Volume 4, No. 3, Art. 4 – September 2003
Rezension:
Matthias Otten
Helga Kotthoff (Hrsg.) (2002). Kultur(en) im Gespräch. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 352 Seiten, ISBN 3-8233-5713-1, EUR 39,00
Zusammenfassung: Viele theoretische und empirische Untersuchungen zur interkulturellen Kommunikation entstehen in Deutschland häufig an den disziplinären Grenzflächen zwischen Sprachwissenschaften, Soziologie, Ethnologie, Pädagogik oder Psychologie. Hier lässt sich auch der interdisziplinäre Band "Kultur(en) im Gespräch" verorten, in dem anhand exemplarischer Gesprächsanalysen in und zwischen Kulturen theoretische Konzepte und methodische Zugänge aus der Soziolinguistik und der linguistischen Anthropologie vorgestellt werden. Besondere Aufmerksamkeit wird der Methodenreflexion gewidmet, aus der sich wertvolle Anregungen für die qualitative interkulturelle Diskurs- und Gesprächsforschung gewinnen lassen.
Keywords: Interkulturelle Kommunikation, Gesprächsforschung, Konversationsanalyse, Soziolinguistik, Linguistische Anthropologie
Inhaltsverzeichnis
1. Das weite Feld der interkulturellen Gesprächsforschung
2. Konversationelle (Fremd-) Kulturen
3. Vom Umgang mit Wissens-, Handlungs- und Interpretationsdifferenzen
4. Resümee
1. Das weite Feld der interkulturellen Gesprächsforschung
"Kultur(en) im Gespräch" ist als Band 14 im Auftrag des an der Universität Konstanz angesiedelten und zum 31.12.2002 beendeten Sonderforschungsbereiches 511 "Literatur und Anthropologie" entstanden. Im Antragstext auf der Homepage des SFB 511 wird das allgemeine Forschungsfeld der Kulturanthropologie (cultural anthropology), in das sich auch KOTTHOFFs Band einreiht, folgendermaßen charakterisiert:
"Cultural anthropology ist [...] als Sammelbegriff für eine Vielzahl von Fächer-, Gegenstands- und Methodenorientierungen zu verstehen und generiert deshalb noch kein Konzept für den Zusammenhang dieser Vielfalt. 'Cultural anthropology' ist vielmehr repräsentativ für einen Wissenschaftspluralismus, in dem die historisch kontingente fachwissenschaftliche Ausdifferenzierung und die wissenschaftstheoretische Reflexion dieses Befundes nebeneinander stehen." [1]
Angesichts der programmatischen Offenheit würde ein einführender "Abriss" des Forschungsstandes zur interkulturellen Gesprächsanalyse1) bald in einer begriffstheoretischen Atomisierung enden. Stattdessen werde ich gemeinsame Grundlinien der Aufsätze des Bandes aufzeigen, um dann anhand von einigen ausgewählten Beiträgen methodische und inhaltliche Anregungen näher zu erläutern. Es sei ausdrücklich betont, dass damit keineswegs eine Bewertung der hier aus Platzgründen kürzer besprochenen Beiträge verbunden ist. [2]
Helga KOTTHOFF macht in der Einleitung des von ihr editierten Bandes "Kultur(en) im Gespräch" auf die intendierte Mehrdeutigkeit des Buchtitels aufmerksam. Zum einen geht es um die Analyse interkultureller interpersonaler Gesprächssituationen, in denen Menschen vor dem Hintergrund ihrer (verschiedenen) Kulturen miteinander im Gespräch sind. Interkulturelle Kommunikation wird als Form von "interdiscourse communication" (SCOLLON & SCOLLON 2002) behandelt, die sich zunächst den Diskursstrukturen und erst im zweitem Schritt der Kultur zuwendet. Die zweite Konnotation des Titels deutet hingegen auf die konstitutionstheoretische Dimension hin, die danach fragt, wie Kultur als soziales Konstrukt im Gespräch geschaffen wird. [3]
Die zehn Einzelbeiträge entfalten dazu ein breites Spektrum an unterschiedlichen diskurs- und sprachtheoretischen sowie methodischen Perspektiven aus Sprachwissenschaft, Soziologie und Ethnologie. Allen Beiträgen gemeinsam ist die interaktionistische Perspektive, die Kultur als kommunikatives Konstrukt behandelt und Anleihen bei GOFFMAN, SCHÜTZ, GUMPERTZ und GEERTZ nimmt. In methodischer Hinsicht sind die Beiträge mehr oder weniger explizit der interaktionalen Soziolinguistik und der linguistischen Anthropologie verpflichtet und die Autorinnen und Autoren widmen dem historischen und situativen Kontext besondere Aufmerksamkeit. Die Betonung der sozialen Kontextualität einerseits und die Wahl "kleiner" Gesprächsereignisse als Ausgangspunkt der detaillierten Analyse andererseits stehen in einer jüngeren Tradition der Wissens- und Sprachsoziologie, die zwischen "sprachtheoretischer Armut der Gesellschaftstheorie" und "gesellschaftstheoretischer Verflachung der Spezialdisziplinen" (LUCKMANN 2002, S.160) nach Alternativen sucht. Diesen Gefahren begegnet der Band durch unterschiedliche beitragende Disziplinen und einem konzeptionellen Gesamtrahmen, der die "Analyse kleiner Formate" (S.21) in "größeren" sozialen Sinn- und Deutungsstrukturen wie Macht- und Moralvorstellungen, Habitualisierungen oder kultureller Zugehörigkeit zu situieren weiß. [4]
Alle Beiträge folgen einem ähnlichen Grundaufbau. Nach einem theoretischen Abschnitt zu der jeweils behandelten Grundthematik (z.B. Kommunikation von Zugehörigkeit, Trauer und Leid, Wissensasymmetrien, Fremdheitsdiskurse in politischen Talkshows, Stereotype im Erstkontakt) geben alle Autorinnen und Autoren exemplarische Einblicke in ihr Material und demonstrieren anhand von Beispielanalysen Vorzüge und Grenzen der jeweils gewählten gesprächsanalytischen Methoden. In einigen Beiträgen (z.B. HAUSENDORF, TEN THIJE, GÜNTHNER & LUCKMANN) stehen methodologische Überlegungen im Mittelpunkt, während andere (z.B. KOTTHOFF, BERKENBUSCH, KISTLER) insbesondere auf konkrete Verfahrensfragen zur Datenanalyse eingehen. Die ähnliche Grundstruktur der Beiträge erleichtert den argumentativen Nachvollzug und das Erkennen der jeweiligen Besonderheiten unterschiedlicher methodischer Zugänge (z.B. funktional-pragmatische Methode bei TEN THIJE, medienspezifische Diskursanalyse in Anlehnung an die Cultural Studies bei THOMAS, ethnomethodologische Konversationsanalyse bei HAUSENDORF oder deren Kombination mit anderen Methoden bei BERKENBUSCH). Es zeigt sich, dass Einzelmethoden (wie z.B. die ethnomethodologische Konversationsanalyse) gerade in der Verbindung mit anderen Zugängen wie der Soziolinguistik oder Diskursanalyse Einblicke in übergeordnete kulturelle Sinnstrukturen erlauben, in die interkulturelle Gesprächssequenzen eingebettet sind. [5]
2. Konversationelle (Fremd-) Kulturen
Im ersten Teil widmen sich fünf Autorinnen und Autoren (HAUSENDORF, TEN THIJE, KOTTHOFF, THOMAS und MÜLLER) unter der Überschrift "Konversationelle (Fremd) Kulturen" dem "Konstitutionsprozess von Kulturhaftigkeit" (S.13). Anhand verschiedener Gesprächsbeispiele geht es um die Klärung, unter welchen Bedingungen ein bestimmtes kommunikatives Geschehen, die darin zu beobachtenden Interaktionsmuster und zuweilen auch die Kommunikationsprobleme der unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeit der Beteiligten "angelastet" werden können. [6]
Im ersten Beitrag zeigt Heiko HAUSENDORF anhand von vier unterschiedlichen Einzelbeispielen – ein Gespräch an einem Bücherstand zwischen einem Ost- und einem Westdeutschen, ein Interview mit einem westdeutschen Bildungsreferenten über seine Tätigkeit in den ostdeutschen Bundesländern zu Beginn der 90er Jahre, die Zugehörigkeit zu einem Fußballverein sowie einem Textauszug aus MALINOWSKIs "Argonauten des westlichen Pazifik" –, wie Zugehörigkeit und Mitgliedschaft nicht als vorgängige soziale Kategorien vorausgesetzt werden können, sondern sich im Gespräch (bzw. im Text) konstituieren. Das in der Kommunikation zu lösende Problem der Klassifizierung, Mitgliedschaft und der Abgrenzung von Eigenem und Fremdem wird im Anschluss an die Konversationsanalyse nach SACKS (1992, siehe dazu auch den FQS Beitrag von TEN HAVE 2002) in konversationelle Aufgaben, Mittel und Formen der Mitgliedschaftsbestimmung gegliedert. Der Beitrag hat seine Stärken m.E. weniger in der Feststellung der konversationellen Herstellung von Fremdheit und Zugehörigkeit, auf die auch andere schon hingewiesen haben (so z.B. BERGMANN 2001, HAHN 1994, SCHERR 1999), sondern vor allem in der klaren Nachvollziehbarkeit der methodischen Analyseschritte, mit denen unterschiedliche Teilfunktionen der Fremdheitskonstruktion in Gesprächsmitschnitten nachgezeichnet werden können. [7]
Auch Jan TEN THIJE legt bei seinem Vorschlag eines gestuften Interpretationsverfahrens für interkulturelle Diskurse den Fokus auf methodische Überlegungen. Anhand einer kurzen Gesprächssequenz zwischen niederländischen und surinamesisch-niederländischen Pädagoginnen und Pädagogen wird aufgezeigt, wie aus einem Muster von Sprechhandlungen eine "Interkultur" entsteht. "Eine diskursive Interkultur verschafft einem multikulturellen Kollektiv einen common ground, eine gemeinsame Basis, die ihre interkulturelle Kommunikation ermöglicht und letztlich befördert" (S.67). Um dieser Interkultur auf die Spur zu kommen, untergliedert TEN THIJE den Forschungsprozess in 21 Teilschritte, die jedoch nicht linear, sondern iterativ diskutiert werden. Auch wenn letzteres wohl der Natur des praktischen Forschungsgangs entsprechen dürfte, wäre eine Zusammenstellung der Schritte "auf einen Blick" für den Aufsatz hilfreich gewesen, zumal er in der Absicht einer forschungspraktischen methodischen Wegweisung präsentiert wird. [8]
Auf die drei folgenden Einzelbeiträge des ersten Teils gehe ich hier nur kurz ein: Helga KOTTHOFF untersucht die Kommunikation von Gefühlen in georgischen Trauerritualen, die sich stark von westeuropäischen Praktiken unterscheiden und ein größeres Spektrum an kultur- und kontextspezifischen Gefühlsvariationen ermöglichen. Die Konstruktion und Inszenierung nationaler Selbst- und Fremdbilder in politischen Talkshows im Zusammenhang mit der Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland ist Gegenstand des Beitrags von Tanja THOMAS. Andreas P. MÜLLER analysiert mit dem Konzept der Organisationskultur die Kommunikation in und zwischen französischen und spanischen Unternehmen und geht den Kommunikationsstilen in verschiedenen Teilgruppen der Unternehmen nach. [9]
3. Vom Umgang mit Wissens-, Handlungs- und Interpretationsdifferenzen
Im zweiten Teil widmen sich fünf weitere Beiträge von GÜNTHNER & LUCKMANN, KEIM, BERKENBUSCH, BIRKNER und KISTLER dem Umgang mit Wissens-, Handlungs- und Interpretationsdifferenzen. Der kulturvergleichende Akzent des zweiten Teils wird von methodischer Skepsis gegenüber nationalkulturellen Differenzen als zwingendem Anlass für Kommunikationshürden begleitet. Die Autorinnen und Autoren zeigen vielmehr, dass in der interkulturellen Begegnung Differenz zuerst kommunikativ und interaktiv her- und festgestellt werden muss, um dann von den Beteiligten im weiteren Gesprächsverlauf berücksichtigt zu werden – oder eben auch nicht. [10]
Hervorheben möchte ich hier zum einen den Beitrag von Susanne GÜNTHNER und Thomas LUCKMANN, der sich mit Wissensasymmetrien befasst. Ausgehend vom Prinzip der "Reziprozität der Perspektiven" (SCHÜTZ & LUCKMANN 1979, 1984) wird dargestellt, wie das asymmetrisch verteilte Wissen um den Einsatz und die situative Verwendung unterschiedlicher "Kommunikativer Gattungen"2) zu Kommunikationshemmnissen führen kann. GÜNTHNER und LUCKMANN zeigen, dass das Wissen der am Gespräch Beteiligten über "opportune Musterlösungen" in Form kommunikativer Gattungen eine wichtige Ressource für den Erfolg oder Misserfolg interkultureller Kommunikation darstellt. [11]
Inken KEIM demonstriert an einem eigenen interkulturellen Erlebnis aus einer persönlichen Begegnung mit einer polnischen Dozentin und einem polnischen Dozenten an einer polnischen Hochschule, dass "Stereotypenkommunikation" nicht immer problematisch für die Interaktion sein muss. Stereotype stellen relativ grob vereinfachte Zuschreibungspraktiken dar, die alltagssprachlich oftmals als kritikwürdig behandelt und in die Nähe von Vorurteilen gerückt werden. Als notwendige soziale Typisierung sind sie gleichzeitig unausweichlich. Gerade die soziale Kategorisierung mittels offenkundiger Stereotype eröffnet in der Lesart von KEIM über Humor und Spaß Gesprächsressourcen, die dem interkulturellen Beziehungsaufbau und -spiel zugute kommen. Das setzt allerdings voraus, dass auf der interaktionalen Metaebene eine implizite Verständigung über die Verwendung von spieltauglichen Stereotypen erreicht wird. [12]
Gabriele BERKENBUSCH beschäftigt sich mit der Hörerbeteiligung an katalanischen Radiosendungen und zeigt, dass ohne Einbeziehung weiterer Kontextinformationen der Verlauf und die Dynamik des (Radio-) Gesprächs (z.B. längere Pausen, Code-Switchings etc.) gar nicht nachvollziehbar sind. In diesem Beitrag wird exemplarisch gut erkennbar, was für die meisten anderen Texte des Bandes auch gilt: Häufig lässt sich erst über ein hohes Maß an kulturellem Kontextwissen seitens der Forschenden ein Zugang zu den interkulturell relevanten Besonderheiten bzw. Unterschieden finden. Diese zeigen sich weniger in expliziten Themen und Inhalten der Gespräche, sondern an den konversationalen Nebenplätzen, die als "rich points" (AGAR 1994)3) Aufmerksamkeit auf sich ziehen und interpretierend weiter bearbeitet werden können. [13]
Karin BIRKNER untersucht die Interaktion von Ost- und Westdeutschen in Bewerbungsgesprächen und vermag anhand dieses Beispiels zu zeigen, wie das von GÜNTHNER und LUCKMANN diskutierte kommunikative Gattungswissen (hier konkretisiert über die Frage nach angemessener Selbstdarstellung und Selbstlobvermeidung) dazu führt, dass ost- und westdeutsche Bewerberinnen unterschiedliche Vorstellungen davon entwickeln, was in einem Bewerbungsgespräch normalerweise erwartet wird. So wird zum Beispiel die Vermeidung von Selbstlob über die Reproduktion von Aussagen Dritter über sich selbst durch die westdeutschen Interviewer als eine Form "ostspezifischer" Antwortverweigerung bewertet und nicht etwa als Ausdruck kultureller Gattungsasymmetrie. [14]
Der letzte Beitrag von Peter KISTLER problematisiert Irritationen, die sich in der Interaktion eines Deutschen mit seinem indonesischen Gastgeber (beide sind Dozenten an einer Hochschule) ergeben, als beide auf unterschiedliche Weise und ungleichzeitig versuchen, die Besuchssituation zu (in-) formalisieren. Angebotene Getränke und Speisen werden von dem deutschen Gast mehrfach höflich abgelehnt, der dadurch Versuche des indonesischen Kollegen zur Bestätigung von Status und Rang als "positionale Identität" (S.335) durchkreuzt. Eine divergente interaktionale Situationsinterpretation und die Bedeutung des Gastgetränkes – nicht etwa nationalkulturelle Wertvorstellungen – bilden somit den Anlass zur Problematisierung der Beziehungskonstellation. [15]
Was diesen Band besonders auszeichnet, ist die durchgehend kritische Perspektive gegenüber der Annahme "omnirelevanter Kommunikationsdifferenzen" (S.7) im interkulturellen Feld. Denn nicht nur für Gesprächsanalysen, sondern für jede Form interkulturellen Handelns ist es immer wieder klärungsbedürftig, wann eine sozial beobachtbare Differenz auf divergente kulturelle Hintergründe zurückgeführt werden kann. In der interkulturellen Kommunikationsforschung wie auch in der praktischen Anwendung ihrer Erkenntnisse, z.B. im Rahmen interkultureller Trainingsprogramme, ist das keineswegs selbstverständlich. Offenbar ist es verlockend einfacher, sich weiterhin an die klassischen Kulturdimensionen – z.B. von Geert HOFSTEDE (1980), Fons TROMPENAARS (1994) oder Edward T. HALL (1990) – zu halten und auf dieser Ebene nationalkulturelle Vergleiche oder ethnisch-kulturelle Kontrastierungen fortzuschreiben. Gegenüber den daraus gewonnenen empirischen Pauschalierungen, die man freilich nicht unbedingt den genannten Autoren der Dimensionen, sondern eher der oft unzureichenden Rezeption durch "Replikanten" anlasten müsste, bietet der Band von KOTTHOFF eine facettenreiche Alternative. [16]
Im Hinblick auf den interpretierenden Zugang zum Material wird in den Beiträgen nicht etwa die Position der Außenanalyse eingenommen, die zumeist unbedarfte und von den Akteuren vermutlich schon längst wieder vergessene Konversationen seziert, um nach den "wirklichen" kulturellen Unterschieden zu fahnden. Vielmehr lassen sich die Autorinnen und Autoren vor ihrem jeweiligen Hintergrund in offener Haltung auf ihr Material ein und nehmen die dort enthaltenen "rich points" zum Anlass, um der eigenen "Verwunderung" über bestimmte Gesprächssequenzen mit geschärfter Aufmerksamkeit methodisch weiter nachzugehen. Dieses Vorgehen mag auf den ersten Blick recht assoziativ klingen oder den Verdacht nähren, die Analyse sei lediglich der subjektiven und selektiven Aufmerksamkeit der Forschenden anheim gestellt.4) Aber die Autorinnen und Autoren zeigen, dass es sich hier um eine vielversprechende und wohlbegründete methodische Haltung handelt, die von theoretischen Fragen angeleitet aber eben nicht eingeengt wird. Die dezidierte Methodenreflexion zeichnet diesen Band meines Erachtens als anregende Lektüre jenseits der behandelten Spezialthemen interkultureller Gesprächsforschung aus. [17]
Der Band liefert insgesamt eine Reihe von interessanten mikroskopischen Beispielen für den "Evidenzcharakter" (BERGMANN 2001) von Kultur und dem Fremden in der alltäglichen Interaktion. Dabei wird deutlich, dass interkulturelle Kommunikation in Face-to-Face Gesprächen latente und häufig subtile (Fremd-) Verstehensprobleme mit sich bringt, die oft, aber nicht immer, zu praktischen Verständigungsproblemen führen. Die Herausgeberin gibt den Lesern in ihrem Einleitungsbeitrag (der unter http://home.ph-freiburg.de/kotthoff/texte/kulturintrod.pdf auch online verfügbar ist!) einen verständlichen und gut strukturierten Überblick zum Forschungskontext und zu den einzelnen Beiträgen des Bandes. Eine ähnliche Gesamtschau, in der die zwei unterschiedlich fokussierten Abschnitte zum Schluss wieder zueinander in Bezug gebracht werden, hätte ich mir auch am Ende des Bandes gewünscht. Solche Sonderwünsche außer acht gelassen, handelt es sich bei "Kultur(en) im Gespräch" um ein sorgfältig editiertes Werk. [18]
Empfohlen sei dieses Buch insbesondere denjenigen, die an interkultureller Kommunikation jenseits nationalkultureller Kontrastierungen und kommunikativen Problem(unter)stellungen interessiert sind. Für die eigene konversations- und gesprächsanalytische Forschung bieten die Beiträge wertvolle methodische Anregungen. Die behandelten Schlüsselthemen interkultureller Kommunikation (Stereotype, Zugehörigkeit, Gefühle, Wissen und Macht, etc.) sind darüber hinaus auch für eine allgemeine kulturwissenschaftlich interessierte Leserschaft aufschlussreich. [19]
1) Für eine verständliche allgemeine Einführung sei auf einen Online-Text über interkulturelle linguistische Kommunikationstheorien von Hartmut SCHRÖDER (Europa Universität Viadrina, Frankfurt Oder) hingewiesen: http://viadrina.euv-frankfurt-o.de/~german/vc.ling.infos.vorles.html [22.04.2003]. <zurück>
2) GÜNTHNER und LUCKMANN verstehen unter Kommunikativen Gattungen "historisch und kulturell spezifische, festgelegte Lösungen für wiederkehrende kommunikative Probleme. Sie lenken die Erwartungen der Interaktionsteilnehmer/innen bezüglich dessen, was in den vorbestimmten Situationstypen zu sagen (und zu tun) ist. Zugleich sind sie die Ablagerungen sozial relevanter kommunikativer Prozesse" (S.223). <zurück>
3) Die von AGAR als "rich points" bezeichneten Stellen sind solche Gesprächsteile, in denen etwas Überraschendes, Irritierendes, nicht ohne weiteres gleich Erklärbares "aufblitzt", das der Gesprächsanalyse als Anlass zur Verwunderung und genauerem Hinschauen dient. Reichhaltig (rich) sind diese Punkte jedoch nicht einfach deshalb, weil sie den Forscher und die Forscherin zu verwundern vermögen, sondern weil sie oft (nicht immer!) auf Aspekte hinweisen, die BOHNSACK (2000; BOHNSACK, et al. 2001) im Rahmen der Dokumentarischen Methode als "Fokussierungsmetaphern" bezeichnet. Fokussierungsmetaphern markieren Diskursstellen, in denen eine übergeordnete Orientierungsfigur in besonders interaktiver und metaphorischer Dichte aus dem Erzählfluss hervortritt. <zurück>
4) Zur grundsätzlichen Auseinandersetzung sei hier auch auf die aktuelle Diskussion zu Reflexivität und Subjektivität qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschung in den beiden FQS Themenschwerpunktausgaben 3(3) und 4(2) hingewiesen. <zurück>
Agar, Michael (1994). Language Shock. Understanding the culture of conversation. New York: Morrow.
Bergmann, Jörg (2001). Kommunikative Verfahren der Konstruktion des Fremden. In Cornelia Bohn & Herbert Willems (Hrsg.), Sinngeneratoren. Fremd- und Selbstthematisierung in soziologisch-historischer Perspektive (S.35-56). Konstanz: UVK.
Bohnsack, Ralf (2000). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. (4. Auflage). Opladen. Leske + Budrich.
Bohnsack, Ralf; Nentwig-Gesemann, Iris & Nohl, Arnd-Michael (Hrsg.) (2001). Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Opladen: Leske + Budrich.
Hahn, Alois (1994). Die soziale Konstruktion des Fremden. In Walter Sprondel (Hrsg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion (S.140-163). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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Have, Paul ten (2002). The Notion of Member is the Heart of the Matter: On the Role of Membership Knowledge in Ethnomethodological Inquiry [53 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 3(3), Art. 21. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-02/3-02tenhave-e.htm [Zugriff: 10.4.2003].
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Sacks, Harvey (1992). Lectures on Conversations. 2 Bände. Oxford: Basil Blackwell.
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Schütz, Alfred & Luckmann, Thomas (1979). Strukturen der Lebenswelt. Band 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Schütz, Alfred & Luckmann, Thomas (1984). Strukturen der Lebenswelt. Band 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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Trompenaars, Fons (1994). Riding the Waves of Culture. London: Brealey.
Matthias OTTEN, Diplom-Sozialwirt, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZAK | Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale der Universität Karlsruhe (TH). In eigenen Forschungsarbeiten beschäftigt er sich mit interkultureller Kommunikation und kulturellen Deutungsmustern in Bildungsinstitutionen, Theorien des Fremdverstehens und virtueller interkultureller Kommunikation im Internet.
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Matthias Otten
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E-Mail: Matthias.otten@zak.uni-karlsruhe.de
Otten, Matthias (2003). Rezension zu: Helga Kotthoff (Hrsg.) (2002). Kultur(en) im Gespräch [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(3), Art. 4, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs030345.
Revised 6/2008