Volume 4, No. 3, Art. 1 – September 2003
Entwicklungen im Feld der foucaultschen Diskursanalyse
Rainer Diaz-Bone
Sammelbesprechung:
Glyn Williams (1999). French Discourse Analysis. The Method of Post-structuralism. London: Routledge, 333 Seiten, ISBN 0-415-18940-3, £ 75
Johannes Angermüller, Katharina Bunzmann & Martin Nonhoff (Hrsg.) (2001). Diskursanalyse. Theorien, Methoden, Anwendungen. Hamburg: Argument, 258 Seiten, ISBN 3-88619-286-5, EUR 17,90
Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider & Willy Viehöfer (Hrsg.) (2001). Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden. Opladen: Leske + Budrich, 418 Seiten, ISBN 3-8100-2851-7, EUR 25,90
Patrick Charaudeau & Dominique Maingueneau (Hrsg.) (2002). Dictionaire d'analyse du discours. Paris: Édition du Seuil, 666 Seiten, ISBN 2-02-037845-0, ca. EUR 30,00
Reiner Keller (2003). Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen1) (Reihe qualitative Sozialforschung, Bd. 14). Opladen: Leske + Budrich, ca. 130 Seiten, ISBN 3-8100-3789-3, ca. EUR 9,90
Zusammenfassung: Der Beitrag bespricht verschiedene internationale Neuerscheinungen zur Diskursanalyse in der Tradition Michel FOUCAULTs. Diese wird innerhalb des weiteren Feldes der discourse analysis abgegrenzt und ihre sozialwissenschaftliche Relevanz hervorgehoben. Argumentiert wird, dass sich in der deutschen Sozialwissenschaft unter der Bezeichnung "Diskursanalyse" vorwiegend theoretische Arbeiten oder empirische Untersuchungen ohne ausgewiesene Methodologie finden. Erst seit den 1990er Jahren wird die Erarbeitung empirischer Methodologien für eine sozialwissenschaftliche Diskursforschung intensiviert. In Frankreich ist die empirische Diskursanalyse dagegen mit den Arbeiten des Diskursforschers Michel PÊCHEUX seit Ende der 1960er Jahre empirisch orientiert und wird dort intensiv epistemologisch reflektiert. In Frankreich hat er an die Theorie FOUCAULTs angeschlossen und man kann seitdem von einer an FOUCAULT anschließenden Französischen Diskursanalyse (FDA) sprechen. Die Besprechung skizziert den Stand dieser methodologischen Umsetzung der FOUCAULTschen Diskurstheorie zu einer Diskursforschung als einer neuen Methodologie der qualitativen Sozialforschung. Es erfolgt dabei jeweils eine kritische Bewertung der Linguistik für die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, thematisiert werden Rezeptionsprobleme der FDA und die Besprechung vergleicht die Situation der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse in Deutschland mit der der FDA in Frankreich. Der erste besprochene Titel ist eine britische Monographie von Glyn WILLIAMS zur französischen Entwicklung der Diskursanalyse im Kontext von Strukturalismus und Poststrukturalismus. Das Buch von Williams ist für die deutsche Rezeption der Diskursanalyse von PÊCHEUX wegweisend. Es ist insgesamt die bislang gründlichste Aufarbeitung der französischen Diskursanalyse. Es folgt ein neues Handbuch zur sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse (herausgegeben von KELLER, HIRSELAND, SCHNEIDER & VIEHÖFER), welches Beiträge zur Diskurstheorie und Diskursanalyse von den einflussreichsten sozialwissenschaftlichen Diskursforschern in Deutschland beinhaltet. Das Handbuch repräsentiert den Stand der Diskursforschung. Es werden dann einige ausgewählte Artikel aus einem interdisziplinären Band zur Diskurstheorie besprochen, die sich eher auf diskurstheoretische Konzeptionen beziehen, weniger auf die diskursanalytische Methodologie. Ein gerade in Frankreich von CHARAUDEAU und MAINGUENEAU herausgegebenes und sehr verständlich geschriebenes Wörterbuch zur Diskursanalyse wird vorgestellt. Es präsentiert den Stand (vorwiegend) der FDA und ist auch für die deutsche Diskursforschung sehr nützlich. Abschließend wird die jüngste Einführung in die Diskursforschung von KELLER besprochen, die nicht nur für Anfänger in diesem Feld eine sehr wertvolle Orientierungshilfe sein wird, sondern auch einen systematischen Überblick über das aktuelle Feld vermittelt und Wege für weitere Diskursforschung aufzeigt.
Keywords: Diskursanalyse, Strukturalismus, Poststrukturalismus, Foucault, Pêcheux, automatische Diskursanalyse, Epistemologie, Französische Diskursanalyse, discourse analysis, sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Kritik der Linguistik
Inhaltsverzeichnis
1. FOUCAULTsche Diskursanalyse
2. Glyn WILLIAMS (1999). French Discourse Analysis. The Method of Post-structuralism
2.1 Einleitung
2.2 Darstellung des Inhalts
2.3 Bewertung des Bandes
3. Johannes ANGERMÜLLER, Katharina BUNZMANN & Martin NONHOFF (Hrsg.) (2001). Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen
3.1 Einleitung
3.2 Darstellung ausgewählter Inhalte
3.3 Bewertung des Bandes
4. Reiner KELLER, Andreas HIRSELAND, Werner SCHNEIDER & Willy VIEHÖFER (Hrsg.) (2001). Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 1: Theorien und Methoden
4.1 Einleitung
4.2 Diskussion der Beiträge
4.3 Bewertung des Handbuchs
5. Patrick CHARAUDEAU & Dominique MAINGUENEAU (Hrsg.) (2002). Dictionaire d'analyse du discours
5.1 Inhalt und Organisation des dictionaire
5.2 Für wen ist das was?
6. Reiner KELLER (2003). Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen
6.1 Einleitung
6.2 Zum Inhalt der Einführung
6.3 Wie ist der Einführungsband zu bewerten?
7. Abschließende Betrachtung
1. FOUCAULTsche Diskursanalyse
Unter der Bezeichnung "Diskursanalyse" zeichnet sich seit den letzten drei Jahrzehnten ein interdisziplinäres und internationales Feld ab. Dabei haben nicht nur verschiedene Disziplinen von der Linguistik über die Psychologie bis zur Soziologie Beiträge zur Theorie des Diskurses und der Methode seiner Analyse beigetragen, es hat sich auch innerhalb einzelner Disziplinen eine Ausdifferenzierung verschiedener Diskurstheorien mit je unterschiedlichen Konzepten von "Diskurs" herausgebildet. Seine konkretesten Manifestationen findet die Herausbildung eines Feldes der Diskursanalyse anhand von Konferenzen und Workshops, von Zeitschriftengründungen (wie Discourse & Society, SAGE) und der Etablierung universitärer Lehrveranstaltungen, vorrangig aber in einer Reihe von grundlegenden Veröffentlichungen wie Lehrbüchern, Überblicksbänden oder Forschungsberichten. Einige der neueren Veröffentlichungen aus dem Feld der Diskursanalyse sollen hier im Zusammenhang vorgestellt werden, da sie geeignet sind, in denjenigen Bereich der Diskursanalyse einzuführen, der aus sozialwissenschaftlicher Sicht derzeit die größte Relevanz inne hat und die vielversprechendste Dynamik ausweist. Es handelt sich um die Formen der Diskursanalyse, die sich auf die Arbeiten des französischen Philosophen und Historikers Michel FOUCAULT (1926 bis 1984) berufen, die aber über die seit langem breit erfolgende Rezeption seiner Theorie nun die konkrete empirische Umsetzung von Diskurskonzeptionen in diskursanalytische Sozialforschung aufgenommen haben. Hiermit liegt nun eine Strömung zeitgenössischer qualitativer Sozialforschung vor, die ihren Platz beansprucht zwischen hermeneutischen, pragmatistischen (interaktionistischen) und anderen interpretativen Methodenparadigmen der qualitativen Sozialforschung. [1]
Dieser Bereich der Diskursanalyse ist einmal unter dem Titel "Französische Diskursanalyse" (kurz: FDA) international bekannt geworden. Hier haben im Anschluss an Michel FOUCAULT verschiedene Forschergruppen im Raum Paris die Diskursanalyse als empirische Methode auszuarbeiten versucht. Einleitend sei bereits hier auf Michel PÊCHEUX (1938 bis 1983) hingewiesen, der die zentrale Figur für die Arbeit an der diskursanalytischen Methode in Frankreich darstellt. Seit den 1980er Jahren haben zum anderen verschiedene Diskursanalytiker in Deutschland versucht, die Diskursanalyse in die qualitative Sozialforschung sozialer Wissensordnungen umzusetzen. Auch hier ist der überragende Einfluss FOUCAULTs zu finden und auch hier geht es um die empirische Anwendung seiner Theorie. Insofern kann von einem Feld der FOUCAULTschen Diskursanalyse gesprochen werden, das sich unterscheidet von den Formen der Diskursanalyse, die eine rein linguistische oder eine andere eher sprachwissenschaftliche Ausrichtung haben. [2]
Kann man mit einer interdisziplinären Minimaldefinition den Diskurs als "naturally occuring talk", also die in der Empirie vorfindbare geschriebene oder (in Textform transkribierbare) gesprochene Sprache bestimmen, so zeigt sich schnell, dass für die Sozialforschung das explizite Feld der discourse analysis lange Zeit randständig blieb, da hier die linguistischen und konversationsanalytischen Ansätze dominierten. Deutlich wird die überwiegend linguistische Ausrichtung, wenn man die von Teun A. VAN DIJK (dem international renommiertesten Linguisten in der Diskursanalyse) herausgegebenen und jeweils mehrbändigen Handbücher (1985, 1997a, 1997b) inspiziert. VAN DIJK sieht den Konsens der Diskursanalytiker hinsichtlich ihres gemeinsamen Gegenstandes in der geteilten Frageperspektive der Analyse akteurbezogener Umstände der Sprachverwendung: wer verwendet warum, wie und wann Sprache? Bezogen auf die heterogene Gemeinschaft der Diskursanalytiker schreibt VAN DIJK:
"They agree that discourse is a form of language use. But this is still quite vague and not always adequate, they introduce a more theoretical concept of 'discourse' which is more specific and at the same time broader in its application. They want to include some other essential components in the concept, namely who uses language, how, why, and when." (VAN DIJK 1997a, S.2; Herv. i. Orig.) [3]
VAN DIJK zufolge sind es vor allem drei diskurstheoretische Dimensionen, die die Diskursanalyse auf den Weg bringen: (1) die Betrachtung von Diskurs als tatsächlicher Sprachverwendung, (2) die Betrachtung von Diskursen als Formen der Kommunikation von Inhalten und Überzeugungen (beliefs) sowie (3) die Betrachtung von Diskursen als Interaktionen in sozialen Situationen (VAN DIJK 1997a, S.2). Es sind aber vor allem die Teilbereiche der Linguistik, auf die die Diskursanalyse hierbei bezogen wird. Der soziologische Beitrag ist hier noch weitgehend auf die mikrosoziologischen Formen der Gesprächsanalyse (Konversationsanalyse) beschränkt, die sich theoretisch auf die Ethnomethodologie berufen und die seit den 1970er Jahren versucht haben, die Gesprächsanalyse als soziologische Form der Diskursanalyse zu etablieren. Für die linguistische und die mikrosoziologische Diskursanalyse gilt zwar, dass Diskurse als durch das Soziale beeinflusst gelten, ja, dass sie in der Lage sein sollen, Soziales zu konstruieren und zu reproduzieren. Aber zum einen bleibt in der linguistischen Analyse die formale Organisation der Sprache als eigener Bereich der Analyse (gegenüber der Analyse der sprachlichen Inhalte) vorrangig, hier hat sie das Zentrum ihrer methodischen Aufmerksamkeit und hier sieht sie ihr eigentliches thematisches Terrain. Die linguistischen Dimensionen (Syntax, Rhetorik, Morphologie, Semantik, Metaphernanalyse, Pragmatik) sind der eigentliche Schauplatz der methodologischen Untersuchungen. Zum anderen bleibt auch die Konversationsanalyse beschränkt auf die situativen Regeln der Interaktionsordnung. Symptomatisch dafür ist die aufwändige Analyse des Ineinandergreifens und Wechselns von Redebeiträgen, des in der Konversationsanalyse so genannten "turn-taking", ohne dass die Befunde weiterreichend für die Soziologie als verwertbar angesehen werden können, da sie mikrosoziologisch beschränkt bleiben, also die soziale Realität von Institutionen und sozialer Differenzierung nicht abbilden und analytisch nicht erreichen können. [4]
Was den meisten Beiträgen zur discourse analysis also lange Zeit gefehlt hat, ist der Durchgriff von einer Sprachanalyse zu einer tatsächlich weitergehenden, Mikro- und Makroebenen einbeziehenden Sozialanalyse. Damit ist gemeint, dass sozialwissenschaftliche Problemstellungen, die mehrere soziale Ebenen betreffen (Interaktion, Organisation und Gesellschaft), die mit sozialer Differenzierung und Sozialstruktur zu tun haben, so theoretisch und methodologisch nicht erreicht wurden. Tatsächlich liegt in der Sozialwissenschaft eine Heterogenität von Diskurstheorien und darauf fußenden Diskursanalysen vor (KELLER 1997). Es liegen mehrheitlich eher mikrosoziologisch kompatible Formen der Diskursanalyse und einige eher makrosoziologisch kompatible Formen der Diskursanalyse vor. In dieser Besprechung wird die Auffassung vertreten, dass die sich auf FOUCAULT beziehenden und die sich der FDA zurechnenden Diskursansätze am vielversprechendsten sind für den Brückenschlag von einer Wissensanalyse hin zu einer diskurstheoretischen Sozialstrukturanalyse – zumindest erweist sich hier derzeit die größte Dynamik, nicht nur wenn man quantitative Kriterien (Zahl der Veröffentlichungen, Tagungen und Forschungsprojekte) betrachtet, sondern auch, wenn man die Vielfältigkeit der sich hier eröffnenden soziologischen Perspektiven ins Auge fasst, was gezeigt werden soll." [5]
Mit der "Archäologie des Wissens" veröffentlicht FOUCAULT 1969 (deutsch 1973) die theoretische Skizze seiner Diskurskonzeption. Dabei versteht er unter "Diskurs" bzw. unter "diskursiver Praxis" eine überindividuelle Praxis der Wissens(re)produktion, die in einem sozialen Feld empirisch anzutreffen ist und die sich in einem (wenn möglicherweise auch nur für eine gewisse Zeit) stabilen, kohärenten Aussagenkorpus niederschlägt. Das FOUCAULTsche Diskurskonzept unterscheidet sich deutlich vom Diskurs als einer Sprechtätigkeit ("Rede") von individuell betrachtbaren, "autonomen" Sprechern. Zentral für FOUCAULTs Diskursbegriff ist der Begriff der Aussage. Diskurse sind für FOUCAULT letztlich (zumindest temporär stabile) Aussagensysteme, die durch ein inhärentes Regelsystem abgrenzbar sind. Wichtig ist zu verstehen, wie FOUCAULT die Aussagen als durch eine kollektive diskursive Praxis und nicht durch Sprecher hervorgebracht auffasst. Natürlich müssen immer noch Menschen sprechen, aber den Status von Aussagen haben nicht die gesprochenen Sätze an sich, sondern gesprochene Sätze insofern sie anschlussfähig in einem sozialen Feld unter bestimmten Bedingungen gesagt werden konnten und insofern sie durch den Diskurs als einen Aussagenkontext bedingt sind. Die diskursive Praxis ist durch ein Regelsystem gekennzeichnet, so dass es einer Diskursanalyse möglich sein soll – so FOUCAULT – aus dem Aussagenkorpus die enthaltenen Denkkategorien, die Begriffsordnung, die im Diskurs errichtete Ordnung der Dinge, die akzeptablen Sprechweisen, sowie die sich damit eröffnenden Strategien als ein Wissenssystem zu rekonstruieren. FOUCAULT spricht von dieser Ordnung als von einer "diskursiven Formation". Mit der FOUCAULTschen Diskurstheorie wird die Wissensordnung von den Individuen abgelöst: anstatt sich in den "Köpfen der Subjekte" zu befinden, stellt das Wissen eine Denkordnung in einem sozialen Feld dar. Es ist nicht die Denktätigkeit von Sprechern, die die Bedeutung und die Ordnung des Wissens hervorbringt. Es ist die diskursive Praxis innerhalb eines Feldes, die für FOUCAULT die sinnhervorbringende überindividuelle Praxis darstellt. Denn die Bedeutungseffekte können die Sprecher nicht wirklich überblicken, noch weniger können sie Bedeutungseffekte kontrollieren, auch wenn sie sich der – notwendigen – Illusion hingeben, "verantwortliche Stifter" des Sinns zu sein. Hier fällt die Nähe der FOUCAULTschen Diskurstheorie zur neueren Systemtheorie von Niklas LUHMANN auf, der ebenso die Kommunikation nicht ursächlich auf Akteure zurückführt, sondern auf vorgängige Kommunikationsprozesse in einem sozialen System. All dies heißt natürlich sowohl für LUHMANN als auch für FOUCAULT, dass es soziale Prozesse nur geben kann, wenn es Sprecher gibt, aber eine soziologische Erklärung, die auf der Akteursebene ansetzt, verfehlt die Ebene, auf der der Sinn zustande kommt und wo er seine Ordnung offenbart: nämlich auf der Ebene des Diskurses bzw. des Systems. Entsprechend untersuchen Diskursanalysen in der FOUCAULTschen Tradition nicht, was ein Sprecher X in einer bestimmten Situation Y sagen wollte, was er gemeint haben könnte und was dessen Absicht war, sondern Diskursanalysen untersuchen die Wissensordnungen in einem Feld, sie untersuchen, wie die jeweilige Tiefenstruktur des Wissens beschaffen ist, die den Alltagssubjekten verborgen bleibt und dennoch ihr Denken strukturiert. Diskursanalysen untersuchen wie die diskursiven Praktiken mit nicht-diskursiven Praktiken zusammenhängen und wie Wissensordnungen mit Sozialstruktur, sozialer Differenzierung zusammenhängen. Hier wird deutlich, dass damit eine soziologische Relevanz der FOUCAULTschen Diskurstheorie vorliegt. [6]
Es gibt weiter methodologische Positionen, anhand derer man die FOUCAULTsche Diskursanalyse von anderen Ansätzen differenzieren kann. Einige linguistische Formen der Diskursanalyse sowie die objektive Hermeneutik beziehen sich auf wenige Sätze, auf nur einen Text oder wenige Textausschnitte und gehen davon aus, dass der Korpus ausreicht, um hieraus auch soziologische Analysen zu entwickeln. Im Gegensatz dazu setzt die an FOUCAULT anschließende Diskursanalyse typischerweise nicht auf die Analyse einzelner Texte, sondern erstellt theoriegeleitet und oftmals von Textarchiven ausgehend, die in Organisationen produziert wurden und dort archiviert sind (z.B. die Texte in den Archiven von Behörden, von Medienanstalten usw.) oder die in Bibliotheken zugänglich sind, umfangreichere Textkorpora für die Analyse umfassender diskursiver Formationen. [7]
Obwohl gegenwärtig vermehrt von "Diskursanalysen" im Anschluss an FOUCAULT die Rede ist, handelt es sich bei den meisten so betitelten Arbeiten nicht um Ausarbeitungen der diskursanalytischen Methodologie und Methode, sondern um theoretische Reflexionen zum Diskursansatz oder um Studien, die nicht anstreben, eine verbindlichere Methodologie auszuweisen. Die gegenwärtige Situation ist die, dass darunter die Arbeiten an einer sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse als einer Form angewandter (qualitativer) Sozialforschung in der Minderheit sind. Die Position von Michel FOUCAULT kann zunächst auch dafür kritisiert werden, dass mit der "Archäologie des Wissens" (1973) eine Diskurstheorie, aber keine detailliertere und auf neue Forschungssituationen übertragbare Methodik einer Diskursanalyse vorliegt. Derzeit gibt es nur wenige Ausarbeitungen für eine solche an FOUCAULT anschließende und an sozialwissenschaftlichen Standards orientierte Methodologie. Dass dem so ist, könnte auf die poststrukturalistische Ablehnung einer solchen Methodenausarbeitung liegen. Die Methode einer aus dieser Sicht "modernen Soziologie" wird hier verdächtigt, dem rationalistischen und sich der Dinge bemächtigenden Willen zur Wahrheit dienstbar zu sein. Die Ausarbeitung einer solchen diskursanalytischen Methodologie könnte also als ein "modernistisches" Anliegen aufgefasst werden, zu dem eine poststrukturalistische Haltung im Widerspruch stehen müsse (FRANK 1983). Praktisch unterliegt auch den materialen Analysen FOUCAULTs eine reflektierbare und einheitliche Systematik in der empirisch-analytischen Vorgehensweise, die sich rekonstruieren ließe (DIAZ-BONE 1999). Auch für die konstruktivistische und nachpositivistische Sozialforschung gilt, dass eine Methodologie als Set von Grundhaltungen, Strategien, Reflexionsformen und konkreten Techniken erarbeitet werden muss, soll die Diskursanalyse die Aufnahme in den sozialwissenschaftlichen Methodenkanon erfahren. Im Gegensatz zu einer empiristisch-naiven Sozialforschung, die einfach von einer vorgegebenen Objektivität ausginge und diese schematisch beschreiben zu können glaubte, kann eine konstruktivistische Sozialforschung nicht auf die Methodologie verzichten (etwa indem stattdessen Sozialforschung zur subjektiven Kunstlehre erklärt würde). Die Lösung für den Wegfall der "sicheren empirischen Basis" kann nur die Zunahme an methodologischer Komplexität sein, die die wissenschaftliche Reflexion der Rekonstruktion des Objekts durch die Forschungspraxis mit sich bringt und die den holistischen Zusammenhang zwischen Diskurstheorie, Forschungspraxis und (unterstelltem) Diskurs in vertretbarer Weise, d.h. mit Bezug auf unter Diskursanalytikern geteilten Standards, herstellt. Hier setzt die FDA bereits früh mit den Arbeiten von Michel PÊCHEUX an. Denn die methodologische Sorge ist die nach der Möglichkeit des "kontrollierten Lesens" von Diskursen, womit nicht gemeint ist, den "Inhalt" von Diskursen einfach wiederzugeben (im Sinne eines naiven Lesens), sondern womit gefragt wird, mit welcher methodischen Strategie es möglich sein kann, die unterliegende diskursive Praxis freizulegen und die Tiefenstruktur des Diskurses zu erkennen, ohne dabei auf eine hermeneutische Verstehensanalyse zurückzugreifen. [8]
Eine Inspektion neuerer Literaturen zur Diskursanalyse kann also nicht nur danach fragen, wie die Diskurstheorie nach FOUCAULT rezipiert und innerhalb der Sozialwissenschaften als (im Kern letztlich soziologische) Theorie weiterentwickelt wird, sondern auch danach, wie das Verhältnis von Diskurstheorie und Diskursanalyse weitergedacht werden kann, wie die methodologische Sorge des "Lesens" von Diskursen (PÊCHEUX) thematisiert wird und wie die praktisch-empirische Diskursforschung damit weitergebracht wird. [9]
2. Glyn WILLIAMS (1999). French Discourse Analyse. The Method of Post-structuralism
Bereits 1999 ist eine englischsprachige Monographie zur "Französischen Diskursanalyse" (FDA) erschienen, die in mehrfacher Hinsicht geeignet ist, den Anfang der Darstellung von Entwicklungen im Feld der FOUCAULTschen Diskursanalyse zu machen. Zuerst einmal ist diese Darstellung des walisischen Linguisten und Soziologen Glyn WILLIAMS die bisher umfassendste und grundlegendste Systematisierung der französischen Entwicklungen im Feld der Diskursanalyse, die in Frankreich eine kontinuierliche theoretische und methodische Entwicklung im Anschluss an FOUCAULT aufweisen kann. Zum anderen ist diese Monographie im deutschsprachigen Raum bislang kaum gewürdigt oder umfassend besprochen worden. Während Michel FOUCAULT in Deutschland schon früh zum intellektuellen Popstar und dessen Theorie zum Gegengift gegen einen sklerotischen Marxismus geworden ist, sind die daran anschließenden diskursanalytischen Arbeiten von Michel PÊCHEUX kaum (die von Pierre ACHARD so gut wie gar nicht) bekannt. PÊCHEUX wird außerhalb Frankreichs seit dem Erscheinen der englischen Ausgabe von "Les vérités de la palice" unter dem Titel "Language, semantics and ideology" (PÊCHEUX 1982) vorrangig als "Ideologietheoretiker", nicht als Diskurstheoretiker und Diskursanalytiker wahrgenommen. Die französischsprachige Publikation des ersten Entwurfs eines systematischen Instrumentariums für die Diskursanalyse (PÊCHEUX 1969) wurde im englischsprachigen und deutschsprachigen Raum lange Zeit kaum beachtet. (Siehe HELSLOOT & HAK 1995 für die Rekapitulation der Rezeption der "Automatischen Diskursanalyse" in der Fassung aus dem Jahr 1969, kurz ADA 69.) [10]
WILLIAMS liefert zwar auch einen nötigen und knappen Abriss des Strukturalismus und des Poststrukturalismus, die beide zur Grundlage der Diskurstheorie gehören, aber es handelt sich hierbei nicht um einen erneuten und personenzentrierten Abriss einer "Geschichte des (Post) Strukturalismus". Ein solcher Abriss ist sicherlich ein wichtiges Projekt, und er liegt mit der Übersetzung des zweibändigen Werkes von DOSSE (1996, 1997) auch vor, inklusive eines für Darstellungen des (Post) Strukturalismus so typisch fragmentarischen und zuweilen auch anekdotenhaften Charakters. Aber wie soll man ein solch heterogenes intellektuelles Feld kohärent darstellen und ihm einen roten Faden verleihen, wenn man nicht ein organisierendes Thema ins Zentrum stellt? Genau hier liegt die Stärke des Bandes von WILLIAMS. Er verfolgt die Entwicklung einer Diskursanalyse in Form einer "Aussagenlinguistik", die bei FOUCAULTs "Aussage" ansetzt, die aber von Beginn an die klassische Linguistik überschreitet und letztlich in die Soziologie integriert werden soll (S.34). [11]
WILLIAMS beginnt im ersten Kapitel seine Standortbestimmung für die Diskursanalyse mit einer Kritik der klassischen Linguistik. Diese gehe immer noch von der Sprache aus als einer Abbildung einer vorgängigen Realität, ihre Semantikkonzeption sei abhängig von einem Akteursmodell, dem die Aussageabsichten und damit die Bedeutungsstiftung zugerechnet werden. WILLIAMS verortet die Entstehung von Linguistik und Soziologie im Rahmen des Projektes der "Moderne", womit die neuzeitliche Bewegung des Rationalismus und der Aufklärung gemeint ist. Die Entstehung dieser wissenschaftlichen Disziplinen fällt für ihn zusammen mit dem Aufkommen neuzeitlicher Nationalstaaten, die an der Rationalisierung von Sprache und Gesellschaft interessiert gewesen seien. (Diese Verbindung ist insbesondere für Frankreich evident.) Die in der neuzeitlichen Gesellschaft sich durchsetzende Vorstellung von der Rationalität (zumindest: Rationalitätsfähigkeit) von Sprache, Gesellschaft und Akteuren findet hier ihre außerwissenschaftliche Unterstützung. Zum Projekt der Moderne gehört für WILLIAMS auch die Evidenz einer vorsprachlichen Realität, die durch die Sprache adäquat zu beschreiben sei, sowie die Existenz einer Sprache, die durch die Linguistik adäquat zu beschreiben sei. Für die klassische Linguistik (WILLIAMS spricht von "orthodox linguistics") wird Sprache dann nur zu einer Reflexion von Wahrheit/Realität. Für die klassische ("orthodoxe") Soziolinguistik unterstellt er dann folgende Denkweise: Die (dem Diskurs vorgängige) Gesellschaft präge das Sozialverhalten, welches dann wiederum das Sprechverhalten präge. Ausgangspunkt des Diskursverständnisses der Moderne ist damit die Praxis der Sprachbenutzung als Sphäre ohne eigene Materialität, ohne Eigenlogik und ohne eigene Wirkmächtigkeit. [12]
Im zweiten und dritten Kapitel referiert WILLIAMS die Theoreme und methodologischen Aspekte des französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus, die für die FDA einflussreich geworden sind. Mit SAUSSURE wird möglich, die Sprache als ein System zu denken, das keine Bedeutungsbegründung in einer vorsprachlichen Realität hat, sondern in dem Bedeutungseffekte allein innerhalb des Systems als Differenzen entstehen. Mit SAUSSURE wird auch das Subjekt entthront, denn die Sprachstruktur ist eine vorreflexive kognitive Struktur, über die zwar jedes Mitglied einer Sprachgemeinschaft vorreflexiv verfügt, aber kaum jemand kann bewusst und vollständig ihre Grammatik aufsagen. Es sind dann Émile BENVENISTE, Claude LÉVI-STRAUSS und Roland BARTHES, die erstmalig von einer grammatikalischen Ordnung oberhalb der Satzebene sprechen, also von einer Struktur in Texten (Erzählungen, Mythen), die von nun an "Diskurs" genannt wird. WILLIAMS zeigt, wie LACANs Diskursbegriff dann einen Schritt weitergeht: hier wird der Diskurs dann als eigene und unbewusste Realität vorgestellt, innerhalb derer erst Sinn und Subjektivität entstehen können. Mit LACAN wird deshalb die Diskursanalyse dann zu einem prominenten Verfahren der Psychoanalyse. ALTHUSSERs Ideologietheorie, die eine kritische Absetzung von marxistischen Engführungen von Ideologie als reinem Überbauphänomen durchführt, stellt dann den auslösenden Einfluss für die poststrukturalistische Diskurstheorie (also die FDA) dar. Die Sphäre der Ideologien und der ideologischen Staatsapparate wird damit zur Wissensregion, in der eine Gesellschaft reproduziert wird, in der soziale Konflikte ausgetragen werden, wo die Begriffe und Denkkategorien entstehen und innerhalb derer die Individuen als Subjekte "angerufen" werden (hier findet sich LACANs Konzept der "Interpellation" wieder). Die Ideologie wird bei ALTHUSSER bestimmt als das imaginierte Verhältnis der Individuen zu ihren materiellen Produktionsbedingungen. Dieses ist realitätsstiftend, eine eigene Realität und Ort der Herstellung von Hegemonie, dennoch ist diese in sich widersprüchlich. Der ALTHUSSER-Schüler FOUCAULT schließlich liefert dann die Theorie des Diskurses, genauer der diskursiven Praxis und der diskursiven Formation, die bis heute die – wenn auch durch seine Nachfolger erweiterte bzw. revidierte – theoretische Grundlage der FDA darstellt. Die Ansätze ALTHUSSERs und FOUCAULTs werden von WILLIAMS mit der notwendigen Ausführlichkeit eingeführt und bleiben durch den ganzen Band die zentrale Theoriereferenz. [13]
Es sind dann die beiden folgenden Kapitel 4 ("Materialismus und Diskurs") und Kap. 5 ("Der Kampf mit dem Idealismus"), in denen die Versuche der Ausarbeitung einer empirischen Methodologie und die Schulenbildung in der FDA behandelt werden. Diese beiden Kapitel sind daher von zentraler Bedeutung. Hier wird nun der ALTHUSSER-Schüler Michel PÊCHEUX von WILLIAMS ausführlich vorgestellt. Dessen an FOUCAULT anschließende Diskursanalysemethode stellt 1969 den Ausgangspunkt für die französische Diskursanalyse dar. PÊCHEUX und die verschiedenen Gruppen, mit denen er in den folgenden Jahrzehnten arbeitet, entwickelt nicht nur die Diskurstheorie weiter, er entwirft auch Methodiken und einen Algorithmus für die konkrete materiale Analyse von Korpora. Der Diskursanalytiker PÊCHEUX ist zudem ein Bindeglied, das Linguistik, Soziologie, Sozialpsychologie und den bis Anfang der 1980er Jahre in Frankreich hegemonialen Marxismus zu integrieren sucht. (Ende der 1970er Jahre wird er – wie sein Lehrer ALTHUSSER – mit der kommunistischen Partei Frankreichs [PCF] brechen.) PÊCHEUX übt in Frankreich nicht nur als wichtiger Theoretiker einen enormen Einfluss auf die FDA aus, sondern auch als Lehrer vieler französischer Diskursanalytiker, als Herausgeber wichtiger Zeitschriftenausgaben mit diskursanalytischem Schwerpunkt und als Leiter von Forschungsgruppen. [14]
WILLIAMS referiert den Ausgangspunkt für PÊCHEUX. Dieser besteht in einer Kritik der Inhaltsanalyse, die keine Theorie der Semantik aufweise und eine Kritik der Linguistik, die ebenfalls nicht in der Lage sei, Bedeutungseffekte zu erklären. Dem setzt PÊCHEUX entgegen, dass Bedeutung aus der "Materialität des Diskurses" erwachse, die nicht die formale Sprachstruktur sei, sondern (hier wirkt sich der Einfluss FOUCAULTs aus) aus der sozio-historischen Aussagenproduktion erwachse. Später wird die Kritik an der Linguistik noch radikalisiert, indem formuliert wird, dass diese allein – ohne eine diskursanalytische Ergänzung – auch nicht in der Lage sei, die syntaktische Struktur von Aussagensystemen zu rekonstruieren. PÊCHEUX geht es in seiner frühen Arbeit um eine methodische Rekonstruktion der vorreflexiven Diskursstruktur. Im Anschluss an ALTHUSSER formuliert er dieses Anliegen seiner Arbeit als den Versuch, ein kontrolliertes und nicht-subjektives "Lesen" des Diskurses zu ermöglichen. In dieser ersten Periode der Diskursanalyse entsteht die Automatische Diskursanalyse, in der ein Algorithmus zur Anwendung kommt, der Aussagenkorpora in Äquivalenzklassen zerlegt und die Beziehungen zwischen diesen Klassen als Tiefenstruktur des Diskurses abbilden soll (hier stehen die Linguisten Zelig S. HARRIS und Noam CHOMSKY Pate). Hier wird noch die FOUCAULTsche Diskurskonzeption (als Regelsystem) "geschlossener" Diskursformationen und stabiler Aussagenkorpora unterstellt. Dies ändert sich mit PÊCHEUXs Interesse an der Analyse von interdiskursiven Effekten, die nun das Hineinreichen von präkonstruierten Bedeutungselementen als bedeutungsstiftende Effekte in Diskurse untersucht. Damit rückt PÊCHEUX auch von der "Automatisierung" der Diskursanalyse ab. In der dritten Phase seiner Arbeit, die wesentlich durch die Zusammenarbeit mit Françoise GADET und Catherine FUCHS gekennzeichnet ist, rückt dann die Analyse von Aussagesequenzen im Kontext interdiskursiver Prozesse ins Zentrum. Nun widmet sich PÊCHEUX gerade den Subjektivierungseffekten im Rahmen sozialpolitischer Konflikte und der Rekonstruktion von diskursiven Bedeutungseffekten. WILLIAMS stellt diese verschiedenen Phasen sowie die frühen Kritiken an PÊCHEUXs Arbeiten dar. Weiter wird in dem Band von WILLIAMS die Rezeption der marxistischen Sprachtheorie (die durch BACHTIN und VOLOSINOV inspiriert wurde) in der FDA sowie die Arbeit anderer französischer Gruppen dargestellt, die sich ebenfalls mit Diskursen befassen, die aber eine eher linguistische (pragmatische) Ausrichtung haben (wie die Gruppe um Jean DUBOIS) und die für PÊCHEUX und seine Mitarbeiter ein Bezug gewesen sind. WILLIAMS liefert einen Abriss der Arbeiten der verschiedenen PÊCHEUX-Schüler. Deren Themen sind das Wiedererstarken der FOUCAULTschen Perspektive (nach dem Ende der Hegemonie marxistischer Sprachphilosophie) und deren Integration mit der Philosophie von Gilles DELEUZE (bei Jean-Marie MARANDIN), weiter wird die Entwicklung der Interdiskurstheorie (Jacques GUILHAUMOU) verfolgt, die Frage der Diskursanalyse von Übersetzungen untersucht (Patrick SÉRIOT) sowie der Diskursanalyse als Form einer Sprechsoziologie nachgegangen (programmatisch ist hier die Einführung von Pierre ACHARD 1993). WILLIAMS zeigt auch große Entwicklungslinien auf: In den 1980er Jahren hat sich innerhalb der FDA insgesamt eine deutliche Reorientierung zur poststrukturalistischen Theoriebasis gezeigt, nachdem der Einfluss der Theorie FOUCAULTs in den 1970er Jahren etwas zurückgedrängt worden war. Eine Ursache war das Misstrauen der marxistisch orientierten Linguisten gegenüber der durch FOUCAULT behaupteten nicht materialistischen Realität der Diskurse. (Dieses Misstrauen hat den durch FOUCAULT stark beeinflussten PÊCHEUX dazu bewegt, Artikel zur Epistemologie unter dem Pseudonym Thomas HERBERT zu veröffentlichen.) Aber der Bruch mit der PCF und das Aufkommen der neuen Diskursanalytiker-Generation haben das Wiedererstarken der FOUCAULTschen Theorie ermöglicht. WILLIAMS schließt mit einer Überlegung zur behindernden Rolle des Marxismus für die FDA in den 1960er und 1970er Jahren, da der Marxismus die diskurstheoretische Ablehnung eines Materialismus als a priori für Ideologie, Identität, Bedeutung durchaus mit Repressionen gegenüber einzelnen Diskursanalytikern geahndet hat. [15]
In den Kapiteln 6 ("Form und Diskurs") und 7 ("Lexikologie und Distributionalismus") greift WILLIAMS dann die linguistischen Beiträge innerhalb der FDA auf. Hier konturiert er sein Verständnis von FDA als "Aussagenanalyse", die PÊCHEUX und der Linguist Antoine CULIOLI entworfen haben. Mit dem Begriff der enonciation, also des Aussageaktes, wird versucht, den Produktionsprozess zu betonen, der in der SAUSSUREschen Differenzierung von langue/parole zu kurz kommt. Die enonciation führt zwar ebenfalls zur Produktion von Aussagen (enonces = paroles), aber auch die Aktivität der Herstellung von Aussagen wird durch den Begriff hervorgehoben. Wichtig ist WILLIAMS bei dieser Darstellung des Einsatzes von linguistischen Mitteln im Rahmen der Diskursanalyse (wie der Analyse der verweisenden Funktion von Worten, der anaphorischen und deiktischen Funktion, sowie den Verweisen auf die Aussageformen und Aussagebedingungen, also den Modalitäten), dass hier kein Rückschritt auf die klassische Linguistik vorliegt, die Bedeutung und Sprechhandlung auf die Intentionalität eines rational agierenden Sprechers zurückführt. WILLIAMS führt die wichtigsten Merkmale dieses Ansatzes auf (S.179):
Die fundamentalen Aussagekategorien wie Person, Aspekt, Determinierung werden als universal angenommen, in dem Sinne, dass man in allen Sprachen ein Personensystem, ein Aspektsystem und ein modales System fände.
Diese Aussagekategorien werden verstanden als Korrespondenzsysteme, die nicht-sprachliche Operationen mit linguistischen "Markern" verbinden und die (als Korrespondenzsysteme) von Sprache zu Sprache variieren können.
Die Aussagekategorien werden aufgefasst als operativ hervorgebrachte und nicht als feste Klassen. [16]
Die diskursive Analyse der Semantik war anfangs intensiv befasst mit der Analyse der Lexik (dem begrifflichen Inventar und damit den begrifflichen Ausdrucksmöglichkeiten) einer Sprache. Lexikologie wurde mit statistischer Analyse oder mit der distributionalistischen Methode von HARRIS betrieben. Das Ausgangsproblem für die Diskursanalyse – so WILLIAMS – war dabei, dass die traditionelle Beschäftigung mit dem Lexikon Lexeme als kleinste bedeutungstragende Einheiten, also unterstellt, dass Worte an sich ihre eigene Bedeutung haben. Im Gegensatz dazu wird von PÊCHEUX, CULIOLI und anderen behauptet, dass ein Wort keine wörtliche Bedeutung hat. Die diskursive Praxis bewirkt die Bedeutung, die Worte innerhalb eines Diskurses haben können. Für CULIOLI haben Lexeme nicht einfach einen fixen Sprachwert, sondern sind in einem Aussagensystem auch untereinander verbunden, sie sind in ein Relationensystem integriert, das Aussagereferenzen aufweist. Die Untersuchung der Bedeutung eines Lexems ist also gleichzusetzen mit der Untersuchung seiner Beziehungen in einer (inter-) diskursiven Formation, welche das Lexem strukturiert. WILLIAMS legt dar, dass die Beschäftigung mit Lexemen im Rahmen der Aussagenanalyse bei ACHARD weiter fortgeführt wurde. [17]
Im Kapitel 8 ("Methodologische Fragen") wird dann nach Einführung dieser linguistischen Begrifflichkeiten versucht, einen Einblick in zwei Aussagenanalysen zu geben, um so zu zeigen, was Grundelemente einer Diskursanalyse sein könnten. Grundlegend ist für WILLIAMS zunächst die begründete Eingrenzung eines (Text-) Korpusses, dann erfolgt die linguistische Analyse der Aussageformen insbesondere hinsichtlich ihrer prozessualen Hervorbringung der sinnhaften Verweisungsstruktur (auf soziale Umstände, Sprechermodalitäten usw.), sowie die Beschreibung des diskursiven Begriffssystems (inklusive der Hervorbringung von Typologien und Klassifikationen). Hier zeigt sich für WILLIAMS, dass eine mit linguistischen Mitteln ansetzende Diskursanalyse durchaus fruchtbar sein kann auch für soziologische Forschungsinteressen, dies unter zwei Bedingungen. (1) Es muss – so wie bei WILLIAMS dargelegt und gefordert – eine diskurstheoretische Umarbeitung der linguistischen Mittel erfolgt sein. (2) Es muss in der Analyse tatsächlich auch die "Brücke" geschlagen werden, die in dem interpretatorischen Schluss von linguistisch erschließbaren Aspekten des Korpus zu deren soziologischem Kontext liegt. Und hier kommen dann aus soziologischer Sicht Zweifel auf. Denn die Resultate der Aussagenlinguistik bleiben für die Soziologie eher dürftig: die Ergebnisse bestehen oftmals nur in der Herausarbeitung von einzelnen Begriffsoppositionen, für die dann sozialstrukturelle Bedeutung behauptet wird oder bestehen zum Beispiel aus dem einfachen Schluss von der diskursiven Handhabung bestimmter Pronomina auf die Hervorhebung oder Unterdrückung von Gruppenidentitäten. Möglicherweise kann diese Skepsis ausgeräumt werden, wenn die linguistische Analysestrategie ausgeweitet wird um die Analyse nicht-diskursiver Praktiken und die Analyse von Dispositiven. Es scheint aber, dass die Aussagenlinguistik, die WILLIAMS als den Kern der FDA porträtiert, die Wissensordnung (und eine eventuell enthaltene Tiefenstruktur des Wissens) im FOUCAULTschen Sinne nicht mehr umfassend rekonstruiert. Soziologische Fragen nach der Homologie von Wissensordnungen und Sozialstruktur bzw. nach dem Zusammenhang von diskursiven Praktiken und institutionellen Praktiken werden so nicht verfolgt, sind aber ein zentraler Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse. [18]
Die wenigen bislang existierenden Darstellungen der FDA sind eher knapp gefasst, wie etwa die von MAINGUENEAU (1994, 1995) oder von GUILHAUMOU et al. (1994, Kap. 7). Gerade hierin liegt der Wert der Monographie von WILLIAMS. Wenn man sehen kann, dass sich die Rezeption der französischsprachigen Arbeiten in Deutschland verlangsamt hat und oft nur über den Umweg englischsprachiger Autoren erfolgt (wenn sie überhaupt stattfindet), so ist der Wert dieser Monographie für die deutsche, sich auf FOUCAULT berufende Diskursanalyse hoch einzuschätzen. WILLIAMS beschreibt die Entwicklungslinien und Konjunkturen der FDA im Zeitraum von den 1960er bis zu den 1990er Jahren. Er liefert Informationen über wichtige Ereignisse (wie die Konferenz "Matérialités Discursives" 1979 und das Erscheinen von Zeitschriftenausgaben mit Schwerpunkten zur Diskursanalyse wie Mots Nr. 117/1995) und über die Weise, wie Einflüsse in der FDA aufgenommen und hier transformiert wurden. Und: der überragende Einfluss Michel PÊCHEUXs auf die angewandte Diskursanalyse in Frankreich wird hier erstmals ausführlich rekonstruiert und damit für die deutsche sozialwissenschaftliche Diskursanalyse erst wirklich verständlich. Die Bedeutung PÊCHEUXs für die Diskursanalyse wird nach wie vor unterbewertet, sieht man ab von den Pionierarbeiten der Bochumer Diskurswerkstatt um Jürgen LINK. Dieser hat bereits in den frühen 1980er Jahren die Interdiskurstheorie PÊCHEUXs rezipiert und ist Herausgeber der diskursanalytischen Zeitschrift Kulturrevolution (in der Beiträge von PÊCHEUX und über ihn veröffentlicht wurden). Damit geht der Band von WILLIAMS über die Artikelsammlungen aus den 1990er Jahren hinaus, die ebenfalls eine Renaissance des Interesses an den Arbeiten PÊCHEUXs dokumentieren (PÊCHEUX 1990, sowie HAK & HELSLOOT 1995). [19]
Was ist kritisch zu WILLIAMS' Darstellung der FDA anzumerken? Zunächst fallen einige editorische "Unaufmerksamkeiten" auf: PÊCHEUX wird stur mit PÉCHEUX "übersetzt", aus Friedrich NIETZSCHE wird Frederick NIETZSCHE. Dies allein mag kaum Anlass zu einer Bemerkung sein. Problematisch ist dann allerdings, wenn aus Interpellation (der Anrufung der Subjekte durch den Diskurs) der Begriff der "Interpolation" wird, und aus den Monumenten (die FOUCAULT in der "Archäologie des Wissens" 1973 einführt und die er den Dokumenten gegenüberstellt) "Moments" werden. Dann handelt es sich um Anzeichen für editorische Fahrlässigkeit und man muss Vorwissen mitbringen, um zu erkennen, was jeweils gemeint ist. Oftmals fallen Ausführungen zu theoretischen Konzepten zu knapp aus, um ohne Vorwissen des französischen Strukturalismus die Theoriebewegungen wirklich zu verstehen. Andererseits werden dann wichtige Argumente mehrfach eingeführt und WILLIAMS' Darstellung leidet darunter, dass er immer wieder Vor- und Rückgriffe auf Argumentationen und Neuerungen durchführt, so dass die Chronologie der FDA unklar wird. Aber diese Punkte können den Wert dieser Monographie für die Diskursanalyse nicht wirklich beeinträchtigen. Für eine kritische Diskussion in der Sozialwissenschaft ist dagegen die linguistische Zugangsweise von WILLIAMS' Aussagenlinguistik das eigentliche thematische Feld. Nach einer breiteren Rezeption der neueren Strömungen in der FDA – wie sie bei WILLIAMS dargestellt werden – in der deutschen sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse stünde die Untersuchung noch an, wie man ausgehend von einer so detaillierten linguistischen Analysemethode den Zugriff auf soziologisch relevante Kategorien erreichen kann. Bis heute stehen sich hier die beiden disziplinären Sichtweisen – linguistische Zugänge einerseits und soziologische Zugänge andererseits – methodologisch gegenüber. Für einen Brückenschlag liefert dann auch WILLIAMS' herausragende Arbeit zunächst nur einen Ansatz. [20]
3. Johannes ANGERMÜLLER, Katharina BUNZMANN & Martin NONHOFF (Hrsg.) (2001). Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen
Pionierarbeit für die Rezeption der französischen Diskursanalyse hat auch der Hamburger Argument-Verlag geleistet. Hier sind in der Zeitschrift Das Argument verschiedene Artikel PÊCHEUXs erschienen, der Verlag hat außerdem weitere diskurstheoretische Arbeiten publiziert (so diejenige von Ernesto LACLAU zur diskurstheoretischen Ideologietheorie und mit GEIER und WOETZEL [1983] liegt einen Sammelband zur Diskurstheorie in der Argument-Reihe vor). Nun liegt seit 2001 ein Band vor, der Beiträge der 3. Erlanger Graduiertenkonferenz "PostModerne Produktionen: text – macht – wissen" versammelt. Er ist als Sammelband zur Diskursanalyse betitelt und weist damit auch aus, dass bei der Heterogenität der interdisziplinär vorfindlichen diskurstheoretischen Ansätze mit einem sehr heterogenen thematischen Feld zu rechnen ist, das die enthaltenen Beiträge abdecken. Der Titel "Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen" legt zunächst eine Gliederung der 17 Beiträge in drei Abteilungen nahe. Tatsächlich fehlt eine solche schwerpunktartige Zuordnung der Beiträge und das Inhaltsverzeichnis lässt schnell deutlich werden, dass nicht alle Beiträge tatsächlich diskurstheoretisch oder diskursanalytisch ausgerichtet sind. Der Band hat überwiegend den Charakter einer Sammlung von kleineren, zumeist geisteswissenschaftlichen "Diskurs- und Theoriestudien", nicht dagegen denjenigen, für eine empirische Sozialforschung eine diskursanalytische Methodik an die Hand zu geben. Daran kann man ihn wohl auch nicht legitim messen. Dennoch sind einige Beiträge enthalten, die wertvoll für eine sozialwissenschaftliche Diskursanalyse sind, weil sie einen soziologischen Fokus in der Besprechung der Diskurstheorie haben und auch weil sie sich spezieller mit der FDA befassen. Der Band soll also zumindest selektiv besprochen werden. [21]
3.2 Darstellung ausgewählter Inhalte
Den Anfang macht ein einleitender Beitrag von Johannes ANGERMÜLLER ("Diskurs und Raum: Zur Theorie einer textpragmatischen Diskursanalyse"), der die FDA ins Zentrum stellt und eine knappe, aber treffende Bestimmung der FDA, ihrer Entwicklung und ihrer wichtigsten methodologischen Positionen liefert, die er in der Kritik des starken Subjektmodells, der Berücksichtigung der Heterogenität von Sprache, der Betrachtung von Diskursen als umfassenden Wissensordnungen, dem prinzipiell analytischen Charakter von Diskursanalysen sowie dem reflexiven Bewusstsein von Diskursanalysen als Diskurse über Diskurse sieht. ANGERMÜLLER leistet eine Überblicksdarstellung, in der die FDA unterschieden wird von amerikanisch-pragmatistischen Diskurstheorien. Er schildert dann auch, wie die FDA für ein breiteres deutsches Publikum erst den Rezeptionsumweg über die poststrukturalistische amerikanische Literaturwissenschaft genommen hat. Sein einleitender Beitrag ist auch deshalb und für ein nicht nur sozialwissenschaftliches Publikum interessant, weil es die gebrochene Rezeption der französischen Theorien und die (amerikanisch-deutsche) "Erfindung" eines "Poststrukturalismus" schildert, den es so in Frankreich gar nicht gibt. Er bezieht dann auch ein, welche Rolle die FOUCAULTsche Diskurstheorie für den internationalen "Theory"-Betrieb hat. ANGERMÜLLER macht dann den interessanten Vorschlag, die FOUCAULTsche Diskurstheorie textpragmatisch zu erweitern. Er – hier zeigt sich seine Kenntnis der FDA – stellt einen linguistisch fundierten (und über FOUCAULT hinausgehenden) Aussagenansatz ins Zentrum seiner Überlegung, um von hier aus dessen Relevanz für die nachpositivistische Soziologie (er spricht genauer von "postrepräsentationalistisch") zu entwickeln. Innovativ ist dabei der Ausgangspunkt: er beginnt mit einer Kritik der BOURDIEUschen Erklärung der symbolischen Produktion in sozialen Feldern. ANGERMÜLLER kritisiert, dass die BOURDIEUsche Theorie vorschnell die diskursive Tätigkeit von Akteuren anhand eines strukturalistischen Codes deute und damit die Aussagen nicht hinsichtlich des in ihnen indizierten Text-Kontext-Verhältnisses hin analysiere: "Die pragmatische Kritik, die strukturale Linguistik abstrahiere vom aktuellen Gebrauch der Sprache und orientiere sich an einem Codemodell bzw. an einer statischen Grammatikalität, trifft somit auch die BOURDIEUsche Feldtheorie." (S.66) [22]
ANGERMÜLLER folgert, dass BOURDIEU ein objektivierendes Sozialmodell in die Sprachanalyse einbringe und die Aussagenpraxis (Enunziation) nicht als das konstituierende Praxisprinzip erfasse. Sein Beitrag mündet in dem Vorschlag, die BOURDIEUsche Konstruktion sozialer Räume um den im Diskurs eröffneten "indexikalischen Raum der Enunziation" (S.75) zu erweitern. Erst so sei soziale Ungleichheit – nämlich als für Subjekte wahrnehmbare Repräsentation wirklich und nur so könne sich soziale Ungleichheit auch reproduzieren. [23]
Thomas HÖHNE versucht in seinem Beitrag ("'Alles konstruiert, oder was?' Über den Zusammenhang von Konstruktivismus und empirischer Forschung") den Status des Konstruktionsbegriffs zu untersuchen. Sein Beitrag versucht dabei, den Konstruktivismus in verschieden Dimensionen zu besprechen. Dabei stellt er neben die (1) gesellschaftspolitische Dimension, die (2) historisch-zeitliche Dimension und die (3) erkenntnistheoretische Dimension des Konstruktivismus als vierte Dimension die diskursive Dimension. Da für die ersten drei Dimensionen des Konstruktivismus als wissenschaftstheoretischer Position weitgehende Einigkeit besteht, liegt mit der Aufnahme der diskurstheoretischen Dimension ein bedeutsamer Erweiterungsvorschlag in der Sinndimension des Konstruktivismus vor. Hier weist HÖHNE daraufhin, dass aus diskurstheoretischer Sicht deutlich wird, wie in Diskursen beschreibende Elemente und normative Wissenselemente untrennbar zusammenfließen und dass der Hinweis auf die Existenz der diskursiven Praxis erklärbar macht, wie wissenschaftliche (aber auch insgesamt soziale) Mehrdeutigkeiten "monosemiert" werden, also erst in der diskursiven Praxis ihre Mehrdeutigkeit verlieren und dann "evident" werden. Diskursordnungen stellen für ihn nicht nur das Hintergrundwissen zur Verfügung (das, was als paradigmatischer Effekt bei KUHN dann behandelt wird), sondern sie setzen die Subjekte als Wissenssubjekte auch ein. [24]
Einen bislang in der FOUCAULT-Rezeption kaum beachteten Einfluss auf die Diskursanalyse stellt der Strukturalismus des Mythenforschers George DUMÉZIL dar, den Daniel WRANA aufgreift. DUMÉZIL war wie CANGUILHEM und ALTHUSSER Lehrer FOUCAULTs. Seine Sicht war, dass religiöse Ideologien durch ein Netzwerk aufeinander verweisender Begriffe organisiert sind und dass das religiöse Wissen thematisch hinsichtlich dreier sozialer Funktionen, die in einer Gesellschaft durch verschiedene Standesgruppen ausgeübt werden, differenzierbar ist (hier findet sich die Protoversion der FOUCAULTschen diskursiven Formation). Für DUMÉZIL war die Ideologieanalyse durchaus bei den Begriffen aufzunehmen, um dann das semantische Netzwerk nach und nach über die Hinzunahme weiterer Begriffe zu erschließen:
"Die strukturale Methode Dumézils besteht darin, geordnete Ensembles zu beschreiben. Er betrachtet nicht isolierte Elemente, sondern deren Beziehungsnetze. Ein Mythos wird nicht in einzelne Teile zerlegt, um sie mit anderen Traditionen zu vergleichen, vielmehr wird jedes Element zunächst in seiner Strukturposition zu anderen Elementen rekonstruiert. Erst diese Muster von Elementen und Beziehungen gehen in eine komparative Analyse ein." (S.87) [25]
Der Beitrag von WRANA ("Subjektkonstruktionen, Machtverhältnisse, Ästhetiken: Eine Diskursanalyse von Platons Politeia im Anschluss an Georges Dumézil") präsentiert Ergebnisse einer auf dem DUMÉZILschen Ansatz fußenden Analyse, die er mit den Resultaten der FOUCAULTschen Analyse der antiken Sexualität vergleicht. Der Beitrag von WRANA ist aus diskurstheoretischer Sicht interessant, weil er das Verhältnis von Wissensordnungen und Sozialstruktur aus DUMÉZILscher Perspektve behandelt, was dann im Spätwerk FOUCAULTs wieder zu finden ist und sich für sozialwissenschaftliche Diskursanalysen als Analysestrategie wiederholt: nämlich als Frage, wie Diskurse mit Institutionen und institutionellen Praktiken, sowie der sozialen Differenzierung (Sozialstruktur) insgesamt zusammenhängen. [26]
Anstatt von der in der Literaturwissenschaft "evidenten" Einheit des Autors auszugehen, um dann diskursanalytisch zu sehen, wie dessen Diskurs organisiert ist oder anstatt literarische Diskurse als interdiskursive "Kreuzungsflächen" zu betrachten, durch die die umgebenden Diskurse "hindurchziehen", geht Brigitte KAUTE in ihrem Beitrag ("Die Ordnung der Fiktion. Annäherung an eine Diskursanalyse der Literatur") der Frage nach, wie das Diskurssystem der Literatur als solches diskursiv ermöglicht und organisiert ist, wie also die diskursive Praxis in diesem Bereich für verschiedene Epochen je unterschiedlich das reglementiert hat, was wirkmächtig "literarisch" genannt wurde. Diskurstheoretisch interessant ist, dass KAUTE nach den diskursiven Tiefenstrukturen des literarischen Systems fragt und dafür das Konzept der Episteme aus FOUCAULTs (1966) Untersuchung dreier Wissenschaften (derjenigen vom Leben, Sprechen und Tauschen) aus drei Wissensepochen (Renaissance, Klassik und Moderne) aufgreift und nun auf das Literatursystem bezieht. Für die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse gilt, dass die Analyse der Grund- und Tiefenstruktur von Wissensordnungen bislang kaum aufgenommen worden ist, weshalb KAUTEs Beitrag in diesem Zusammenhang Anregungen geben kann. Hier zeigt sie dann, wie der Status der "Fiktion" (des fiktionalen Sprechens) in drei Epochen unterschiedlich durch die von FOUCAULT aufgezeigten Epistemai diskursiv ermöglicht worden ist. [27]
Der Band von ANGERMÜLLER et al. repräsentiert die – nicht nur FOUCAULTsche – Diskurstheorie in einem breiteren interdisziplinären Zusammenhang. Wie bereits angedeutet, ist zu dem Band anzumerken, dass auch solche Beiträge enthalten sind, die kaum den Bezug zur Diskursanalyse als Methode (auch nicht im weiteren Sinne des Wortes) erkennen lassen, die sich aber auch nicht ohne weiteres selbst als eine praktizierte Form der Diskursanalyse ausweisen (etwa der enthaltene Beitrag zum Thema "Adorno in der Postmoderne"). Es sei denn man verstünde jede Art der kritischen Inspektion von postmodernen Theorien als Diskursanalyse oder als für diese relevant. Insgesamt ist der Band also kein Handbuch mit Anleitungen für die Diskursanalyse, aber er enthält einige wertvolle Beiträge, die diskursanalytisch Interessierte auf den Weg bringen können, darunter auch einige informierte Beiträge zur FDA sowie zu ihrem theoretischen Kontext. Vorgestellt wurden hier solche Beiträge, die Ergebnisse von Diskursanalysen beinhalten, deren Weise und Reflexion methodischer Herstellung sich bei den Autoren aber nachzugehen lohnt. [28]
4. Reiner KELLER, Andreas HIRSELAND, Werner SCHNEIDER & Willy VIEHÖFER (Hrsg.) (2001). Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 1: Theorien und Methoden
Ein erstes Handbuch zur Diskursanalyse, das Beiträge so gut wie aller namhaften (deutschen) sozialwissenschaftlichen Diskursanalytiker versammelt, liegt seit 2001 nun vor. Die vier Herausgeber sind allesamt Mitglieder des "Arbeitskreises Diskursanalyse" (München/Augsburg; www.diskursforschung.de). Dieser Arbeitskreis gehört zu den aktiven Gruppen empirisch und theoretisch arbeitender Diskursforscherinnen und Diskursforscher. Zu dessen Aktivitäten gehört auch die Organisation zweier Workshops zur Diskursanalyse ("Perspektiven der Diskursanalyse"), die an der Universität Augsburg stattgefunden haben. Im Rahmen dieser Workshops sind erste Versionen einiger der im Handbuch enthaltenen Beiträge schon präsentiert und diskutiert worden. Die Mitglieder des Arbeitskreises Diskursanalyse haben selbst die Diskursanalyse in empirischen Untersuchungen angewendet und stellen im Handbuch nun ihre theoretischen Ansätze vor. Es sind dann Beiträge enthalten von anderen diskursanalytischen arbeitenden Gruppen. Siegfried JÄGER repräsentiert mit seinem Beitrag den Ansatz des "Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS)" (www.uni-duisburg.de/DISS/). Hannelore BUBLITZ repräsentiert mit ihrem Beitrag den Ansatz der Paderborner Forscherinnengruppe, die in einem DFG-Projekt ("Archäologie und Genealogie der Geschlechterdifferenz in der Kulturkrisensemantik um 1900") seit einigen Jahren Diskurstheorie und Diskursmethode im Anschluss an FOUCAULT erarbeitet (BUBLITZ, BÜHRMANN, HANKE & SEIER 1999; BUBLITZ 2003). Die soziologisch ausgerichteten Beiträge dominieren, aber es sind auch Beiträge aus Nachbardisziplinen der Soziologie enthalten, so zur Diskursanalyse in der Geschichtswissenschaft, der Diskursanalyse in der Linguistik, in der Politikwissenschaft oder in der feministischen Theorie. Ergänzt wird der vorwiegend deutsche Autorenstamm des Handbuchs durch Beiträge von international bekannten Diskursforschern wie Norman FAIRCLOUGH (Soziologie), Jonathan POTTER (Sozialpsychologie) oder Paolo R. DONATI (Politikwissenschaft). [29]
Die Mehrheit der Autoren sieht sich dem FOUCAULTschen Ansatz verpflichtet. Im Unterschied zu den bisher besprochenen Büchern bzw. Buchbeiträgen, die sich spezifischer auf die FDA beziehen, fehlt hier bei so gut wie allen Beiträgen eine linguistische Komponente im Diskursverständnis und spielen linguistische Analysestrategien keine bedeutsame Rolle in den Methodenentwürfen von Diskursanalysen – so sie vorhanden sind. Dies ist typisch für die deutsche sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, deren Autoren sich unmittelbarer auf die Theorie FOUCAULTs beziehen und die mehrheitlich die Entwicklungen der FDA nach FOUCAULT nicht als Anschlusspunkt nehmen. Dieser Band von KELLER et al. steckt damit das deutsche gegenwärtige Feld der FOUCAULTschen Diskursanalyse präzise ab, die dann (deshalb "sozialwissenschaftliche Diskursanalyse") nicht nur in der Soziologie anzutreffen ist, sondern auch in den angrenzenden Sozialwissenschaften wie der Geschichtswissenschaft und der Politikwissenschaft. [30]
Eröffnet wird der Band durch einen programmatischen Beitrag der Herausgeber ("Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse – Eine Einführung"). Hier fragen sie nach den Gründen für das zunehmende Interesse am Diskursbegriff und danach, warum im Prinzip jede Gesellschaftsanalyse die Analyse von Diskursen geradezu zu erfordern scheint. Programmatisch wird zunächst die Diskursbegrifflichkeit geklärt. Einmal hinsichtlich der Differenz von Diskurstheorie und Diskursanalyse.
"Während 'Diskurstheorie' eher wissenschaftliche Unternehmungen bezeichnet, denen es um die systematische Ausarbeitung des Stellenwertes von Diskursen im Prozess der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion geht [...] zielt das Projekt der Diskursanalyse auf forschungspraktische methodische Umsetzung, auf die empirische Untersuchung von Diskursen." (S.15; Herv.i.Orig.) [31]
Deshalb weist das Handbuch im Titel den Begriff der Diskursanalyse auf. Tatsächlich geht es hier eher um die Kopplung Diskurstheorie/Diskursanalyse, um die Perspektive, wie die Diskurstheorie als Theorie der Gesellschaft empirische Forschung anleiten kann. Geklärt wird dann aber auch der Diskursbegriff selbst. Hier werden vier wissenschaftliche Strömungen unterschieden, die sich alle auf den Begriff "Diskurs" beziehen. Obwohl die Autoren sehen, dass zwischen den verschiedenen Diskursströmungen zunehmend "Vermittlungsversuche" unternommen werden, heben sie die FOUCAULTsche Diskurskonzeption gegenüber diesen drei anderen hervor: von der linguistisch geprägten discourse analysis im anglo-amerikanischen Wissenschaftsraum, dann von der sozialphilosophisch orientierten und an einer Diskursethik interessierten HABERMASschen Soziologie, zuletzt von einer Verwendung des Diskursbegriffs in interpretativen, kulturalistischen Ansätzen (wie bei Clifford GEERTZ). Im Unterschied zu diesen weist die Diskurstheorie/Diskursanalyse FOUCAULTscher Prägung für die zeitgenössische Sozialwissenschaft die größte Relevanz auf, konkret: sie trägt der kommunikativen Wende in den Sozialwissenschaften, dem zunehmenden Bewusstsein von der Kopplung machtausübender Diskursordnungen und sozialstruktureller Differenzierung sowie der Reflexivierung sozialwissenschaftlicher Theorien, die in eine nachpositivistische Phase eingetreten sind, am besten Rechnung. Die Einleitung enthält eine kurze Inhaltsskizze der folgenden 14 Einzelbeiträge und einen Ausblick auf den noch erscheinenden Band 2 des Handbuchs, der sich den praktischen, exemplarischen Anwendungen der Diskursanalyse widmen soll. Entsprechend überwiegt im Band 1 die Bearbeitung der theoretischen Einbindung der Diskursanalyse in die Soziologie und deren Nachbardisziplinen. [32]
Reiner KELLER und Hubert KNOBLAUCH versuchen, die Diskursanalyse an die Wissenssoziologie anzukoppeln. Beide gehen von der konstruktivistischen Sicht der Wissenssoziologie (insbesondere in der Ausarbeitung von BERGER und LUCKMANN 1969) auf die Konstitution des Sozialen aus und erarbeiten zunächst für ihre Beiträge diese Tradition. KELLER setzt dann kritisch an, indem er hier aufdeckt, dass die Wissenssoziologie die Alltagskommunikation untersucht, dabei aber die institutionelle Kommunikation vernachlässigt (S.120f). Dort, wo neuerdings weitere Wissensebenen durch die wissenssoziologische Tradition zum Analysegegenstand gemacht werden, bleibt die Analyse der Inhalte für KELLER oberflächlich oder fände gar nicht statt. Gerade hier kann für KELLER eine wissenssoziologische Diskursanalyse ihr Potential in die Soziologie sowohl theoretisch als auch methodisch einbringen. Er synthetisiert den Rahmenansatz der politikwissenschaftlichen Diskursanalyse (bzw. der Diskursanalyse im Bereich der Soziologie sozialer Bewegungen) mit der FOUCAULTschen Theorie. Dabei deutet er "frames" nicht als Rahmen, sondern als Deutungsmuster. KELLER versucht, die mikrosoziologische Begrenztheit dieser Ansätze zu überwinden. Konversationsanalyse und möglicherweise auch die Deutungsmusteranalyse bleiben nämlich einmal mikrosoziologisch und sehen zum anderen in wenigen Texten – wenn nicht sogar in einzelnen Texten – ihren zu rekonstruierenden Sachverhalt materialisiert. KNOBLAUCH versucht ebenso, das FOUCAULTsche Diskurskonzept in die Wissenssoziologie phänomenologischer Prägung einzubeziehen. Er entstrukturalisiert den diskurstheoretischen Ansatz und deutet das Diskurskonzept in sozialphänomenologischer Weise als Konstrukt zweiter Ordnung, als Form der Kommunikation. KNOBLAUCH lehnt es letztlich ab, Diskurse als überindividuelle Entitäten anzuerkennen (S.213) und schlägt stattdessen vor, die in der wissenssoziologischen Tradition vorfindbare Themen- und Topikanalyse als einen für die wissenssoziologische Diskursanalyse bedeutsamen Einsatzbereich zu formulieren, denn er betrachtet Themen und Topiken als "Kerne" in Diskursen. Für KELLER als auch für KNOBLAUCH gilt, dass sie an einer Integration der Diskurstheorie/Diskursanalyse in die soziologische Tradition praktisch arbeiten, anstatt einfach nur diese Ansätze nebeneinander zu stellen und vergleichend zu diskutieren. Eine solche Integrationsarbeit an der Schnittstelle zweier gegensätzlicher Theorietraditionen ist nicht unproblematisch. Denn die Integration einer im poststrukturalistischen (also im antisubjektivistischen und nicht hermeneutischen) Kontext entstandenen Diskursanalyse mit einer im subjektphilosophischen Kontext entstandenen Wissenssoziologie muss mittelfristig auf die gegensätzlichen Grundhaltungen hinsichtlich "Sinnkonstitution", "Handlung", "Verstehen" und damit auch auf die gegensätzlichen Grundpositionen hinsichtlich Methode und Analyse stoßen. Hier geht KELLER einen Schritt weiter als KNOBLAUCH. Während letzterer eine Einordnung der diskursanalytischen Methode in eine wissenssoziologische Perspektive durch die Entstrukturalisierung des Diskurskonzepts unternimmt, versucht KELLER auch auf der Ebene der Grundbegriffe eine Vermittlung von mikrosoziologischer Perspektive (der Wissenssoziologie) und einer makrosoziologisch interpretierten Diskursperspektive (z.B. anhand der Frage der theoretischen Identifizierung des agierenden Prinzips: wer handelt eigentlich, "Akteure" oder "Diskurse", S.133f). Interessant ist dabei, dass KELLER den ungeklärten Status der Methode offen legt:
"Der Begriff der wissenssoziologischen Diskursanalyse formuliert zuallererst einen Gegenstand, aber keine eigenständige Methode. Eher ließe sich von einer organisierenden Perspektive sprechen [...]. Das konkrete Vorgehen bei sozialwissenschaftlichen Diskursanalysen läßt sich aus diesem Grunde nicht vorab, ein für allemal festlegen oder auf eine spezifische Methode einengen." (S.135f) [33]
Dennoch differenziert KELLER einige allgemeine Schritte ("Stufen") für wissenssoziologische Diskursanalysen, wobei nach Diskurseingrenzung, Eingrenzung der Fragestellung und Wahl von Erhebungsverfahren die eigentliche Problematik der rekonstruktiven Analyse der diskursiven Praxis offen bleibt. Er benennt dieses Problem als das Geltungsproblem, wobei er die eigentliche diskurstheoretische Abgrenzung zur Hermeneutik (vgl. DREYFUSS & RABINOW 1987) nicht übernimmt und die diskursanalytische Textinterpretation als einen hermeneutischen Schluss auf die übergreifenden Diskursordnungen versteht. [34]
Matthias JUNG und Siegfried JÄGER gehen über eine theoretische Einarbeitung bzw. Verortung der Diskursanalyse FOUCAULTs hinaus und legen eine Methodik für die empirische Analyse von Diskursen vor. JUNG versucht, die FOUCAULTsche Diskurskonzeption in linguistischen Analysen großer Textkorpora umzusetzen. Er differenziert Diskurse dabei nach Kommunikationsbereichen (das sind "Diskursebenen" wie z.B. Wissenschaft oder informelle Gruppen etc.), Textsorten (z.B. Vorträge, Artikel, small talk etc.), und Teildiskursen, um so "großflächige" Diskursformationen analytisch zu greifen. Dem Beitrag von JUNG unterliegt eine nur schwer zu überbrückende Spannung zwischen einer linguistischen Verknappung des Diskursbegriffs auf einen Textkorpus (er versteht in linguistischer Tradition stehend unter "Diskurs" eine Menge von Texten) und einer soziologischen Sicht auf Diskurse als eigener Realitäten und Praxisformen in einem sozialen Feld. JUNGs Beitrag ist ein aufschlussreiches Beispiel für die methodische Unterschreitung des theoretischen Potentials der FOUCAULTschen Diskurskonzeption und für die Nichtausschöpfung möglicher Potentiale linguistischer Methoden für Zwecke der Diskursanalyse. Denn methodisch analysiert er diese Textkorpora anhand einer Kombination von einfachen Inhaltsanalysen (und einfachen Suchstrategien) und einer Interpretation von so gefundenen Textelementen im Aussagen- und weiteren Diskurskontext. Hiermit verfehlt er aber gerade die Ebene der diskursiven Praxis, auf der die Semantik prozessierend hervorgebracht wird. Denn JUNG muss auf diese Weise a priori (zum Beispiel anhand von Wortlisten) identifizieren, was wie bedeutungstragend und relevant ist. JUNG spricht zwar von Aussagenkorpora als Forschungsgegenstand, aber der Aussagenstatus ist bei ihm ein nur technischer, kein solcher von Aussagen in einem systemischen Aussagenzusammenhang im FOUCAULTschen Sinne. Hier sei auf die Befunde PÊCHEUXs (1969, 1988) hingewiesen, in denen PÊCHEUX die Verfehlung der Ebene der diskursiven Praxis durch die klassischen linguistischen Analyseformen darlegt (siehe auch die Beiträge in dem Sammelband von HAK und HELSLOOT 1995). Der für die Linguistik verheerende Befund war ja, dass diese die Bedeutung der Sprache nicht greifen kann. Dass PÊCHEUX die Bedeutung der wissenschaftstheoretischen Position Gaston BACHELARDs so betont hat, hat hierhin seinen Grund: BACHELARD hat schon in den frühen 1930er Jahren (vor POPPERs Entwurf einer zwar deduktiven, aber nicht holistischen Theorieauffassung) gefordert, dass sich der theoretische Ansatz im Design der Instrumente wiederholen muss. Eine Technik wird erst dann zu einem wissenschaftlichen Instrument, wenn es die theoriegeleitete (d.h. die durch die Theorie reflektierte und durch sie kontrollierte) Konstruktion des Untersuchungsgegenstandes ermöglicht (BACHELARD 1978, 1988; DIAZ-BONE 2002). Das bedeutet auch, dass die Theorie in der BACHELARDschen Wissenschaftsphilosophie eine ausgezeichnete und den empirischen Forschungsschritten vorangehende Stellung erhält ("der epistemologische Vektor weist von der Theorie zur Empirie"). Der Linguist JUNG lehnt diese Theoretizität seiner Arbeit ab, weil ihm wissenschaftstheoretische Entwürfe suspekt erscheinen. Stattdessen legt er eine empiristische Einstellung vor (Stichwort "forschungspraktische Überlegungen"). Die Folge ist dann eine Verschiebung wichtiger Reflexionsschritte und Entscheidungen in eine implizite Praxis. Fragen wie: "wie die erste Diskursabgrenzung durchführen?", "was sind warum Teildiskurse?", "welche Kommunikationsbereiche sind relevant?" und vor allem: "was sind relevante Textelemente, nach denen gesucht werden muss?" und: "wie interpretiert man diese in einem wie weit gefassten Kontext?" bleiben dann einer intuitiven Vorgehensweise überlassen. Diese Intuition wird zum epistemologischen Hindernis, d.h. sie wird zur Ursache für die Reifizierung des Alltagsdenkens (konkret: Alltagsinterpretationen werden so unkontrolliert zu vermeintlich wissenschaftlichen Deutungen gemacht) und sie verhindert damit den epistemologischen Bruch mit dem Alltagsdenken. Auch wenn JUNG eine quantitative Analyse, die dann die statistischen Verteilungen der gefundenen Aussagen/Textstellen erstellt, nicht als notwendig erachtet, atomisiert er einen möglicherweise vorliegenden Diskurs (als Aussagensystem) in für sich je selbstständige Aussageeinheiten, wie es auch für quantitative Inhaltsanalysen typisch ist. Eine systemische Diskursebene kann so nicht erfasst werden, denn Diskurse können nicht einfach durch Aggregierung von Aussagen rekonstruiert werden. Interessant ist JUNGs Beitrag deshalb, weil er (wieder) die Frage nach dem Potential linguistischer Methoden und linguistischer Perspektiven für die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse aufwirft. Deutlich wird anhand seines Beitrages, dass wenn die Diskursabgrenzung und Diskursrekonstruktion (also die Interpretation seiner Elemente und seiner Einheit auch im Zusammenhang mit nicht-diskursiven Praxisformen) vorrangig anhand formaler Analyseschritte anstelle über die qualitativ-inhaltliche Analyse erfolgt, dass dann die Einheit diskursiver Praxis aufgrund forschungspragmatischer Entscheidungen übersehen werden muss. Diskurs ist bei JUNG eben keine soziale Entität, sondern nur ein Korpus. Dennoch kann man mit JUNG einsehen, dass die Entwicklung von Diskursanalysen, wollen sie umfangreiche Korpora ("Aussagennetze") über Zeit hin analysieren, andenken muss, formale und quantifizierende Strategien zu integrieren. Die Frage an JUNG wäre, ob eine Einbettung quantifizierender Schritte in eine interpretative diskursive Analytik so möglich ist, dass die Bewegungen der diskursiv errichteten Semantiken sich mit formalen Mitteln abzeichnen lassen. JÄGER hat als erster im deutschsprachigen Raum ein Methodenbuch (JÄGER 1999 in erster Auflage 1993) zur qualitativen Diskursanalyse vorgelegt. Er versucht über die dort entwickelte Analyse von "diskursiven Strängen" hinausgehend die Analyse von Dispositiven zu entwerfen und dafür wieder eine konkrete Methode zu skizzieren. Der Beitrag von JÄGER ist für Zwecke der praktischen und soziologischen Diskursanalyse einer der wertvollsten des ersten Bandes dieses Handbuches. Er verzahnt theoretische Überlegungen mit methodologischen und leitet daraus eine detaillierte praktische Schrittfolge ab. Wie kaum ein anderer hat in Deutschland JÄGER (und seine Duisburger Mitarbeiter) so kontinuierlich die FOUCAULTsche Diskurstheorie aufgegriffen, methodisch in kritischen Diskursanalysen umgesetzt und die diskursanalytische interessierte Öffentlichkeit – auch in jeweils erste Entwürfe – Einblick nehmen lassen. Wie JUNG, ist JÄGER ursprünglich Linguist, hat kritisch das Fehlen eines Sozialmodells in der Soziolinguistik untersucht und sich dann (beeinflusst durch Jürgen LINK) der FOUCAULTschen Diskursanalyse zugewendet. Im Unterschied zu JUNG integriert JÄGER linguistische Analyseschritte, kann sie aber einer soziologischen Sichtweise unterordnen und trifft so die für die sozialwissenschaftliche Analyse bedeutsame diskursive Ebene, auf der sie erst eine Einheit als Aussagensystem hat und von der aus erst Aussagen als Elemente erkennbar werden können. [35]
Michael SCHWAB-TRAPP und Hannelore BUBLITZ versuchen in ihren Beiträgen, die Diskurstheorie FOUCAULTs aufzugreifen, um sie einmal als soziologische Theorie weiter auszuarbeiten und um dann auch jeweils zugehörige methodologische Strategien vorzustellen. Anders als KELLER und KNOBLAUCH führen sie die Integration der Diskurstheorie nicht über die Vermittlung zur soziologischen Tradition durch, sondern gehen von der Diskurstheorie FOUCAULTs selbst aus. SCHWAB-TRAPPs Beitrag "Diskurs als soziologisches Konzept. Bausteine für eine soziologisch orientierte Diskursanalyse" führt die Diskurskonzeption FOUCAULTs ein für eine Analyse öffentlich repräsentierter politischer Konflikte. Dabei erweitert bzw. reformuliert er die FOUCAULTsche Diskurs-Begrifflichkeit, um die soziologische Diskursanalyse massenmedial repräsentierter politischer Konflikte aufnehmen zu können. Er setzt mit der Kritik an, dass sich Diskursanalysen auf die sprachlichen Erscheinungsformen konzentrierten und die Macht-Wissens-Relationen eher metaphorisch behauptet, als empirisch ausgewiesen würden. Mit Hinweis auf CHALABY (1996) identifiziert SCHWAB-TRAPP die linguistischen Wurzeln der Diskursanalyse als einen Grund für die Textlastigkeit vieler Diskursanalysen und als ein mögliches Hindernis für die Umsetzung einer empirischen und soziologischen Diskursanalyse als Konfliktanalyse. CHALABYs Vorschlag, deshalb externe (nicht-diskursive) Faktoren für die Diskursabgrenzung und Diskursidentifikation heranzuziehen wird aber von SCHWAB-TRAPP als nicht unbedenklich beurteilt.
"Obwohl Chalaby am Beispiel des journalistischen Diskurses die Produktionsbedingungen dieses Diskurses herausarbeitet und die Bedeutung des Konflikts für die Entstehung dieses Diskurses betont, zeigt gerade die Wahl seines Beispiels jedoch auch, daß die Perspektivenverschiebung auf externe Faktoren, und eine Analyse von Textsorten sowohl den zentralen als auch den empirisch fruchtbarsten Gehalt der Diskursanalyse verspielt – die relative Eigenständigkeit diskursiver Prozesse und die Möglichkeit, Diskurse als ein Ensemble diskursiver Beiträge zu untersuchen, die den unterschiedlichsten institutionellen Feldern und Praxisbereichen entstammen." (S.265f) [36]
SCHWAB-TRAPP sieht die Diskursanalyse als prozessuale Analyse von Konflikten, die zwischen "diskursiven Gemeinschaften" ausgetragen werden. Diese diskursiven Gemeinschaften stehen sich in diskursiven Formationen gegenüber, die SCHWAB-TRAPP als konflikthafte und heterogene Konstellationen von mehreren Diskursen sieht. Hier läuft die Begriffsentwicklung SCHWAB-TRAPP s mit dem Interdiskurskonzept von PÊCHEUX parallel. Letzterer hatte ebenfalls die FOUCAULTschen Analyse einzelner Diskurse erweitert hin zur Analyse von umfassenderen konfliktuellen Diskurskonstellationen, in denen dann einzelne Diskurse (später dann Diskursstränge) betrachtet wurden. Mit Bezug auf BOURDIEUs Theorie des Sprechens kann SCHWAB-TRAPP die Begriffe des Diskursfeldes (damit sind Arenen gemeint, in denen die diskursiven Auseinandersetzungen stattfinden), des symbolischen Kapitals von Sprechern sowie den Begriff der diskursiven Eliten (das sind nicht nur diejenigen, die im Diskurs als "Vertreter" erscheinen, sondern als "Wortführer" auch diejenigen, die zur Artikulation, also zur Formierung von Diskursen einflussreich beitragen können) einführen. SCHWAB-TRAPPs wegweisende Erweiterung der Diskurstheorie ist durch den BOURDIEUschen Ansatz inspiriert worden, der einerseits wie FOUCAULT Konflikt als fundamentale soziale Kategorie denkt, andererseits im Unterschied zu FOUCAULT akteurbezogen ist, ohne allerdings akteurzentriert zu sein. Auch die akteurbezogene Habitustheorie von BOURDIEU sieht (in der strukturalistische Tradition stehend) die Eigenlogik von Feldern und sozialen Räumen als constraints für habituelles Handeln (Sprechen). Anhand eines Einblicks in die empirische Analyse der Diskursposition der Grünen (sowie der von Joschka FISCHER als Vertreter der diskursiven Elite der Partei der Grünen), kann SCHWAB-TRAPP die Nützlichkeit seiner diskurstheoretischen Begriffsentwicklungen demonstrieren. Auch BUBLITZ baut in ihrem Beitrag "Differenz und Integration. Zur diskursanalytischen Rekonstruktion der Regelstrukturen sozialer Wirklichkeit" eine sowohl sozialstrukturelle als auch konfliktuelle soziologische Diskurstheorie aus. Auch hier ist der Einfluss BOURDIEUs als richtungsweisend für die Soziologisierung der Diskurstheorie erkennbar. BUBLITZ' Beitrag ist komplex, weil sie sowohl die theoriepolitischen (was wird durch die Diskurstheorie als kritischer Theorie a priori gesetzt und wie kann die Evidenz von Diskursordnungen methodisch kritisiert werden?) als auch die methodologischen Konsequenzen (was heißt dies für die rekonstruktive Logik der Diskursanalyse?) dieser Ausarbeitung mitbearbeitet bzw. offen legt. Neben dem Aufweis der Konstruktion sozialer Wirklichkeit durch vorgängige diskursive Praktiken und der Schilderung, wie durch Machtpraktiken das Soziale als kategorisierte Ordnung denkbar wird (und damit machtvoll rückwirkt) geht es BUBLITZ um die Formulierung einer diskursanalytischen Haltung, die sie "kritische Ontologie" nennt: durch die diskursanalytische Praxis wird der als evident wahrgenommenen sozialen Wirklichkeit ihre "Naturalität" und "Selbstverständlichkeit" genommen und so die Kontingenz des Sozialen sichtbar, was BUBLITZ kritisch wendet, denn die Herstellung von "Evidenz" deutet sie als Machtwirkung.
"Die Haltung einer 'kritischen Ontologie' besteht also in nicht mehr und nicht weniger als in der historischen Positionierung von Wissen und Erkenntnis. Die Rekonstruktion der Genese sozialer Wirklichkeit 'verschiebt' Wissens- und Erkenntniseinheiten insofern, als sie den gewohnten Blick auf sie und ihre Quasi-Evidenz verwirft; darin besteht ihr (de)konstruierender, über die rein positiv(istisch)e Beschreibung hinausgehender Charakter." (S.235f) [37]
BUBLITZ versteht – wie SCHWAB-TRAPP – das Soziale als einen Diskursraum, in dem durch historische Diskurspraktiken soziale Differenzen durch diskursive Klassifizierungen entstehen, wobei BUBLITZ letztere wörtlich nimmt: als Klassen bildend, d.h. Gruppen bildend und soziale Machtkonstellationen bildend. Sie formuliert in diesem Sinne, dass Diskurse als "Strukturachsen" der Gesellschaft aufzufassen seien. Die Raummetaphorik bei BUBLITZ ermöglicht insgesamt, den Weg hin zu einer diskurstheoretischen Sozialstrukturanalyse einzuschlagen, die nicht nur die synchrone (archäologische Dimension), sondern auch die diachrone Perspektive (genealogische Dimension) beinhaltet. Dabei lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die sozialen Machtkämpfe, die in den Diskursräumen für Widersprüchlichkeiten, für die Ereignishaftigkeit und die Unabgeschlossenheit diskursiver Ordnungen sorgen. Damit ist das Soziale immer in Bewegung, angetrieben durch soziale Machtprozesse, durch das Ringen um Bemächtigung (Normalisierung, Definierung, Kategorisierung) und den Widerstand dagegen. Auch in diesem Beitrag wird der Anwendungsbezug anhand von Einblicken in die empirischen Diskursanalysen von BUBLITZ und Mitarbeiterinnen veranschaulicht. [38]
Willy VIEHÖFER zeigt in seinem Beitrag "Diskurse als Narrationen" wie eine auf FOUCAULT sich beziehende Diskursanalyse ergänzt werden kann um Modelle, die bereits in der strukturalistischen Linguistik und Kulturanalyse verwendet worden sind, um die Ordnung in Erzählungen zu erfassen. Hier bezieht sich VIEHÖFER auf die Erzähltheorie von Paul RICOEUR, die strukturale Semantik von Algirdas GREIMAS und die in der Politikwissenschaft entwickelte Rahmenanalyse. Die Narrativisierung wird als der in Diskursen vorgehende, zentrale Prozess der Sinnbildung verstanden, der nun soziologisch in Bezug gesetzt wird zu sozialen Prozessen, in denen versucht wird, Einfluss auf die Narrativisierung zu nehmen oder die durch die Narrationen (als wirkmächtige Diskursordnungen) selbst beeinflusst werden. VIEHÖFER verknüpft die Narrativisierung mit Diskurskoalitionen (das sind Akteursnetzwerke in institutionellen Feldern), in denen diese erfolgt, ohne ein einseitiges Ableitungsverhältnis zu unterstellen. Das Erklärungspotential erweist sich dann in der zeitlichen Betrachtung.
"Sofern die Transformation sozialer Praktiken – z.B. der gesellschaftliche Umgang mit Verpackungsmaterial – das Ziel der Untersuchung ist, ist die synchrone Analyse von narrativen Diskursen nicht hinreichend. Die Frage ist, ob unter bestimmten Bedingungen die Narrativisierung von Ereignissen etc. in und durch Diskurskoalitionen und die selektive Aneignung von (vorhandenen) Narrationen die Ergebnisse sozialen Handelns und (institutioneller) Praktiken und deren Struktureffekte (etwa politische Entscheidungen, neue Institutionen, Praktiken oder Identitäten) erklären helfen. Erst in der diachronen Betrachtung zeigt sich, ob bestimmte Akteure ihre Wert- und Argumentstruktur erweitern und ob sie Elemente der gegnerischen Position in die eigene Argumentation, ihre Selbst- und Fremdbeschreibung integrieren oder nicht." (S.201; Herv.i.Orig.) [39]
VIEHÖFERs Beitrag ist im Rahmen des Handbuches deshalb interessant, weil er nicht nur diese theoretische Adaption des Narrationskonzepts vorlegt, sondern auch die methodische Umsetzung und Heuristik (Leitfragen, Abgrenzungsstrategien für Diskurskoalitionen, Diskurse und narrative Strukturen wie Rahmen) entwirft. [40]
Sein Beitrag bezieht sich auf den rahmentheoretischen Beitrag von Paolo R. DONATI "Die Rahmenanalyse politischer Diskurse". Dieser gehört zwar nicht im engeren Sinne zur FOUCAULTschen Diskurstheorie, kann aber – wie die Beiträge von VIEHÖFER und KELLER zeigen – damit verknüpft werden. DONATI referiert die Entstehung dieses Ansatzes in der Forschung über soziale Bewegungen, in der die Einsicht gereift ist, dass die Sphäre der Kultur als Bereich für eine Erklärung, wie und mit welcher Zielsetzung soziale Bewegungen entstehen und warum sie Mobilisierungsfähigkeit inne haben, herangezogen werden muss. Auch DONATI liefert sowohl die Theorie der Rahmen (welche kognitive Realität und Funktion sie haben, wie sie mit Institutionen und Mobilisierungsprozessen zusammenhängen) als auch Hinweise zu ihrer empirischen Analyse (wie sie aus Texten diskursanalytisch zu erschließen sind). Noch einen Schritt weiter in die Politikwissenschaft geht der Beitrag "Politikwissenschaft auf dem Weg zur Diskursanalyse?" von Frank NULLMEIER. Er stellt klar, dass die Diskursanalyse nur in einem Randbereich der Politikwissenschaft Eingang gefunden hat, dass aber der Mainstream der Politikwissenschaft sich einem nachpositivistischen Methodenverständnis, welches sich in der Soziologie deutlich abzeichnet, verweigert. Demzufolge blockiert sich die breitere Politikwissenschaft für die Entwicklungen der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse. NULLMEIER versucht daher, eine Aufnahme eines zumindest moderaten Diskurskonzepts für die gegenwärtige Politikwissenschaft vorzuschlagen. Seine Argumentation: anders als in der Soziologie, in der die sozialtheoretischen Komponenten der FOUCAULTschen Diskurskonzeption die Aufnahme vorbereitetet haben, um danach die Methodendiskussion anzufachen, hat die Diskurstheorie in der politikwissenschaftlichen Rezeption seiner Ansicht nach zuerst dann eine Chance, wenn die Diskursanalyse als Methodenfeld eingeführt wird. [41]
In dem auch für Soziologen äußerst lesenswerten Beitrag "Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft" von Philipp SARASIN wird die Schwierigkeit der Geschichtswissenschaft mit der Diskurstheorie zum Thema gemacht. Diese Art Wissenschaftskritik an der Geschichtswissenschaft, die selbst diskursanalytische Züge trägt, kann ohne weiteres auch für die Schwierigkeiten des Mainstreams der Sozialforschung mit nachpositivistischen Ansätzen gelten. SARASIN skizziert verschiedene diskurstheoretische Ansätze, stellt dann den FOUCAULTschen Ansatz ins Zentrum historischer Analyse der Materialität sozialer Praktiken und sozialer Semantiken. Wie kaum ein anderer hat SARASIN auf die notwendige Einbeziehung von Medien – also den materiellen Trägern und den Produktionsverhältnissen von Diskursen – in die Diskursanalyse hingewiesen. [42]
Wie deutlich geworden sein dürfte, beginnen die Artikel mehrheitlich mit einer Darlegung des FOUCAULTschen Theorieansatzes, an den sie dann erweiternd und operationalisierend anschließen. Den Abschluss des ersten Bandes dieses Handbuches bilden dann vier Beiträge, die – so die Herausgeber – die Funktion haben, "an [...] unterschiedlichen Themenbereichen die Bedeutung des Diskursbegriffs" (S.23) zu verdeutlichen, die also eher theoretische Zielsetzungen haben. Andreas HIRSELAND und Werner SCHNEIDER untersuchen in ihrem Beitrag ("Wahrheit, Ideologie und Diskurse. Zum Verhältnis von Diskursanalyse und Ideologiekritik") aus FOUCAULTscher und wissenssoziologischer Perspektive die Möglichkeit einer modernen Ideologieanalyse. Dabei wollen sie sowohl die materialistische (also die politökonomische) Rückbindung auf Klassenpositionen als auch eine "Totalisierung des Ideologischen" (was soviel heißt wie: Ideologie ist nicht falsches Bewusstsein noch die Lehre von den Ideen, sondern letztlich jede Form von gesellschaftlichem Wissen über Gesellschaft) vermeiden. Denn die Positionen haben das Problem, entweder einen ausgezeichneten ("neutralen") Ort der Ideologiekritik angeben zu müssen (was sie nicht leisten können) oder auf eine kritische Analyse verzichten zu müssen. Nach einer Diskussion der einschlägigen Ideologietheorien (insbesondere von MARX, MANNHEIM, ALTHUSSER, PÊCHEUX) sehen sie in einer wissenssoziologisch erweiterten Diskurstheorie die Möglichkeit, für eine Ideologieanalyse, die ihren eigenen Ort angibt und eine sowohl kritisch-aufklärerische, als auch eine (im Sinne von BUBLITZ) deontologische Funktion ausüben kann. Der Brite Norman FAIRCLOUGH zählt zu den Linguisten, die früh die FOUCAULTsche und PÊCHEUXsche Diskurstheorie aufgegriffen haben und der (mit Ruth WODAK und Teun VAN DIJK) zu den Vertretern der critical discourse analysis zählt. FAIRCLOUGHs Arbeiten zeichnen sich durch eine Bewegung aus, die als Entstrukturalisierung der FDA verstanden werden kann (DIAZ-BONE 2002, S.106ff; FAIRCLOUGH und WODAK 1997). FAIRCLOUGH versucht in seinem Beitrag "Globaler Kapitalismus und kritisches Diskursbewußtsein", den Akteurstatus in der Diskursanalyse aufzuwerten, um das Interventionspotential von Beherrschten in die diskursive Konstruktion von wirkmächtigen Repräsentationen, die durch "herrschende Gruppen" erfolgt, mobilisierbar zu machen. FAIRCLOUGH hat den Begriff des kritischen Sprachbewusstseins im britischen Kontext der linguistischen Diskursanalyse mitgeprägt und plädiert in seinem Beitrag für die Erziehung zu einem solchen.
" [...] wenn Menschen in dieser komplexen Welt wirklich leben sollen, statt sich von ihr nur mitreißen zu lassen, dann benötigen sie Ressourcen, um ihre Positionierung innerhalb dieser Dialektik des Globalen und des Lokalen untersuchen zu können – und zu diesen Ressourcen gehört ein kritisches Bewußtsein von Sprache und Diskurs, das nur aus Spracherziehung entstehen kann." (S.342; Herv.i.Orig.) [43]
Sein diskurstheoretischer Ansatz gewinnt interventionistische Züge, wie sie die Aktionsforschung (action research) innehatte. Bei aller Skepsis, die aus poststrukturalistischer Sicht gegenüber diesem fast schon euphorischen Akteurkonzept eingebracht werden kann, ist der Anwendungsbezug bei FAIRCLOUGH, das Wagnis, die Diskursanalyse politisch-praktisch einzusetzen, auch aus einem Grund hervorzuheben: in dieser Entschiedenheit erinnert seine aus der Beschäftigung mit Diskursen in einem Feld entstandene Haltung an FOUCAULTs praktisch-kritische Arbeit in der von ihm mitbegründeten Gefangeneninformationsgruppe GIP (vgl. ERIBON 1991). Hervorzuheben ist zuletzt noch der relativ kurze, aber informative Überblicksbeitrag "Feministische Theorie – Diskurs – Dekonstruktion. Produktive Verknüpfungen" von Sabine HARK, der den Einfluss des FOUCAULTschen Diskurskonzeptes, des DERRIDAschen Dekonstruktionskonzeptes und der dadurch inspirierten Theorie Judith BUTLERs für die feministische Forschung darlegt. Denn gerade in diesem Bereich sind die diskurstheoretischen und diskursanalytischen Forschungen sehr zahlreich geworden (vgl. auch HONEGGER 1991; BUBLITZ 1998, 2003 und KELLER 2003). [44]
Das Handbuch hat sich seit seinem Erscheinen als Standardwerk für die Diskursforschung etablieren können. Es repräsentiert den aktuellen Stand der diskurstheoretischen Diskussion in der Sozialwissenschaft. Die Herausgeber haben es geleistet, mit der Auswahl der Autoren das deutsche Feld der sozialwissenschaftlichen Diskursforscher repräsentativ abzustecken sowie redaktionell gut betreute und für die Diskursanalyse jeweils äußerst wertvolle Beiträge zu einem Handbuch zusammenzustellen. Nachdem in den Einzelbesprechungen der Beiträge schon eine kritische Würdigung erfolgt ist, kann man zum Handbuch insgesamt lediglich zweierlei anmerken. Einmal dass ein Artikel von Jürgen LINK – auf den sich viele Beiträgen beziehen – die Auswahl weiter vervollständigt hätte (worum sich die Herausgeber allerdings auch bemüht haben). Zum anderen, dass der erste Band "Theorien und Methoden" seinen Schwerpunkt bei der Theorieentwicklung hat, denn bis auf die Beiträge von JÄGER, JUNG und auch VIEHÖFER werden die Strategien für die empirische Umsetzung der diskurstheoretischen Überlegungen eher skizziert als ausbuchstabiert. Aber hier ist wohl noch Geduld zu üben und auf das Erscheinen des zweiten Bandes zu warten (KELLER et al. 2003). Insgesamt kann man aus heutiger Perspektive sagen, dass mit dem Erscheinen des ersten Bandes dieses Handbuches im Verlag Leske + Budrich auch ein Stück weit die Etablierung der (nicht nur, aber wesentlich: FOUCAULTschen) Diskursforschung als einen weiteren und im Rahmen der vorhandenen Traditionen diskussionsbereiten Strang der Sozialforschung erfolgt ist. [45]
5. Patrick CHARAUDEAU & Dominique MAINGUENEAU (Hrsg.) (2002). Dictionaire d'analyse du discours
Welche Formen die Normalisierung eines interdisziplinären Ansatzes annehmen kann, zeigt die Veröffentlichung des von Patrick CHARAUDEAU und Dominique MAINGUENEAU herausgegebenen Wörterbuchs zur Diskursanalyse. [46]
5.1 Inhalt und Organisation des dictionaire
Das Wörterbuch zur Diskursanalyse versammelt ca. 300 Beiträge zu Begriffen aus der Diskursforschung. Verfasst wurden diese Beiträge jeweils von einem der beiden Herausgeber oder einem der 27 weiteren mitwirkenden Diskursforscher. Diese Gruppe ist so zusammengesetzt, dass die Diskursanalyse in Form eines repräsentativen Wortkorpusses abgebildet werden konnte. Das Wörterbuch soll einen vorrangig frankophonen Wortbestand versammeln, der zunächst von der Französischen Diskursanalyse (FDA) ausgeht, der aber auch benachbarte Ansätze berücksichtigt, wie die in Frankreich früh rezipierte ethnomethodologische Konversationsanalyse und der auch Begriffe aus der Sozio- und Diskurslinguistik beinhaltet. Frankophoner und nicht einfach französischer Wortbestand, weil auch in anderen französischsprachigen Regionen eine umfassende Diskursforschung entstanden ist: So nennen die Herausgeber die Diskursforschung in der französischsprachigen Schweiz. Hinzuzufügen wäre die Diskursanalyse im französischsprachigen Teil Kanadas, hier insbesondere die Fortführung der computergestützten Linguistik in Quebec, die mit Bezug auf die ADA 69 (nach den Theorieverschiebungen in der Interdiskursanalyse) die diskursanalytische Softwareentwicklung weiter verfolgt hat (siehe das Programm DEREDEC von Pierre PLANTE). Zu den bekanntesten Mitarbeitern des dictionaires zählt (neben MAINGUENEAU) Jacques GUILHAUMOU, der ebenfalls zur zweiten Generation der FDA gezählt wird. [47]
Die Beiträge sind in der Regel mehrseitige Bearbeitungen (das heißt konkret: 2 bis 4 Seiten) eines Begriffs. Nur wenige Begriffe sind auf weniger als einer Seite erläutert. In den Abhandlungen wird dann oftmals ein Komplex diskursanalytischer Begriffe erörtert, der sich um den Hauptbegriff formiert. Enthalten sind dann Verweise auf zentrale Studien oder Autoren, die den Begriff eingeführt haben, es sind Begriffsdifferenzierungen und oftmals erläuternde Beispiele enthalten. Was den in der Einleitung erklärten interdisziplinären Charakter des dictionaires konzeptionell einlöst (der faktisch ja immer ein Nebeneinander von Ansätzen ist und keine wirkliche Verschmelzung von Paradigmen – wie sollte das auch gehen?), ist, dass unterschiedliche Bestimmungen eines Begriffs auch nacheinander für die verschiedenen Ansätze abgehandelt werden, so dass man differenzieren kann, was verschiedene Autoren oder verschiedene Disziplinen mit einem Begriff meinen, welche konzeptionellen Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten es jeweils gibt. Die Beiträge sind verständlich geschrieben, so dass Studenten und Wissenschaftler auch aus verschiedenen und nicht-linguistischen Disziplinen damit arbeiten können. Die in Beiträgen enthaltenen diskursanalytischen Begriffe, denen selbst ein eigener Artikel gewidmet ist, sind durch einen Asterix (*) gekennzeichnet. Am Ende der Beiträge stehen Begriffe, deren Artikel zur anschließenden, weiter vertiefenden Lektüre empfohlen werden. Die Herausgeber haben verschiedene "Lesefäden" vorgeschlagen, die sie am Ende des dictionaires in Form verschiedener Begriffsblöcke organisiert haben. Diese Blöcke sind nach thematischen Interessen und Forschungsansätzen zusammengestellt. Die sukzessive Lektüre der enthaltenen Begriffe soll dann in diese Themenbereiche einführen bzw. ein Interesse befriedigen. Zudem beinhaltet der Band am Ende eine mehr als 50 Seiten umfassende Literaturliste. Diese ist auf dem aktuellen Stand und beinhaltet den Korpus der vor allem französischsprachigen Diskursanalyse. Leider sind hier keine Differenzierungen erfolgt, etwa in der Weise, dass nach Themen, Schulen oder einführendem und vertiefendem Charakter der Publikationen unterschieden worden wäre. Konsequent ließe sich eine Literaturliste so wohl auch nicht vollständig aufgliedern, aber dennoch: die Angabe von paradigmatischen Studien für bestimmte Schulen, Ansätze und die Zusammenstellung von einführender Literatur (evtl. auch für verschiedene Bereiche) in die Diskursanalyse hätte den beabsichtigten Service-Charakter weiter realisiert. [48]
Bemerkenswert ist, wie es den Autoren gelungen ist, einfach und klar die komplexen Theoriebereiche und Konzepte der Diskursanalyse darzustellen. Ein gutes Beispiel ist die einfache Inhaltsdarstellung der "Archäologie des Wissens" (FOUCAULT 1973), die unter dem Begriff "archeologique (analyse -)" auf ca. 7 Seiten dargestellt wird. Darin enthalten sind Darlegungen der Begriffe "Aussage", "Positivität", "Wissen", "Episteme" und andere. Für dann zentrale Konzepte wie "Archiv", "diskursive Formation", "Autor", "Diskurs" finden sich Verweise auf deren eigenständige Darstellung in jeweils einem eigenen Beitrag. Enthalten sind Beiträge zu Begriffen unterschiedlichen Typs. Dazu zählen Beiträge zu Arten der Analyse (wie "archäologische Analyse", "Inhaltsanalyse" und natürlich ein Überblicksbeitrag zur "Diskursanalyse"), dann Beiträge zu einfachen und komplexen Konzepte (wie "Korpus", "Anaphora", "Deixis", "Ambiguität" usw.). Enthalten sind auch Beiträge zu Ansätzen und Traditionen, so Beiträge zur "französischen Schule" der Diskursanalyse (gemeint ist die FDA), zur Dialektik, zum Dialogismus (BACHTIN / VOLOSINOV), zur Sprechakttheorie, zur Ethnographie der Kommunikation, zur Ethnomethodologie, Rhetorik. Komplexe Begriffe wie "Diskursive Materialität", "Intradiskurs" oder "Interdiskurs", die in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Diskurstheorie noch nicht so zentrale Begriffe sind wie die Begriffe "Diskurs" oder "Archiv" (wenn man von Jürgen LINK absieht), nehmen hier einen bedeutenden zentralen Platz ein, denn sie sind in der FDA mittlerweile Bestandteil des Begriffskanons. [49]
Die Herausgeber bemerken einleitend, dass dieses dictionaire die diskursanalytische Forschung als auch die Rezeption diskursanalytischer Untersuchungen unterstützen soll. Aber der Nutzen des Wörterbuchs für die praktische Durchführung von Diskursanalysen ist zunächst wohl als eher gering einzuschätzen, denn hierin finden sich keine methodologischen Abschnitte oder Anleitungen. Es ist eben kein Buch, das die Methodologie darlegt, epistemologische Probleme der FDA erörtert, was nur eine Monographie wirklich leisten kann. Wertvoll ist dieses Wörterbuch dann aber durchaus für die Einarbeitung in die Diskurstheorie, nicht nur für Studierende. Denn es liefert in leicht verständlicher Darstellung Begriffsdarlegungen mit Angaben über die konzeptuelle Einbindung der dargestellten Begriffe in den einen oder die mehreren diskursanalytischen Ansätze. Die Vernetzung der Konzepte ermöglicht es den Lesern, das begriffliche Feld der Diskurstheorie rhizomatisch zu erschließen. Die angeführte Kritik des Methodenanspruchs kann man dann aber soweit einschränken: auch praktisch arbeitende Diskursanalytiker, die sich der begrifflichen Kohärenz ihres Ansatzes versichern wollen, können von dem Nachschlagewerk profitieren. [50]
Schließt man zu weit, wenn man das Erscheinen dieses dictionaires als ein Zeichen für die fortschreitende Institutionalisierung der Diskursanalyse in Frankreich ansieht? Hierzu zählt nicht nur die bereits seit den 1970er Jahren erfolgende Etablierung von Forschergruppen (etwa am CNRS) und die Gründung von Zeitschriften (siehe eben dafür WILLIAMS' oben besprochenen Beitrag; insbesondere in Absatz 19), sondern auch der Einzug der FDA in die Lehrveranstaltungen bzw. die Ausweitung der diskursanalytischen Ausbildung. Vielleicht handelt es sich auch um den Ausdruck eines "Willens zur Normalisierung" im Diskursraum der FDA. Denn ein Wörterbuch definiert, was das Feld der Begriffe ist, was zentrale und was periphere Begriffe sind. Die Autoren haben die Absicht, nicht nur zentrale und seit langem in verschiedenen Diskursansätzen verwendete Begriffe in das dictionaire aufzunehmen, sondern auch solche Begriffe zu bearbeiten, die neue sind oder aus Sicht einiger Diskurstheorieströmungen nur periphere Begriffe sind. CHARAUDEAU und MAINGUENEAU haben auch offen die verschiedene Strömungen und die Heterogenität der Diskursanalyse benannt. Dennoch hat in Frankreich mit den Sondernummern der sprachwissenschaftlichen Zeitschriften mit Themenschwerpunkten (z.B. Langages Nr. 13/1969, Langages Nr. 17/1995) und mit den verschiedenen Konferenzen zur Diskursanalyse der Prozess der Selbstreflexion des diskurstheoretischen Feldes früh begonnen, so dass die Vermittlungen zwischen Positionen früh begonnen haben. Von Beginn an haben die diskursanalytischen Strömungen die theoretischen Konzepte und methodischen Strategien untereinander wahrgenommen, aufgenommen und kritisch reflektiert. (Ein Grund dafür ist die Zentralisierung der verschiedenen diskursanalytischen Strömungen in wenigen Pariser Forschungsinstitutionen.) Das Feld der Diskursanalyse ist sich heute seiner interdisziplinären Differenzen und seiner transdisziplinären Gemeinsamkeiten bewusst. Diese Prozesse führen dazu, dass heute ein solches dictionaire möglich ist, das (nicht nur aufgrund der Zusammenstellung seiner Mitwirkenden) Anspruch erheben kann, anhand des Begriffskorpus das transdisziplinäre Feld der Diskursanalyse in Frankreich zu repräsentieren. [51]
Ein solches Nachschlagewerk gibt es im deutschen Sprachraum noch nicht. Es ist trotz der "Sprachbarriere" für die sozialwissenschaftliche Diskursforschung deshalb ein wertvolles Projekt, weil die in der deutschen Diskursforschung verwendeten diskurstheoretischen Begriffe überwiegend französischsprachigen Ursprungs (hier quasi "muttersprachlich" verfasst) sind. Die in das dictionaire eingegangene Systematisierungs- und Präzisierungsarbeit am Begriffsnetzwerk ist hier nur in Ansätzen versucht worden (etwa anhand des "Kleinen Begriffslexikons" in den frühen Ausgaben der Zeitschrift Kulturrevolution oder den kleinen Glossaren in den Beiträgen von BUBLITZ (in KELLER et al. 2001) und KELLER 2003, siehe Abschnitt 6). Das dictionaire ist in einem zwar wissenschaftlichen, aber auch für Nichtfranzosen gut verständlichen Französisch geschrieben und deshalb ein geeigneter Zugang für die internationale und damit auch deutschsprachige Rezeption der FDA. Es kann dann – gerade auch weil es eben erst erschienen und deshalb auf aktuellem Stand ist – die langwierige Rezeption der FDA verkürzen und vereinfachen. Es repräsentiert sicher nicht die diskursanalytische(n) Methodologie(n) im Sinne eines Handbuchs zum Forschungsprozess, das die Beantwortung der sich in der praktischen Diskursanalyse ergebenden technischen Fragestellungen unterstützt, aber es kann als Momentaufnahme des Feldes der zeitgenössischen FDA und als informativer Zugang in ihr Archiv dienen. [52]
6. Reiner KELLER (2003). Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen
Der Diskursforscher Reiner KELLER hat nicht nur eigene empirische Diskursanalysen vorgelegt (KELLER 1998), sondern ist bereits mehrfach mit systematisierenden Beiträgen zur Diskurstheorie und Diskursanalyse in Erscheinung getreten (KELLER 1997 und der oben [in Abschnitt 4] besprochene Band von KELLER et al. 2001, sowie KELLER et al. 2003). Nun liegt ein Einführungsband von ihm vor, der sich an ein interdisziplinäres sozialwissenschaftliches Publikum wendet und der in die verschiedenen theoretischen Strömungen der Diskursforschung und die Strategien ihrer methodischen Umsetzung einführt. [53]
Durch das ganze Buch hindurch finden sich Orientierungshilfen und Veranschaulichungen, die durch das Layout vom übrigen Text abgesetzt sind. So liefert KELLER einmal zu verschiedenen bedeutsamen Ansätzen und Themenbereichen der Diskursforschung kommentierende Übersichten über die wichtigste (auch internationale) Forschungsliteratur. Zum anderen veranschaulichen beispielhafte Ausschnitte aus empirischen Diskursanalysen die vorgestellten methodologischen Aspekte und methodischen Schritte und geben Einblick in das analysierte Material und die praktische Analyseweise. [54]
Der Einführungsband gibt in den ersten beiden Kapiteln einen Überblick über die Ansätze im Feld der Diskursforschung. Besprochen werden zunächst verschiedene, im engeren Sinne diskursanalytische Ansätze: die discourse analysis (wie sie durch die von VAN DIJK herausgegebenen beiden Bänden aus 1997 abgesteckt wird) als breiteste Strömung der eher sprachwissenschaftlichen ausgerichteten Diskursforschung, die korpuslinguistisch-historische Diskursanalyse und die critical discourse analysis (neben FAIRCLOUGH, WODAK werden hier auch Siegfried JÄGER und Jürgen LINK einbezogen). Vorgestellt werden dann Ansätze der von KELLER so bezeichneten "kulturalistischen Diskursforschung", worunter Diskurskonzepte innerhalb soziologischer Theorietraditionen gefasst werden. Hier sind es die Arbeiten von Pierre BOURDIEU zum "Sprachgebrauch als symbolischem Kampf", die Rahmenanalyse von William A. GAMSON, die Analyse der Diskursivierung öffentlicher Probleme bei Joseph R. GUSFIELD sowie die Analyse von Diskursgemeinschaften von Robert WUTHNOW. Im engeren Sinne als "Diskurstheorie" werden dann die fundierenden Diskurstheorien von FOUCAULT sowie die von Ernesto LACLAU und Chantal MOUFFE mit ihren Aufnahmen in den cultural studies, dem Postkolonialismus und der feministischen Theorie behandelt. [55]
KELLER entwickelt in diesem ersten Abschnitt der Einführung abschließend einen Entwurf für eine weitere Soziologisierung der Diskursforschung, die einmal in der Erweiterung der Diskursperspektive durch die Struktur(alismus)theorien von BOURDIEU und GIDDENS und zum anderen in der Vermittlung der FOUCAULTschen Diskurstheorie an die Wissenssoziologie besteht. Diese erweiternde Perspektive bietet sich aus seiner Sicht geradezu an. Denn mit der Annahme der Konstruktivität und der Symbolvermitteltheit des Sozialen (der Sozialordnung) liegt ein Konsens in der zeitgenössischen Sozialwissenschaft vor, der ein wissenssoziologischer Konsens eines breit gefassten interpretativen Paradigmas ist. Er schließt in seiner wissenssoziologischen Erweiterung der Diskurstheorie explizit an die Formulierung der Wissenssoziologie durch BERGER und LUCKMANN (1969) an (siehe die Absätze 33-34 zur Besprechung von KELLERs Handbuchbeitrag). Die von ihm herangezogenen Theorien von BOURDIEU und GIDDENS betonen – im Unterschied zum sprachwissenschaftlichen Strukturalismus – die Reproduktion sozialer Strukturen anhand von strukturierten Praxisformen der Akteure. Werden sie in Kombination in eine wissenssoziologische Diskurstheorie eingebracht, können die Theorien von FOUCAULT, BOURDIEU und GIDDENS "helfen, den mikrosoziologisch-situativen Bias des interpretativen Paradigmas zu korrigieren und eine breitere Analyseperspektive einzunehmen, die gesellschaftliche und historische Kontexte berücksichtigt" (Kap. 2.7). KELLER betrachtet auch Arbeiten anderer Diskursforscher als der "wissenssoziologischen Diskursanalyse" zuordenbar, auch wenn diese selbst diese "Labelung" nicht verwenden. [56]
Ausgehend von diesem Ansatz einer wissenssoziologischen Diskursanalyse wird dann im zweiten Teil des Einführungsbandes in den folgenden vier Kapiteln die diskursanalytische Forschungspraxis dargestellt. Auch wenn die Perspektive durch die oben formulierte Position einheitlich organisiert wird, bezieht KELLER wieder umfassend das ganze Feld der Diskursforschung ein, um einen Überblick über die forschungspraktischen Leitfragen und Heuristiken zu entwickeln. Begrenzt auf die FOUCAULTschen methodologischen Strategien der Archäologie und Genealogie haben KENDALL und WICKHAM (1999; in einer Art "classbook" mit "exercises") ebenfalls versucht, die Diskurstheorie in eine "offene Heuristik" zu überführen, ohne allerdings wie KELLER die im Feld der Diskursforschung vorhandenen Heuristiken zu systematisieren. KELLER geht noch in anderer Hinsicht weiter, er versucht die verschiedenen Forschungsphasen, den Ablauf von Diskursanalysen systematisch abzubilden. Kapitel 3 "Der Forschungsprozess" liefert eine Gesamtübersicht und stellt eine Klammer für die folgenden Kapitel dar, die dann thematisieren: als Einstiegsphase die Datensuche und Korpusorganisation (Kap. 4 "Die Vorgehensweise"), die Aufnahme der interpretativen Analytik (Kap. 5 "Feinanalyse der Daten") und die die Interpretationen synthetisierende Diskursbeschreibung sowie die Frage der Präsentation der diskursanalytischen Resultate (Kap. 6 "Von der Feinanalyse zum Gesamtergebnis"). Der Einführungsband verengt die Vorgehensweise nicht auf eine fertig ausformulierte, akribisch zu befolgende Schrittfolge. KELLER versucht vielmehr, einen Einblick in das mögliche Spektrum der Vorgehensweisen für Einsteiger anzubieten und die Heuristiken dennoch so konkret wie möglich zu halten. Damit bleiben für Diskursforscher die Optionen für die Operationalisierung der eigenen Forschungsschritte offen. Wer bislang nach solch einem Einblick in Heuristiken und in prinzipielle Vorgehensweisen gesucht hatte, musste sich auf eine der wenigen Ausarbeitungen von diskursanalytischen Schrittfolgen wie die von JÄGER (1999) einlassen. Diese waren dann mit einer spezifischen Ausarbeitung des FOUCAULTschen Diskursansatzes untrennbar verkoppelt. (Im Falle des Ansatzes von JÄGER unterliegt die Perspektive auf die Analyse von Diskurssträngen, nicht auf die Rekonstruktion von diskursiven Formationen aus "Begriffen", "Objekten", "Sprecherpositionen", "thematischen Wahlen/Strategien", wie sie FOUCAULT [1973] in der "Archäologie des Wissens" konzipiert hatte.) Und deswegen waren sie im Prinzip bereits vollständig ausgearbeitet und nicht ohne weiteres auf davon abweichende Ausarbeitungen des FOUCAULTschen Diskurskonzeptes beziehbar. (Was den Wert der JÄGERschen Diskursmethodik für diejenigen, die sich seinem Diskursmodell anschließen können, in keiner Weise schmälert.) [57]
KELLERs Darstellung der Forschungspraxis behandelt alle Phasen der praktischen Diskursforschung, darunter auch solche methodologischen Abschnitte, die derzeit in den meisten Veröffentlichungen zu diskursanalytischer Forschung noch selten intensiv thematisiert werden. Hervorzuheben sind die Sondierungsphase, die Frage der Zusammenstellung bedeutungstragender Materialien und die Frage, wie die diskursanalytischen Ergebnisse repräsentiert werden sollen. Die Frage, wie die Diskursanalyse aufgenommen werden soll (Sondierungsphase), ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil Diskursanalysen nicht einfach mit Forschungsfragen beginnen, sondern eher bei Problemen, bei der Entscheidung für die Analyse der kontingenten Konstellationen (den so genannten "Artikulationen") von Wissensordnungen, Institutionen und Handlungsformen in sozialen Feldern ansetzen. Die Herausarbeitung eines diskursanalytischen Blicks auf dieses Feld und die Etablierung einer reflektierten Vorgehensweise, die erst nach und nach Fragekategorien und Schrittfolgen aus dem anfänglichen Prozess gewinnt, sind Charakteristika von sozialwissenschaftlichen Diskursanalysen. Die Phase der Sondierung des Feldes, die Entwicklung von explorativen Strategien und die hier andere Handhabung von Daten, die der Exploration des Feldes und der Zusammenstellung des Datenkorpusses dienen und (noch) nicht der späteren Analyse der diskursiven Formation, hat im Rahmen von Diskursanalysen eine wichtige Bedeutung, wird sonst aber kaum thematisiert. Aus KELLERs Sicht ist Diskursanalyse mehr als Textanalyse. Was nicht nur heißt, dass Texte als Materialisierungen einer diskursiven Praxis betrachtet werden müssen, sondern, dass einmal die textproduzierenden und textrezipierenden Prozesse im untersuchten Feld ebenso Gegenstand der Analyse sein können, und dass zum zweiten andere bedeutungstragende Materialien als Texte (gemeint sind andere "Datenformate" wie Film, Bilder, akustisches Material aber auch bedeutungstragende Artefakte wie Architekturen) Teil des diskursanalytischen Korpus sein können. Hier zeigt KELLER Leerstellen der diskursanalytischen Methodendiskussion auf. Eine weitere Leerstelle ist aus seiner Sicht die der Klärung möglicher und für die Diskursanalyse geeigneter Darstellungsformen für die Veröffentlichung der Forschungsresultate. (Auch in der weiteren qualitativen Sozialforschung ist der Frage der Verfassung von Forschungsberichten, den Formen der Präsentation, bis hin zur Reflexion der notwendig auch rhetorischen Qualität wissenschaftlicher Texte, in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit gewidmet worden; siehe BERG & FUCHS 1993; MATT 2000). [58]
Aus KELLERs Sicht ist die Diskursanalyse ein "multi-methodisches" Feld. Womit das interdisziplinäre Spektrum der in Frage kommenden Techniken und Methoden angesprochen ist. Gleichzeitig müssen diese Techniken so eingesetzt werden, dass sie in einem holistischen Zusammenhang mit den vorangehenden diskurstheoretischen Grundpositionen stehen (Kap. 3.3). Es finden sich viele Diskursanalysen, die Techniken der bereits in der qualitativen Sozialforschung länger etablierten Methodologien einsetzen. Insbesondere die Kodier- und Memostrategie der Grounded Theory, auch deren Strategien der Korpuserstellung oder deren Kriterien wie das der theoretischen Sättigung werden verwendet. KELLER befindet diese Adaption als unproblematisch, wenn diese Adaption spezifisch diskursanalytisch ist. Er widmet der Adaption qualitativer Methoden einen wichtigen Abschnitt (Kap. 3.3.2), da nur mit Hilfe einer solchen Sensibilität die diskursanalytische Grundlogik gewahrt wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass KELLER den Verzicht auf linguistische Analysemethoden befindet. Diese Ausführungen zur diskursanalytischen Adaptation können die Bedenken (siehe die obige Besprechung von KELLER et al. 2001) über erwartbar auftretende Theorieinkompatibilitäten anlässlich einer Vermittlung von Wissenssoziologie (die einen subjektphilosophischen Hintergrund hat) und Diskurstheorie (die einen anti-subjektivistischen, poststrukturalistischen Hintergrund hat) auflösen helfen. Denn diese Adaption fördert die in den Techniken enthaltenen, zu einer Diskursanalyse möglicherweise sich widersprüchlich verhaltenden Theoreme zutage, die durch ihren nicht diskurstheoretischen Entstehungskontext im Prozess ihrer Entwicklung (notwendig) eingegangen sind und die zu transformieren (bzw. zu neutralisieren) Aufgabe einer diskursanalytischen Adaption ist. [59]
6.3 Wie ist der Einführungsband zu bewerten?
Der Einführungsband von Reiner KELLER ist demnach nicht nur eine Einführung. Er hat viel mehr geleistet: er hat das Feld der Diskursforschung systematisiert, er hat eine soziologisch vielversprechende Integrationsperspektive vorgelegt und er hat einen Leitfaden für die praktische Durchführung von Diskursanalysen entworfen. Dabei ist ihm das Kunststück gelungen, keine kleinteilige und voll durchoperationalisierte Schrittfolge vorzulegen (die nicht mehr generalisierbar, d.h. auf andere Diskursforschungen übertragbar wäre), sondern anpassungsfähige Heuristiken zu versammeln, die die verschiedenen Fragestellungen und Phasen von wissenssoziologischen Diskursanalyse in unterschiedlichen Anwendungskontexten strukturieren können. Wenn man berücksichtigt, dass die Einführungsbände in der "Reihe qualitative Sozialforschung" (notwendigerweise) nur knappe 100 Seiten haben, ist neben der Aufarbeitung des heterogenen Diskursfeldes und mit der Vorlage der wissenssoziologischen Diskursforschung als Integrationsperspektive die in die Darstellung eingegangene Verdichtungsleistung bemerkenswert. Es gehört nicht viel prophetische Weisheit dazu, zu urteilen, dass dieser Band für die nächsten Jahre vielen Diskursforscherinnen und Diskursforschern den systematischen Einstieg in die angewandte Diskursforschung erleichtern und organisieren helfen wird. Der Band wird – auch weil er für das Feld der Diskursforschung eine soziologische Integrationsperspektive vorschlägt – im Feld der Diskursforschung für interessierte Diskussion sorgen. [60]
Anfangs wurde das Feld der discourse analysis vorgestellt. Die neueren Entwicklungen innerhalb dieses interdisziplinären Feldes belegen, dass hierin der für die deutsche Sozialforschung relevante Kern die FOUCAULTsche Diskursanalyse ausmacht. Wurde hier durch die FOUCAULTsche Diskurstheorie zunächst die soziologische Theorierezeption angestoßen, so zeigt sich seit den 1980er Jahren das Bemühen, die Diskurstheorie in ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm umzusetzen, das die Diskurstheorie um eine (bzw. jeweils eine) ausgearbeitete Methodologie erweitert. [61]
Auffällig sind eine Reihe von unterschiedlichen Entwicklungen der Diskursforschung in Frankreich, dem "Mutterland" der Diskursanalyse, und der Diskursforschung in Deutschland. In Frankreich hat dieses Bemühen der Entwicklung einer operablen Analysemethode schon Ende der 1960er Jahre mit der von PÊCHEUX ausgearbeiteten Automatischen Diskursanalyse begonnen und dort seitdem kontinuierliche Entwicklungslinien ausgebildet. Heute kann man von einer französischen Schule der Diskurstheorie sprechen, die – obwohl sie sich weiter differenzieren lässt, den Brückenschlag zwischen einer sozio-historischen Diskurstheorie FOUCAULTs und kritisch gewendeten linguistischen Analysestrategien geleistet hat (hin zu einer Aussagenlinguistik). In der deutschen Entwicklung der Diskursanalyse hat sich der FOUCAULTsche Einfluss bahnbrechend durchgesetzt. Hier ist im Unterschied zu Frankreich einmal die Linguistik relativ bedeutungslos geblieben und in Deutschland hat lange Zeit die Diskrepanz zwischen der umfangreichen Bearbeitung und Rezeption der Diskurstheorie einerseits und den wenigen Vorschlägen zu Diskursmethodologien andererseits Bestand gehabt. Die Kennzeichnung "Diskursanalyse" hat hier zumeinst diskurstheoretische Arbeiten bezeichnet. Insofern ist KELLERs Vorschlag, das Feld mit "Diskursforschung" zu kennzeichnen treffend, weil es beide Forschungsbereiche, die der notwendigen Theorieentwicklung und die der empirisch-praktischen Anwendung in der Diskursanalyse zusammenbindet. [62]
Bislang steht hier noch eine umfassendere Kritik der Linguistik aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse aus. Anders ist die Situation in Frankreich, wo die Arbeiten von PÊCHEUX und seinen Mitarbeitern (siehe insbesondere GADET & PÊCHEUX 1981) die Kritik der Linguistik aus der Sicht der Interdiskursanalyse formuliert haben und der kritisch reflektierte Austausch zwischen sozio-historischer Diskursanalyse und Linguistik eine lange Tradition hat. [63]
Die Frage, wie die Inferenz von linguistischen Aspekten der Texte (bzw. anderen bedeutungstragenden Materialien) auf die konstituierende diskursive Praxis und dann auch auf nicht-diskursive Praktiken begründet werden kann, ist aus soziologischer Sicht nach wie vor offen und ungeklärt. Denn für eine begründbare Inferenz müsste die linguistische Perspektive ein a priori-Konzept von einer die sprachliche Form strukturierenden sozialen Praxis aufnehmen. Dann könnte nämlich generalisiert werden, dass überhaupt in den sprachlichen Formen Spuren der diskursiven und nicht-diskursiven Praxis enthalten sein sollen, die es deshalb und daraufhin zu analysieren gelte. (Es sei denn, man fällt zurück auf die soziolinguistische SAPIR-WHORF-These, die einfach davon ausgeht, dass linguistische Formen einer Sprachgemeinschaft auch deren Denkformen bestimmen.) Dass die linguistische Analyse über elaborierte formale Analysetechniken verfügt, kann also solange nicht beeindrucken, wie diese Relevanz der Linguistik für die Soziologie nicht begründet ist. Bereits die Soziolinguistik ist ja schon auf das Fehlen eines Sozialstrukturmodells sowie auf das Fehlen eines Konzepts sozialer Praxis, welche mit der Struktur der Sprechtätigkeit zusammenhängen, hin kritisiert worden (WILLIAMS 1992, JÄGER 1977). [64]
Mit WILLIAMS kann man anmerken, dass in der deutschen sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse die späteren Arbeiten der Gruppen um PÊCHEUX noch nicht breiter rezipiert worden sind. Die Arbeiten von Michel PÊCHEUX werden hier immer noch "zerteilt" und damit sein Anliegen, eine materialistische Interdiskurstheorie, die ein Korrektiv sowohl des historischen Materialismus als auch der Idealisierung der Sprachstruktur sein will, verkannt. Einerseits wird PÊCHEUX als Ideologietheoretiker wahrgenommen, ohne seine epistemologischen und methodischen Beiträge zur Diskursanalyse damit in Verbindung zu bringen, andererseits wird er als Diskurstheoretiker mit dem "gescheiterten" Versuch der Automatisierung der Diskursanalyse in Verbindung gebracht. Seine weiterführenden, auch von der ADA 69 abrückenden Arbeiten bleiben dabei unbeachtet. Die ADA 69 sollte eher begriffen werden als eine Station in dem Projekt, eine kontrollierte Form des "Lesens" von Diskursstrukturen zu entwickeln (siehe dafür die Beiträge in dem Sammelband von HAK und HELSLOOT 1995). Was die Weiterentwicklung der Interdiskurstheorie nach der ADA 69 angeht, so ist das Potential seiner Arbeiten für eine sozialwissenschaftliche Diskursanalyse noch nicht ausgeschöpft. [65]
Seit Ende der 1960er Jahre kann man in Frankreich von einer sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse sprechen. Nach ersten Anfängen in den 1980er Jahren, bildet sich seit spätestens Anfang der 1990er Jahre dann auch in Deutschland ein wahrnehmbares Feld der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse aus und seit Mitte der 1990er Jahre findet die Etablierung der Diskursanalyse in der deutschen (qualitativen) Sozialforschung statt. Die soziologische Integrationsperspektive, die sich in der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung abzeichnet, ist zum einen die der Erweiterung des diskurstheoretischen Ansatzes um soziologische Theorien: Wissenssoziologie und/oder strukturtheoretische Sozialtheorien (BOURDIEU, GIDDENS). Zum zweiten wird die Intensivierung der empirisch-praktischen Umsetzung der Diskurstheorien verfolgt, allerdings unter Zuhilfenahme von Techniken aus dem Arsenal der Methodologien qualitativer Sozialforschung. Hier ist die Grounded Theory bislang die am weitesten mit der Diskursanalyse vermittelte Methodologie. Aus diskursanalytischer Sicht geht es dabei um die kritische Inspektion und Revidierung der der Grounded Theory unterliegenden Theorie des Symbolischen Interaktionismus, so dass dann die Techniken der Grounded Theory, die als für die Diskursanalyse adaptierbar befunden wurden, zu diskursanalytischen Techniken werden. [66]
1) Ich danke Reiner KELLER für die vertrauensvolle Überlassung des Manuskripts. <zurück>
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Rainer DIAZ-BONE, geb. 1966, Dr. phil., Dipl. Soz.-Wiss., 1991 bis 1996 Studium der Sozialwissenschaft (Schwerpunkt: angewandte Sozialforschung) an der Ruhr-Universität Bochum, von 1996 bis 2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (Hochschule für Musik und Theater Hannover), seit 2002 Wiss. Assistent am Institut für Soziologie (FU Berlin) in der Abteilung Methodenlehre und Statistik. Forschungsschwerpunkte: angewandte Diskursanalyse, empirische Kultur- und Sozialstrukturanalyse, Methoden der empirischen Sozialforschung, Wissenschaftstheorie, sozialwissenschaftliche Statistik und Netzwerkanalyse.
Kontakt:
Dr. Rainer Diaz-Bone
Institut für Soziologie
Freie Universität Berlin
Garystraße 55
D-14195 Berlin
Tel.: 030-838-57620
E-Mail: diazbone@zedat.fu-berlin.de
URL: http://www.rainer-diaz-bone.de
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Revised 6/2008