreflexivität gewinne heute zunehmend Raum in der Debatte über Kunst. "Sich in seinem Ernst nicht so ernst und sich in seinem Unernst durchaus ernst zu nehmen" (S.352) werde zu einer neuen Rezeptionshaltung. [11]
Die Entgrenzung des Kunst-, aber auch des Kulturbegriffs (oder zumindest dessen Loslösung von einem elitären Kulturverständnis), wie sie RADEMACHER, aber auch DOEHLEMANN aufweisen und ansprechen, kann als eine Folge des erweiterten Kulturbegriffs BOURDIEUscher Provenienz verstanden werden. – Der französische Soziologie hat mit "Die feinen Unterschiede" (1987) eine bahnbrechende Studie vorgelegt, die insbesondere durch seine Unterscheidung zwischen verschiedenen Kapitalarten (ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital) hervorsticht, und in der er seine wichtigsten Grundbegriffe: Sozialer Raum, Habitus und Lebensstile verbindet. [12]
2.2 Die Kritische Theorie im Lichte der Arbeiten von Pierre BOURDIEU
Ulrich BAUER und Uwe H. BITTLINGMAYER machen in "Pierre Bourdieu und die Frankfurter Schule" den Versuch, Affinitäten der doch recht unterschiedlichen Theoriegebäude herauszuarbeiten und fragen danach, ob die Kritische Theorie in BOURDIEU eine Fortsetzung findet. Ihr Resümee lautet: Gemeinsam ist den theoretischen Ansätzen der Frankfurter Schule und BOURDIEU der Versuch, eine kritische "Gegenmacht" aufzubauen bzw. kritisch die ökonomische Hegemonie zu beleuchten. Als Aufhänger für den Vergleich wird "Kultur" herangezogen, die – so die Kritische Theorie – in den fortgeschrittenen Gesellschaften zum zentralen Medium der Herrschaftsvermittlung avancierte. Die Kritische Theorie weist – so die beiden Autoren – u.a. auf, dass die antifeudale Rationalisierung der Produktionsverhältnisse nur einem schmalen Segment des Besitz- und Bildungsbürgertums zugute kommt, während die "überwiegende Mehrheit indes [...] auf ihre physische Reproduktion, ihr nacktes Überleben zurückgeworfen" (S.245) wird. Dabei sei es, so beispielsweise bei MARCUSE, für die Kritische Theorie ausgemacht, dass "die Reproduktion dieser Vergesellschaftungsform ausgerechnet von eben denen getragen wird, die am wenigsten von ihr profitieren" (S.246). – Kultur wird damit nicht mehr als Sphäre des "Anderen", "Nicht-Ökonomischen" verstanden, sondern verkommt zum "massenwirksamen kulturindustriellen System aus Printmedien, Radio, Film und Fernsehen", das "standardisiertes Amusement statt entfesseltes, Unterhaltung und Zerstreuung statt Muße" (S.256) bietet. Massenkultur wird auf diesem Weg zum totalitär integrierenden Medium, so BAUER und BITTLINGMAYER zur Kritik ADORNOs und HORKHEIMERs an der Kulturindustrie. [13]
BAUER und BITTLINGMAYER ziehen den Schluss, dass die Kritische Theorie zwar über keinen einheitlichen, zeitlich invarianten Kulturbegriff verfügt habe, trotzdem zeige die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie, dass "gesellschaftliche Integration als kulturell vermittelter Herrschaftsprozess gedeutet" (S.262) werden kann, und sie sehen hier Berührungspunkte zum BOURDIEUschen Habitus-Konzept, mit dem dieser ein Instrument vorgelegt hat, "menschliches Handeln als durch eine umfassende Struktur" (S.273) determiniert zu begreifen. Die bereits eingeführten Strukturen und der individuelle Habitus stehen zudem in einem engen, wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Damit stelle "Kultur ... einen Totalitätszusammenhang dar, der über den Habitus verleiblicht wird und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse auf Dauer stellt" (S.281). [14]
2.3 Wichtige Suchbewegungen rund um Armut und Krankheit
"Armut", verstanden als soziales Konstrukt, widmen sich Olaf GROH und Carsten KELLER in "Armut – Arbeit – Ungleichheit. Zur sozialen Konstruktion von Armut und ihren Verkennungen". Ausgehend vom Ausblenden älterer Klassen- und Schichtungskonzepte in der heutigen Ungleichheitsforschung weisen die Autoren auf die Folgen der systematischen Unklarheit "darüber, wie sich Armut sozialstrukturell verorten ... lässt" (S.299) hin. Sie schälen drei Armutsforschungsstränge heraus, deren konstitutives Merkmal das Verständnis von Armut als isoliertem Phänomen sei. [15]
Im Rückgriff auf Gerhard OESTREICHs und Michel FOUCAULTs Sozialdisziplinierungsmodell weisen GROH und KELLER, beginnend in der Frühen Neuzeit, auf die Konstruktion des Gegensatzes "Armut" (verstanden als "Nichtarbeit") versus "Lohnarbeit" hin. Diese nähmen Gestalt an im Institut der Armenfürsorge oder – in der Terminologie der Frühen Neuzeit – der "Policeyordnungen". GROH und KELLER zufolge ist Armut eine soziale Konstruktion; und mehr: Die Autoren zeigen, dass die soziale Konstruktion von Armut "auf doppelte Weise normativ" (S.301) sei: normativ hinsichtlich der Definition einer objektiven Lebenslage, normativ aber auch hinsichtlich subjektiver Lebensweisen, womit Armut in Gegensatz zu der "normalen" Existenzstrategie der Erwerbsarbeit gesetzt wird. Damit wird die Armenfürsorge zur Rückseite der sozialen Konstruktion der Lohnarbeitsexistenz, denn letztere basiert nicht nur auf ökonomischen Gründen, sondern baut auf den Prozess "der Herstellung von Verhaltensnormen, Wahrnehmungsmustern und Mentalitäten [auf], wie ihn das Konzept der Sozialdisziplinierung zu beschreiben versucht" (S.301). [16]
"Armut ist in industriekapitalistischen Gesellschaften wesentlich und zum größten Teil an die soziale Lage, an die spezifischen sozialen Risiken und an die alltagsethischen Mentalitäten der Arbeitermilieus gebunden." (S.306) Obwohl mit dem Aufkommen des Wohlfahrtsstaatsmodells die sozialen Risiken von Armut in Arbeit abgefedert werde, bleibe es bei der sozialen Konstruktion von Armut als Nicht-Arbeit. GROH und KELLER zeigen, dass die "Individualisierung" der Logik von Stigmatisierung und extremer Armut in der gegenwärtigen Armutsforschung eine Neue Armut produziere, die so anders als die "alte" Armut nicht ist. Dadurch erst gelinge es, die Armut von sozialen Lagen, von Schichtung, von der sozialen Frage zu lösen, was einer ökonomischen Logik das Wort rede. [17]
Neuere Forschungen zeigten zudem, so GROH und KELLER, dass rund die Hälfte der einkommensarmen Personen in Deutschland in reinen Erwerbstätigenhaushalten leben. Das Ausmaß der Armut in Erwerbstätigkeit sei insgesamt groß. Die Deindustrialisierung und Suburbanisierung führten
"zur Herausbildung einer underclass, in der die Werte von Arbeit und Bildung immer noch verbreitet sind, die aber angesichts der schwindenden Arbeitsplätze und des Verlusts der um geregelte Erwerbsarbeit zentrierten sozialen Netzwerke und role models zu anderen Überlebensstrategien greifen muß und Versatzstücke einer ghetto-related behavior ausbildet" (S.316). [18]
Dirk RICHTER vermittelt in "Psychische Erkrankung" zwischen sozial konstruiertem Mythos und medizinischer Realität und hängt diese Vermittlung sehr klug auf an der letztlich sinnlosen Frage, ob nun die Naturwissenschaften die "wahreren" Wissenschaften seien als die Sozial- und Geisteswissenschaften (siehe neuerdings aus der Sicht der Sozial- und Geisteswissenschaften dazu KJØRUP 2001), was schließlich auch die Auseinandersetzung rund um die Konstruktion psychischer Krankheiten mit einbezieht. RICHTER setzt sich dabei mit den Arbeiten von Michel FOUCAULT (1968), Thomas SZASZ (1997) und Thomas SCHEFF (1973) auseinander. [19]
Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, dass sich FOUCAULTs Arbeiten um die offenbar zunehmende Machtausübung und Disziplinierung im Zusammenhang mit der Modernisierung drehten, die in der Behauptung münden, dass Psychiatrie und Psychologie Geisteskrankheit im Kontext moralischer und vernunftgemäßer Machtausübung konstruieren. SZASZ wiederum setzte die Trias Macht, Moral und Medizin ins Zentrum seiner Untersuchungen zur Geisteskrankheit. SZASZ sei – so RICHTER – insofern über FOUCAULT hinausgegangen, als er für "alle Formen von Verhalten eine möglichst weitgehende Selbstbestimmung" (S.131) reklamiert habe. SCHEFF führte die Arbeiten von SZASZ weiter: Für ihn seien psychische Krankheiten nichts anderes als ein Label, eine Etikette, die den Betroffenen zugewiesen würden. [20]
Als Gemeinsamkeit der erwähnten Autoren stellt RICHTER heraus, dass "mit der Psychiatrie zugleich eine Ausübung gesellschaftlicher Macht verbunden ist" (S.136). In Anlehnung an QUINE und RORTY verweist RICHTER auf die große Bedeutung des Problems der Unabhängigkeit der Tatsachen von der Sprache. Sprache sei unhintergehbar kontingent, weshalb es unmöglich sei, hinter die Konvention oder Konstruktion von Erfahrung qua Sprache kommen zu können. [21]
Auf der Grundlage dieser Bezüge analysiert RICHTER die eingangs gestellte Frage nach der "Wirklichkeit" psychischer Krankheiten. Er führt dabei die bekannte Kritik an FOUCAULT und SZASZ an und zeigt, dass diese Ansätze sich vor allem gegen die Großpsychiatrie gerichtet haben. Dies entspreche aber nicht mehr der psychiatrischen Wirklichkeit von heute. [22]
2.4 Die Soziologie auf der Suche nach Innovation
Einen wichtigen Beitrag im Sinne einer innovativen Suchbewegung liefert Klaus KRAEMER in "Die spärliche Resonanz eines Problems", worin er zeigen kann, warum Umwelt im "Sinne der Vergesellschaftung von Umwelt" bis dato in der soziologischen Theorie kaum reflektiert worden ist. Er spricht von einer regelrechten Absenz der ökologischen Problematik in der Sozialtheorie. Sehr genau zeichnet der Autor die spärlichen Versuche seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nach, ökologischen Fragestellungen Einlass in die Soziologie zu gewähren. Mit BECK (1986) sei aber erkannt worden, dass moderne "Gesellschaften [...] mit bisher ungeahnten ökologischen Gefährdungslagen konfrontiert" seien (S.72). [23]
KRAEMER weist nun eindrücklich nach, dass die Nichtintegration von Umwelt in der Soziologie bereits mit Max WEBER ihren Anfang nahm, da dessen "Kategorie des sozialen Handelns ... zu eng gefasst [ist], um die Wechselwirkungen menschlicher Praktiken mit der naturalen Umwelt in ihrer Gesamtheit begrifflich fassen zu können" (S.76). KRAEMER mahnt deshalb, dass Prozesse der Vergesellschaftung nur dann "hinreichend soziologisch erfasst werden können, wenn ... auch das [Verhältnis] von Gesellschaft und (physischer) Umwelt" (S.77) in den Blick genommen werde. Zugespitzt wurde, so KRAEMER, die Verengung der Soziologie in Abgrenzung zur Umwelt durch die Arbeiten von Niklas LUHMANN. KRAEMER zeigt, wie dessen Konzeptionalisierung sozialer Systeme hinter den Erkenntnisstand der Theorie "umweltoffener Systeme" zurückfällt. [24]
Als ebenfalls als innovativ, wenn auch in einem ganz anderen Bereich, erachte ich den Aufsatz von Georg KNEER, der in "Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen" die Akzeptanzkrise von Verwaltung und Politik nicht mit dem bekannten INGLEHARTschen Wertewandel zu erklären versucht, sondern aufweist, inwiefern diese Krise auch Ausdruck und Resultat strukturellen Wandels der öffentlichen Verwaltung ist. In einem ersten Schritt zeichnet KNEER Akzeptanz als Forschungsgegenstand nach, dabei vor allem dessen Nichtbeachtung. Für TÖNNIES, SIMMEL, WEBER, aber auch PARSONS waren Phänomene der Nichtakzeptanz wie Widerstand, Ablehnung und Protest weitaus interessanter zu untersuchen als jene der Akzeptanz. Akzeptanz und ihr Pendant Ablehnung "stellen [aber] zwei funktional äquivalente Lösungen des Problems der Fortsetzung der Autopoiesis sozialer Systeme dar" (S.98). Damit bindet KNEER Akzeptanz an konkrete Problemlösungen und Entscheidungen, weiter auch an Macht. [25]
Überlegungen zur Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen verlangen deshalb die Auseinandersetzung um politische Macht. Der Gewinn, den KNEER daraus für die Forschung zieht, scheint aber gering zu sein: Dass Verwaltungen aktiv gestaltende Institutionen sind, die beispielsweise durch ihr Handeln die Entscheidungen der Politik beeinflussen (können), ist spätestens seit den Arbeiten von SCHARPF bekannt. Wichtiger ist aber, dass KNEER zeigen kann, auf welche Weise Bürgerinnen und Bürger auf das Verwaltungshandeln Einfluss nehmen können, beispielsweise mit dem Drängen nach einem runden Tisch, mit Klagen vor Verwaltungsgerichten und mit anderen Formen politischen Protests. [26]
2.5 Auf der Suche nach einem zeitgenössischen Ethikverständnis
Das Einsetzen von Ethikkommissionen in vielen Staaten verweist auf den Versuch der Politik, komplexen, aber wertbehafteten, teils heftig umstrittenen Themenkreisen wie der Gentechnologie die härtesten Spitzen der Kritik zu brechen. GRUNERT geht dem in seinem Aufsatz "Was soll ich tun?" nach, indem er darin die Abgründe, Fallstricke und die Diskursivität von Ethik behandelt. Ausgang seines Exkurses ist die Frage von Immanuel KANT "Was soll ich tun?" als Leitfrage der Ethikdiskussion. Während KANT den Ethikdiskurs mit dem bekannten kategorischen Imperativ zu einer Antwort führt, zeigt ein erster Blick in die heutige Diskussion, den uns GRUNERT gewährt, dass eine begründungslogische und normative Einheit der Ethik nicht mehr als vorausgesetzt angenommen werden darf. Er weist auf die Tendenz zu so genannten Bereichsethiken hin, wie wir sie heute antreffen, und die auf eine ambivalente Spezialisierung des moralischen Urteils zielt. Politisch wird dies solcherart aufgenommen, dass Ethikkommissionen die moralische Urteilsfindung befördern sollen, so z.B. in der Debatte um die Folgen der Gentechnologie, um nur den herausragenden Gegenstand herauszugreifen. Damit wird der Ethikdiskurs zu einem Stellvertreterdiskurs, der sich – so GRUNERT – zunehmend verselbständige. [27]
Dass die Frage nach einer ethischen Begründung nicht nur in wissenschaftlichen Themen aktuell ist, zeigt Frank HILLEBRANDT, der in "Minima Utopia" fragt, warum die sozialtheoretischen Versuche, utopische Entwürfe vor dem Hintergrund einer kritischen Bestandsaufnahme auf der Basis struktureller Grausamkeiten wie Armut zu entwerfen, weniger geworden sind. Auf der Suche nach einer soziologischen Basis einer formalen Ethik des Intolerablen greift er auf die 1997 von Pierre BOURDIEU et al. vorgelegte Studie "Das Elend der Welt" zurück. Es geht HILLEBRANDT dabei um den Entwurf einer neuen Ethik, die es möglich macht, nicht gänzlich die Augen vor dem Leiden der Menschen zu verschließen. Er verbindet dabei Michel FOUCAULTs (1984) Überlegungen zu den Selbstpraktiken mit Richard RORTYs (1992) Idee der Solidarität als Sensibilität für das Leiden und Axel HONNETHs (1992) Versuch, die strukturellen Formen von Missachtung und Demütigung gesellschaftstheoretisch zu fassen. [28]
HILLEBRANDT verweist auf die Herangehensweise von RORTY, der sich in seinen Arbeiten nicht um Macht und Disziplin drehe, sondern die Kontingenz in den Vordergrund rücke; Kontingenz bei der Erzeugung des Selbst oder Kontingenz im Zusammenhang mit Wahrheit; RORTY könne dabei u.a. zeigen, dass Moralität nicht auf Vernunft, sondern auf dem Empfinden, auf einem Gefühl des Mitleidens beruhe. [29]
Schließlich zieht HILLEBRANDT Axel HONNETHs Arbeit über Missachtung bei, worin dieser die drei wichtigsten Formen von Missachtung (Misshandlung/Vergewaltigung, Entrechtung/Ausschließung und Entwürdigung/Beleidigung) zu einer Modifikation einer kritischen Gesellschaftstheorie eingrenzt, die in die Strukturen der modernen Gesellschaft eingeschrieben seien. Hieraus folge, "dass die spätmoderne Gesellschaft einem großen Teil ihrer Mitglieder ein würdiges und selbstbestimmtes Leben strukturell verstellt" (S.218). HONNETH geht dabei – so HILLEBRANDTs Analyse – über die Arbeiten von FOUCAULT und RORTY hinaus, indem er auf die Bedeutung sozialer und gesellschaftlicher Anerkennung hinweist, die erst das Selbstvertrauen, die Selbstachtung und Selbstschätzung des Einzelnen zum Tragen bringen. Und: Mit dem Lebensstilkonzept BOURDIEUs lasse sich nachweisen, dass die "soziale Welt nicht analog zu einem Glücksspiel zu begreifen ist, in dem vollkommene Konkurrenz und Gleichheit der Gewinnchancen herrschen" (S.229). – HILLEBRANDT schließt daraus, dass eine Ethik des Intolerablen nicht nur an den strukturellen Ursachen von Ungleichheit, sondern auch bei der Auswirkung der Ungleichheitsstruktur auf die alltägliche Lebensführung ansetzen muss. [30]
2.6 L'etranger in der Soziologie: Über das Fremdsein heute
Dem Leitsatz Martin BUBERs "Ich bin das Ich durch das Du" verpflichtet, beschreibt Jens KASTNER – in "Eine Order aus dem Nirgendwo. Der Fremde droht der Soziologie der Fremdheit fremd zu werden" – Fremdsein auf originelle Weise. Ausgehend von Meldungen der Tages- und Wochenpresse, die vom "Fremden" als von einer "Zeitbombe" sprechen, untersucht er die Wahrnehmung des Fremden, insbesondere jene der Kurden und Kurdenproteste im Anschluss an die Verhaftung des PKK-Führers Abdullah Öcalan heute. KASTNER argumentiert dabei mit Zygmunt BAUMANN (1995), der "Fremdheit" als gesellschaftsspezifisch hergestellt definierte und untersuchte, auf welche Weise "Fremde" konstruiert und die hierzu zugeschriebenen Gegensätze soziopolitisch wirksam werden. Das Diktum BAUMANNs, dass es "ohne das Fremde ... das Eigene nicht" (S.370) gibt, scheint aber KASTNER zufolge seine Wirksamkeit für die Soziologie verloren zu haben. [31]
Während das Ende der Geschichte und die Unwirksamkeit oder Irrelevanz großer theoretischer Entwürfe prophezeit wird, zeigt die hier besprochene Festschrift, einschließlich aller Einwände, dass der Soziologie die Arbeit nicht ausgeht. CRAMER beispielsweise hat ein interessantes Forschungsfeld (über die universitäre Lehre, deren Bedeutung, aber auch deren Wirksamkeit) abgesteckt. [32]
RADEMACHER, DOEHLEMANN, WIECHENS sowie BAUER und BITTLINGMAYER zeigen die Bedeutung der soziologischen Auseinandersetzung mit "Kultur" auf. Letztere verweisen zudem sehr eindrücklich auf die Fortführung der Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in den Arbeiten von Pierre BOURDIEU. Sehr interessant wäre dabei eine einigende Klammer zwischen den Aufsätzen von RADEMACHER sowie BAUER und BITTLINGMAYER gewesen, zumal es sicher wichtig wäre zu sehen, ob die tiefgreifende Kritik von RADEMACHER an ADORNOs Kunst- und Kulturbegriff in BOURDIEUs Arbeiten aufgegangen ist. Im Zeitalter des "Nützlichkeitsparadigmas" wäre es weiter angebracht gewesen zu zeigen, warum sich die Soziologie mit Kultur auseinandersetzen muss, um das Verstehen soziokultureller Vorgänge zu ermöglichen. [33]
GROH, KELLER und RICHTER informieren uns darüber, wie wichtig es ist, dass wir uns soziologisch mit Armut und Krankheit auseinandersetzen, während KRAEMER und KNEER sich innovativ für die Soziologie mit Umwelt und Verwaltungshandeln beschäftigen. Seit rund zwanzig Jahren wird das Ende des Wohlfahrtsstaates teils ausgerufen, teils gefeiert. Dass Globalisierung, Deregulierung, Privatisierung, der Abbau des Gesellschaftsvertrags zwischen Kapital und Arbeit und – um es auf die Ebene von Organisationen herunter zu brechen – Business Reengineering oder New Public Management auch mit Armut und Krankheit zu tun haben können, mit vermehrter Ausgrenzung, wird m.E. allzu oft vergessen oder wird mit der "Unausweichlichkeit des Faktischen" begründet, wenn nicht gar als irrelevant abgetan, wie es von CASTELLS (2001) sehr kritisch analysiert wird. GROH und KELLER lösen mit ihrem Aufsatz über Armut in Arbeit hoffentlich eine vertiefte Auseinandersetzung über die Folgen der Umwälzungen der zwei letzten Dezennien aus. In eine ähnliche Richtung könnten die Aufsätze von GRUNERT und HILLEBRANDT weisen, die uns zudem die kritische Auseinandersetzung mit Ethik ans Herz legen, während KASTNER nachweist, auf welche Weise unser Bild von "Fremdsein" entsteht bzw. sich dessen soziologische Durchdringung verändert hat. Während Europa mit "Schengen" den Rolladen vor der Fremdheit herunterlässt, könnte eine in die Zukunft weisende Migrations- besser Integrationspolitik dahin zielen, "Fremdes" und "Eigenes" rasch und pragmatisch zusammenzuführen. [34]
Wie aus den einzelnen Zusammenfassungen der in der Festschrift versammelten Aufsätze hervorgeht, werden – insbesondere in der Beschäftigung mit der Kritischen Theorie und den Arbeiten von Pierre BOURDIEU – einige grundlegende Aspekte von Verstehen und Kritik bearbeitet. Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass eine Auseinandersetzung um "Verstehen" und "Kritik" vor Planung und Entwicklung des Sammelbandes als durchaus sinnvoll hätte erachtet werden können. [35]
1) Siehe hierzu: Eva SCHÜPBACH, Urs GUGGENBÜHL, Cornelia KREHL, Heinz SIEGENTHALER, Ruth KAUFMANN-HAYOZ (2003), die darauf hinweisen, weshalb das didaktische Setting vor aller Technik stehen muss. Leider bleiben die AutorInnen bei der Umsetzung dann doch bei der programmierten Instruktion stehen. Vgl. auch Franz Josef RÖLL (2003) der in "Pädagogik der Navigation" sehr schön aufweist, dass ein großer Teil der neuen Medien methodisch-didaktisch auf der programmierten Instruktion beruht, und dass damit die neuen Medien eben sehr schlecht genutzt werden. Ähnlich auch Helmut MESCHENMOSER (2002) in "Lernen mit Multimedia und Internet", der sich wie RÖLL sehr kritisch mit den didaktischen Implikationen neuer Medien auseinandersetzt. <zurück>
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Daniel OSTERWALDER ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Wallis (Schweiz). Seine Arbeitsgebiete umfassen u.a. Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie, Wissensorganisation, Organisationsentwicklung und Total Quality Management.
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Daniel Osterwalder
Päd. Hochschule Wallis
Alte Simplonstrasse 33
CH-3900 Brig
E-Mail: daniel.osterwalder@phvs.ch
Osterwalder, Daniel (2004). Rezension zu: Claudia Rademacher & Peter Wiechens (Hrsg.) (2000). Verstehen und Kritik. Soziologische Suchbewegungen nach dem Ende der Gewissheiten. Festschrift für Rolf Eickelpasch [35 Absätze].Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(1), Art. 35, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0401354.
Revised 6/2008