Volume 4, No. 3, Art. 17 – September 2003
Editorial: Die aktuelle FQS-Schwerpunktausgabe "Doing Biographical Research". FQS als Beispiel für vier Jahre Open Access in den deutschen Sozialwissenschaften
Katja Mruck
Zusammenfassung: In FQS 4(3) – "Doing Biographical Research" – beschäftigen sich Wissenschaftler(innen) aus unterschiedlichen disziplinären und nationalen Blickwinkeln mit dem Interview mit einer in Deutschland lebenden türkischen Arbeitsmigrantin. Neben diesen unmittelbar dem Themenschwerpunkt zugehörigen Aufsätzen enthält FQS 4(3) acht Einzelbeiträge, neun Literaturbesprechungen und zwei Tagungsberichte von Sozialwissenschaftler(inne)n aus insgesamt acht Ländern und sieben Disziplinen. Damit wurden seit Erscheinen der ersten Schwerpunktausgabe im Januar 2000 in FQS beinahe 450 Artikel veröffentlicht.
In dem Beitrag werden die neue Schwerpunktausgabe und FQS als Beispiel einer dem Open Access verpflichteten sozialwissenschaftlichen Online-Zeitschrift kurz skizziert. FQS wird in das Ensemble deutscher Projekte eingeordnet, die Teil der internationalen Bemühungen um die weltweit freie Zugänglichkeit wissenschaftlicher Fachinformationen sind.
Keywords: Qualitative Forschung, Biografieforschung, FQS, Online-Zeitschrift, Online-Publizieren, Open Access, Sozialwissenschaften
Inhaltsverzeichnis
1. Doing Biographical Research: "A Joint Project Against the Backdrop of a Research Tradition"
2. Vier Jahre FQS: Overcoming Biases
3. "Returning science to the scientists" – FQS als international erfolgreiches Beispiel einer sozialwissenschaftlichen Open-Access-Zeitschrift
4. Einladung zum Lesen und zur Diskussion
Liebe Leserinnen und Leser,
ich freue mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass FQS 4(3) Doing Biographical Research erschienen ist. Mit "Doing Biographical Research" sind in FQS zwischen Januar 2000 und heute in insgesamt 13 Schwerpunktausgaben knapp 450 Artikel veröffentlicht worden. Ich möchte dies zum Anlass nehmen für einige Anmerkungen zu der Schwerpunktausgabe, zu unserer Arbeit an FQS und zu den Open-Access-Initiativen, denen FQS zugehört. [1]
1. Doing Biographical Research: "A Joint Project Against the Backdrop of a Research Tradition"
Ausgangspunkt für "Doing Biographical Research" war ein Interview mit Hülya, einer türkischen Arbeitsmigrantin, das 1986 im Rahmen eines von Christa HOFFMANN-RIEM geleiteten Projekts an der Universität Hamburg durchgeführt wurde. Gerhard RIEMANN, Herausgeber von FQS 4(3) und Bruder der 1990 verstorbenen Christa HOFFMANN-RIEM, hat den Schwerpunkt in seinem Einleitungsbeitrag unter die Überschrift "A Joint Project Against the Backdrop of a Research Tradition" gestellt. Gemeint ist eine Forschungstradition
"connected with Fritz SCHÜTZE, which initially led to the development of this type of interview – the narrative interview. Although today this type of interview is widely used it seems necessary to remind people of its history in order to avoid an undue and narrow focus on 'method' or 'technique'" (RIEMANN 2003). [2]
Gerhard RIEMANN hat für die dieser Tradition verpflichtete Bemühung des "understanding the 'other'" auch einen "anderen" Weg zu gehen versucht: Entgegen dem "regular format of conference sessions" initiierte er im Rahmen des 14. Weltkongresses für Soziologie, der 1998 in Montreal stattgefunden hat, einen Forschungsworkshop in der Intention, dass "what is actually occurring in biographical research should become visible and should thereby become a matter of open discussion and self-reflection" (RIEMANN 2003, Abs.4). Die Veröffentlichung des Originalinterviews mit Hülya und von Beiträgen, in denen sich Wissenschaftler(innen) unterschiedlicher disziplinärer und nationaler Herkunft um das Verstehen von Hülyas Biographie und um das Transparentmachen der je eigenen qualitativen Deutungspraxis bemühen,1) ist zugleich eine Einladung: "Importantly", so Robert Faux, ein amerikanischer Kollege, der die Arbeit an diesem Schwerpunkt begleitet hat, "the work presented in this issue continues as scholars from around the world are invited to offer their insights to Hülya's interview in future issues of FQS" (FAUX 2003, Abs.5). [3]
2. Vier Jahre FQS: Overcoming Biases
Dass die dem Schwerpunktthema zugehörigen Beiträge allesamt in englischer Sprache verfügbar sind, lässt dieses "Joint Project Against the Backdrop of a Research Tradition" zugleich ein "Joint Project Against the Backdrop of a German Research Tradition" werden: Vor einiger Zeit hat ein amerikanischer Verleger mir geschrieben, es gäbe einen "distinct bias in North America against qualitative work coming from Europe. Americans would much rather read their own authors and tend to ignore good things coming out of Germany, England, Sweden, etc. that would be another barrier to overcome." Ich habe ihm geantwortet: "They should get their chance to overcome their biases, and as I know from the subscribers of FQS some of them already did." [4]
"Doing Biographical Research" und seine Veröffentlichung in FQS dürfte ein nächster Schritt auch auf diesem Weg sein: FQS als – an der Freien Universität Berlin angesiedelte und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte – mehrsprachige Zeitschrift wäre undenkbar ohne die vielen Kolleg(inn)en überall auf der Welt, die das Projekt "Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research / Foro: Investigación Social Cualitativa" durch ihr Interesse und ihre Arbeit mit tragen und die mit dazu verholfen haben, dass einige zu Beginn noch zutreffende Diagnosen (siehe MRUCK 2000) heute bereits veraltet wirken, denn Wissen um und Austausch zwischen unterschiedlichen Disziplinen und Kulturen ist ein Teil unseres Alltags geworden. [5]
Dies wiederum brauchte ein Medium – das Internet – und dessen kreative und offensive Nutzung für die Fachdiskussion und für den nationalen und internationalen Dialog und Austausch zwischen Wissenschaftler(inne)n. Und es brauchte eine Philosophie, ein weiteres "Joint Project", das derzeit immer mehr an Kontur gewinnt: Es geht um den weltweit freien Zugang zu wissenschaftlichen Fachinformationen, um "Returning science to the scientists", so der amerikanischen Nobelpreisträger Harold VARMUS (siehe hierzu auch das Interview mit HARMUS in Die Zeit vom 18.6.2003). [6]
3. "Returning science to the scientists" – FQS als international erfolgreiches Beispiel einer sozialwissenschaftlichen Open-Access-Zeitschrift
Initiativen wie die Budapest Open Access Initiative, die Scholarly Publishing and Academic Resources Coalition oder die Public Library of Science stehen gegen überteuerte Verlagspolitiken und gegen den Vorwurf elektronischer "junk science": Begutachtete und qualitativ hochwertige elektronische Veröffentlichungen sollen kostenfrei online verfügbar sein, weil in weiten Teilen durch öffentliche Mittel finanzierte Forschung bzw. deren Ergebnisse auch der Öffentlichkeit zugänglich sein sollten, weil dieser Informationsweg schnellere und aktuellere Ergebnisse hervorbringt als traditionelles Printpublizieren und weil er letzterem in seiner Reichweite und mit seinen Möglichkeiten der Durchdringung und Vernetzung nationaler und internationaler Diskursfelder überlegen ist. [7]
Selbstredend geht es bei Open Access nicht nur um die nordamerikanischen Naturwissenschaften, auch wenn diese wesentlich zur Open-Access-Bewegung beigetragen haben2): Obwohl die Diagnose von Walther ROSENBERGER in seinem lesenswerten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 14.9.2003 sicher in Teilen zutrifft, dass nämlich "[d]eutsche Forschungseinrichtungen ... in den neuen Initiativen bisher unterrepräsentiert" seien bzw. dass Deutschland dieser Bewegung "hinterherhinke" (ROSENBERGER 2003, S.72), trifft sie in anderen Teilen eben nicht zu, sondern verweist auf eine fortdauernde Fixierung auch in der deutschen Medienwelt zum einen auf Naturwissenschaften und zum anderen auf die nordamerikanische Tagespresse: So blieben Versuche u.a. im Februar 2002, deutsche Medien für Open Access und insbesondere für die Budapest Open Access Initiative zu interessieren – die sich als Initiative des gesamten Wissenschaftsspektrums und nicht nur der Naturwissenschaften versteht –, ohne Resonanz. Erst Dank der großen Aufmerksamkeit, die der ersten kostenfrei zugänglichen Online-Zeitschrift der Public Library of Science in der amerikanischen Presse zuteil wird3) – PloS Biology wird im Oktober erstmals erscheinen –, hat auch die deutsche Presse auf die Potenziale des Open Access nach und nach zu reagieren begonnen, eine Aufmerksamkeit, die durch die von der Max-Planck-Gesellschaft geplante Tagung Open Access to the Data and Results of the Sciences and Humanities noch wachsen dürfte. [8]
Dass Open Access die deutschen Wissenschaften (und nicht nur die Naturwissenschaften) erreicht hat, zeigen u.a. die Diskussionen im deutschen Bibliotheks-wesen (siehe exemplarisch die Mailingliste inetbib) und das Projekt German Academic Publishers (GAP), das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dem Ziel der Entwicklung technischer Komponenten für den elektronischen Publikations-Workflow und der Netzwerkbildung zu Open Access gefördert wird. Einige Beispiele und Informationen zum Stand in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften wird die Ausgabe "e-journals: Fachzeitschriften im digitalen Zeitalter" von zeitenblicke – Online-Journal für die Geschichtswissenschaften enthalten, die in diesem Herbst veröffentlicht werden wird. [9]
Projekte wie die hier unvollständig und zusammenfassend skizzierten stehen dafür, dass sowohl die deutsche Förderpolitik im Bereich des wissenschaftlichen Publikationswesens als auch die von ihr geförderten (sozial-) wissenschaftlichen Projekte nicht per se der internationalen (nordamerikanischen) Entwicklung hinterherhinken, sondern diese Entwicklung mit gestaltet haben und weiter gestalten. FQS ist in diesem Zusammenhang ein fortgeschrittenes Beispiel einer aus Deutschland stammenden sozialwissenschaftlichen Open-Access-Zeitschrift, das in besonderer Weise die Perspektiven verdeutlicht, die eröffnet werden, wenn so viele Wissenschaftler(innen) aus aller Welt gemeinsam an einem Projekt arbeiten bzw. es nutzen können. [10]
4. Einladung zum Lesen und zur Diskussion
Unser Anliegen, den interdisziplinären und internationalen Wissenschaftsaustausch zusammen mit anderen voranzutreiben, schlägt sich auch in FQS 4(3) nieder, in dem neben soziologischen, psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Analysen medizinische, linguistische sowie kultur- und politikwissenschaftliche Beiträge von deutschen, polnischen, japanischen, nordamerikanischen, kanadischen, dänischen, südafrikanischen und südamerikanischen Wissenschaftler(inne)n veröffentlicht werden. "It is hoped that the contributions to this issue will reveal to readers what insights and understanding can be gained from other cultures, academic and others", so Robert FAUX (2003, Abs.5) am Ende seiner "Reflections". [11]
Dies betrifft den Schwerpunkt "Doing Biographical Research" ebenso wie die anderen Artikel in FQS 4(3): Neben Arbeitsmigration geht es um Modernisierung und Wandel, um die Kulturwissenschaften und ihre Auseinandersetzung mit aktuellen Entwicklungen der Arbeitswelt, um mediatisierte Paarkommunikation, um das Lernmedium Computer, um Problemlösefähigkeiten in der Anästhesie, um sozialwissenschaftliche Krebsforschung, um HIV/AIDS und visuelle Körperbilder, um fremdenfeindliche Gewalttäter und um hermeneutische Polizeiforschung, um die Dialektik von Ethnographie und um die Rekonstruktion narrativer Identität, um nur einige Stichworte zu den Beiträgen zu nennen, die als Einzelbeiträge oder in den Rubriken FQS Reviews und FQS Tagungen ebenfalls Teil von FQS 4(3) sind. [12]
Die Einladung von Gerhard RIEMANN am Ende seines Beitrags sei hier ausdrücklich unterstrichen:
"This issue of Forum: Qualitative Social Research is only a starting point insofar as the authors make their own reading of the text – Hülya's narrative – visible and therefore open to criticism. Readers of FQS are invited to contribute their own pieces of analysis of Hülya's narrative in the future or to comment on the papers they read in this issue by offering their own interpretations of the text." (RIEMANN 2003, Abs.36) [13]
Diese Einladung gilt für die Arbeiten zu dem Interview mit Hülya, sie gilt für alle anderen in FQS 4(3) veröffentlichten Beiträge und sie gilt für FQS als gesamtes Projekt. Wir wünschen wie immer eine anregende Lektüre und uns allen hoffentlich ertragreiche Diskussionen! [14]
Katja Mruck, Geschäftsführende Herausgeberin
1) Siehe die Beiträge von Rita FRANCESCHINI, Nevâl GÜLTEKIN, Lena INOWLOCKI und Helma LUTZ, Kaja KAZMIERSKA, Setsuo MIZUNO, sowie Bärbel TREICHEL und Birgit SCHWELLING in dieser Schwerpunktausgabe. Ein Beitrag von Fritz SCHÜTZE zu "Hülyas Migration nach Deutschland als Selbstopferung aus Liebe zu ihren Eltern und ihr späterer biographischer und Individualisierungsprozess" wird im Oktober nachveröffentlicht. <zurück>
2) Und es geht nicht nur um Fachzeitschriften: siehe hierzu die wiederkehrenden Beiträge "On the Need to Take Both Roads to Open Access" von Stevan Harnad im september98-forum. Dass auch der Aufruf zur Einrichtung kostenfrei zugänglicher Volltextserver (Preprints und Reprints) die deutschen Fachwissenschaften zu erreichen beginnt, zeigen u.a. die explizit an die Budapest Open Access Initiative anschließenden Bemühungen der Virtuellen Fachbibliothek Psychologie. Zu wichtigen deutschen Initiativen in den Geistes- und Sozialwissenschaften siehe auch z.B. clio online und gespraechsforschung.de. <zurück>
3) Siehe exemplarisch die Washington Post vom 5.8.2003 und die New York Times vom 7.8.2003 sowie für einen Überblick http://www.plos.org/news/. <zurück>
Faux, Robert (2003). Reflections: Doing Biographical Research [6 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 4(3), Art. 25. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-03/3-03faux-e.htm.
Mruck, Katja (2000). FQS – Idee, Realisierung, Perspektiven [25 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 1(1), Art. 1. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00hrsg1-d.htm.
Mruck (2003/i.Dr.). Crossing Borders: Vier Jahre "Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Research" (FQS). Erscheint in zeitenblicke – Online-Journal für die Geschichtswissenschaften. Verfügbar über: http://www.zeitenblicke.historicum.net/.
Riemann, Gerhard (2003). A Joint Project Against the Backdrop of a Research Tradition: An Introduction to "Doing Biographical Research" [36 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 4(3), Art. 18. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-03/3-03hrsg-e.htm.
Rosenberger, Walther (14.9.2003). www.erkenntnisfürumsonst.de? Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 37, S.72.
Varmus, Harold (18.6.2003). "Werdet Teil der Revolution!" Digitale Bibliotheken und elektronische Zeitschriften sollen das wissenschaftliche Publizieren ändern. Ein Gespräch mit dem Nobelpreisträger Harold Varmus. Die Zeit, 26, http://www.zeit.de/2003/26/N-Interview-Varmus.
Mruck, Katja (2003). Editorial: Die aktuelle FQS-Schwerpunktausgabe "Doing Biographical Research". FQS als Beispiel für vier Jahre Open Access in den deutschen Sozialwissenschaften [14 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(3), Art. 17, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0303176.
Revised 6/2008