Volume 4, No. 3, Art. 15 – September 2003

Rezension:

Tilmann Walter

Karin Flaake (2001). Körper, Sexualität und Geschlecht. Studien zur Adoleszenz junger Frauen. Gießen: Psychosozial-Verlag, 276 Seiten, ISBN 3-89806-093-4, EUR 29,90

Zusammenfassung: Die Geschlechtsreife bringt beim Menschen vielfältige Veränderungen mit sich, die in der Notwendigkeit einfließen, die Rolle eines Kindes hinter sich zu lassen und sich als erwachsene/r Mann/Frau zu konstituieren. Namentlich Geschlechtsgefühl und Sexualität müssen erlernt oder erarbeitet werden. Karin FLAAKEs eindrucksvoll geschriebenes und informatives Buch untersucht anhand von Interviews mit psychoanalytischen Methoden die Schwierigkeiten der Adoleszenz junger Frauen und zeichnet psychische Prozesse und familiäre Konflikte, die hinsichtlich der Geschlechtsreife, der Menstruation, den Veränderungen der äußeren Gestalt und dem Erwachen sexuellen Interesses entstehen, minutiös nach.

Keywords: weibliche Adoleszenz, Sexualität, qualitative Interviews, Psychoanalyse

Inhaltsverzeichnis

1. Ausgangsüberlegungen

2. Methodische Voraussetzungen

3. Körperliche Veränderungen

4. "Meine Mutter zum Beispiel, die ist ziemlich blöd" – gewandelte Beziehungen in der Pubertät

5. Kommentar: sexualisierter Kleidungsstil und nicht-sexualisiertes Verhalten junger Frauen seit den 1990ern

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Ausgangsüberlegungen

Die Geschlechtsreife bringt beim Menschen vielfältige Veränderungen mit sich, die in der Notwendigkeit kulminieren, die kindliche Rolle hinter sich zu lassen und sich als Erwachsene/r zu konstituieren. Erfahrungsgemäß ist diese Aufgabe mit einem sich länger hinziehenden und oft schmerzhaften, weil von inneren und äußeren Problemen begleitetem Prozess verknüpft. Zu den Fundamentalia humanen Daseins scheint es dabei zu gehören, dass ein Mensch sich zu einem Mann oder einer Frau entwickeln muss – Geschlechtsgefühl und Sexualität müssen erlernt oder erarbeitet werden. Karin FLAAKE untersucht mit psychoanalytischen Methoden ausgehend von zehn qualitativen Interviews die Schwierigkeiten der Adoleszenz junger Frauen. Gerade der unaufgeregte Ton des Buches macht die seelischen Konflikte der Mädchen und ihrer Familienmitglieder eindrucksvoll nachvollziehbar, denn FLAAKE verzichtet auf geschlechterpolitische Schuldzuweisungen und eine Stilisierung der Personen zu Tätern oder Opfern. Stattdessen zeichnet sie minutiös innere Konflikte und familiäre Beziehungen nach. Dies gelingt ihr auch für Leser überzeugend, die – wie der Rezensent – der Psychoanalyse nicht kritiklos gegenüberstehen. Deshalb ist das Buch sehr zur Lektüre zu empfehlen. [1]

2. Methodische Voraussetzungen

Die Materialgrundlage des Buches bilden zehn Interviews mit 13- bis 19-jährigen Mädchen und deren Müttern, Vätern bzw. Stiefvätern. Die interviewten Frauen und Männer entstammten einem westdeutschen, städtischen und sozial eher privilegierten Umfeld. Die Suche nach den unbewussten Anteilen der Äußerungen wurde über "auffällige Formulierungen, Versprecher, Widersprüchliches, Auslassungen, eine bestimmte Verknüpfung von Themen, Brüche in den Darstellungen" vorgenommen (S.239). Wesentlich für deren Deutung waren die in der "Gegenübertragung" ausgelösten Empfindungen. Hierin liegt die Gefahr, fälschlich Eigenes für Fremdes einzuschätzen, Interpretationen müssen daher "immer am Text belegbar sein" (S.240). [2]

Zwar wird im Buch eingangs betont, die psychosexuelle Reifung mit ihren "Verunsicherungen und Erschütterungen bisheriger psychischer Balancen" (S.9) beruhe nicht auf "neutralen, rein biologisch oder anatomisch zu betrachtenden Umgestaltungen", sondern sei "immer schon eingebunden in kulturelle Bedeutungszusammenhänge und damit immer schon sozial geprägt und gesellschaftlich vermittelt" (S.8). Dennoch besteht aufgrund des gewählten psychoanalytischen Instrumentariums – bzw. wegen dessen Entstehungsgeschichte unter den biologistischen Vorzeichen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts – die latente Gefahr, Begriffe wie "Familie", "Psyche" und "Sexualität" als geschichtslose Größen misszuverstehen. Dieser Gefahr entgeht das Buch nicht vollständig (siehe dazu unten Absatz 6-8). Ansatzweise wird dieser Eindruck durch ethnographische Exkurse relativiert. Interpretationen von Dichtungen zielen dann wieder sehr auf das Allgemeine ab und heben eher die vermeintlich anthropologische Dimension emotionaler Konflikte hervor. [3]

Die Arbeit entwickelt anhand der Interviews, die nicht in geschlossener Weise als "Fallgeschichten" präsentiert werden, ein bestimmtes Konzept von emotionaler Entwicklung während der Pubertät. Methodische Fragen und Voraussetzungen werden nur mit wenigen Bemerkungen gestreift (S.239f). Problematisch wirkt auch, dass das bei der Interpretation herangezogene theoretische Fundament allenfalls im (ausführlichen) Anmerkungsteil offen gelegt wird, auf dessen Lektüre daher nicht verzichtet werden sollte. [4]

3. Körperliche Veränderungen

Analysiert werden familiäre Beziehungsgeflechte, die im Sinne der Objektbeziehungstheorie rekonstruiert werden: Die befragten jungen Frauen haben nicht nur für sich selbst ihre veränderte Leiblichkeit zu verarbeiten, sondern auch ihre gewandelte Rolle und symbolische Position in der Familie. Diese Veränderungen sind "auch für Erwachsene [besonders, wie deutlich wird, für die Eltern; T.W.] mit Irritationen, Verwirrung und Konflikten verknüpft" (S.9). In wechselseitigen Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehungen spielen "Phantasien, unbewußte Wünsche und Konflikte", die nicht verbal ausgesprochen, sondern unbewusst ausagiert werden, eine besondere Rolle (S.10). Recht dramatisch wirkt sich in FLAAKEs Schilderung die "Zerstörung" bisher bestehender und leidlich stabiler Arrangements aus (S.27). Eindrucksvoll zeigt die Autorin dies am Beispiel der ersten Menstruation, die bei der Tochter zur Identifikation mit der Mutter, eher aber zur Abgrenzung gegen Besetzungen durch sie führen kann (S.28-106). Die erste Regelblutung ist als eine "Kränkung" für die Eltern von hoher symbolischer Bedeutung: Ihr Kind ist nun nicht länger ein Kind. Zugleich steht die Geschlechtsreife der Tochter für das Bewusstsein des eigenen Alterns. Sprachlosigkeit oder verstrickende Nähe (die Tochter soll bspw. nach dem Willen der Mutter "stolz" auf ihre Regelblutung sein; S.44, 57) sind "Lösungen", die diese Konflikte einer Lösung nicht wirklich näher bringen. [5]

Die Regelblutung als ein "Ereignis, das plötzlich eintritt und unübersehbar auf anstehende Veränderungen hinweist" (S.13), bleibt für Frauen für einige Jahrzehnte Alltag, und ihre Integration in das Selbst nimmt ebenfalls ihre Zeit in Anspruch. Symbolisch markiert sie das Ende "von Diffusität und Uneindeutigkeit" (S.15): Das Kind ist nun eindeutig eine Frau. FLAAKE spricht von der "narzißtischen Wunde", auf diese Weise endgültig auf ein Geschlecht festgelegt zu sein (S.17). In die gleiche Richtung wirkt das Erlebnis des Kontrollverlustes: Der Körper übernimmt nun "das Kommando". Im Ergebnis wird die Menstruation als "etwas von außen Kommendes", eine Spaltung zwischen Selbst und Menstruation erlebt (S.241). Geist und Seele sind ihr "ausgeliefert" und müssen gleichsam "nachträglich" damit fertig werden. So betrachtet, versteht FLAAKE die Subjektivation als einen aktiven Gestaltungsprozess und eine kritische Phase, in der entscheidende Grundsteine für das Gelingen der weiteren Geschlechts- und Sexualbiographie gelegt werden. [6]

Problematisch scheint dem Rezensenten von seinem kulturwissenschaftlichen Standpunkt aus die vorschnelle Verknüpfung von Menstruation mit "Sexualität" oder sexueller Lust, die von FLAAKE gemacht wird (so bspw. S.16, 24): "Sexualität" ist ein Begriff, der seit dem 19. Jahrhundert einen starken Bedeutungswandel durchgemacht hat und semantisch stets überaus vielschichtig war und ist (WALTER 2003), ein klassisches "Plastikwort", wie der Linguistik Uwe PÖRKSEN 1988 angemerkt hat. Als vermeintlicher "Grund für alles" (Michel FOUCAULT) wurde er zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Psychoanalyse instrumentalisiert. Dementsprechend scheint für FLAAKE vieles nicht näher erklärt oder begründet werden zu müssen: Für sie symbolisiert bspw. die rote Farbe des Menstruationsblutes die sexuelle Erregung (S.24), eine Metaphorik, die mit guten Gründen als kulturelle Übereinkunft hinterfragt werden sollte. In Wahrheit ist mit dem Schlagwort "Sexualität" nichts erklärt: Es kann sich auf Anatomie, Physiologie, Geschlechtsgefühl, Begehren, Lust, Beziehungsmuster, Liebe, soziale und kulturelle Kontexte beziehen – und folglich so gut wie alles meinen. An diesem Punkt sehe ich die größte Schwäche des Buches: Veränderungen innerhalb der unterschiedlichen Geburtskohorten, die einen "kulturellen Bruch" (S.57) markieren, werden aus dem Material zwar ersichtlich, aber nicht ausreichend kulturell kontextualisiert (siehe unten Abschnitt 5; vgl. auch SCHMIDT 1998, 2000). Immerhin: Das Statement – im Sinne der vermeintlichen Stabilität des Psychischen – der Autorin wirkt zwar inhaltlich nicht überzeugend, aber mit Bestimmtheit vorgebracht (S.57):

"Insofern ist die Übernahme von bei der eigenen Mutter als problematisch erlebten Verhaltensweisen gegenüber der Tochter, die für viele der von uns befragten Frauen feststellbar ist, auch Ausdruck der relativen Unbeweglichkeit innerpsychischer Bedingungen und der mit ihnen verbundenen Möglichkeiten und Grenzen im Verhältnis zu Körperlichkeit und Sexualität, die über Generationen hinweg nur langsame Veränderungsprozesse zuläßt." [7]

Zu wenig deutlich wird diese Vorstellung als Artefakt der gewählten psychoanalytischen Herangehensweise herausgestrichen. Und nicht einmal diese zwingt zu einer solchen Auffassung, sondern bietet sich auch als Gegenargument an: Nicht die vermeintliche "Natur" des Seelischen, sondern die Macht der elterlichen Aufträge und Wünsche verursacht die generationenübergreifende relative Stabilität emotionalen Verhaltens und Erlebens, wie sich bei FLAAKE an anderer Stelle andeutet (S.234):

"Dabei ist es kaum möglich, der Tochter ein positiveres Verhältnis zum Körper und zur Sexualität zu vermitteln, als es selbst bisher erlebt wurde, möglich ist jedoch eine innere Erlaubnis für die Tochter, daß sie es besser haben darf als die Mutter, eine Erlaubnis zum Unterschiedensein im Besseren." [8]

Der in dem Buch vorherrschende recht dramatische und auch pessimistische Ton wird an dieser Stelle durchbrochen: Es kann sich auch etwas positiv verändern. [9]

4. "Meine Mutter zum Beispiel, die ist ziemlich blöd" – gewandelte Beziehungen in der Pubertät

Es wird wohl niemanden ernstlich überraschen zu lesen, dass mit der Pubertät aggressive und ambivalente Gefühle einhergehen: "Meine Mutter zum Beispiel, die ist ziemlich blöd", wird eines der Mädchen zitiert (S.82). Man könnte sich sogar fragen, ob eine Pubertät, in deren Verlauf sich diese Einsicht nicht spontan einstellt, überhaupt gelingen kann. Die Verachtung der Mutter – und damit auch: der eigenen Weiblichkeit – scheint für Mädchen typisch zu sein (S.89). Umgekehrt reagieren die Mütter auf die sexuelle Reifung der Tochter unter Aktualisierung eigener ungelöster Probleme mit ihrer Frauwerdung und ihrem Frausein (S.101). [10]

Die Wertschätzung des Vaters kann dagegen stabiler bleiben (S.247, 259). Väter erleben die Geschlechtsreife als "Kränkung", als Makel an ihrer Tochter, als "Vertrauensbruch" (S.87) oder sogar als gefährlich: Indem das eigene Kind zu einem sexuellen Wesen wird, überschreitet es eine Grenze, "die mit einer Mischung aus Lust und Angst verbunden sein kann" (S.90). Der weibliche Körper ist kulturell seit langem als minderwertig und daher ohnmächtig oder aber verführerisch und deshalb übermächtig in der Phantasie von Männern präsent (S.93f; zu dem hier von FLAAKE Angedeuteten siehe kulturhistorisch FISCHER-HOMBERGER 1984). Übergriffiges Verhalten oder plötzlicher Verzicht auf körperlichen Kontakt aus angsterfüllter Abwehr gegen eigene sexuelle Impulse sind dysfunktionale Reaktionen der Väter (S.181): Solche "abrupte Distanz und verstrickende Nähe" sind für die Töchter gleichermaßen schwer zu ertragen (S.203ff). Eine sexuelle Beziehung zwischen Vater und Tochter – und finde sie nur in der Phantasie statt – verletzt ein starkes gesellschaftliches Tabu. Meist bleibt sie latent, realer Inzest – hierzu hält sich FLAAKE eng an die grundlegende psychoanalytische Studie von Mathias HIRSCH 1999 – ist noch schwieriger zu verarbeiten, nicht nur, wenn sich Mädchen dabei als hilfloses Opfer erleben müssen, sondern auch aufgrund der verstrickenden emotionalen Komponente des Missbrauchs (S.259-262). Gefühlt werden auch die Macht über den in seiner "Geilheit" hilflosen Vater und die emotionale Abwesenheit der Mutter. Hassgefühle auf beide Eltern stellen sich als Folge dieser Überforderung ein. Das elterliche Paar wird nicht als stabil und zuverlässig erlebt. Es vermittelt keinen inneren Halt. Wie bei Scheidungskindern, doch in noch stärkerem Maße, kann deshalb kein "Urvertrauen" in die Möglichkeit gelungener emotionaler und sexueller Bindungen entstehen. [11]

Während die Menstruation "privat" ist oder so gehandhabt werden kann, vollziehen sich die Veränderungen des Aussehens und der Figur sozusagen "öffentlich". Brüste wachsen langsam, und dies kann – erstaunlich zu lesen – für längere Zeit verdrängt werden (S. 109-112). Manchen männlichen Leser erstaunt es vielleicht, weiterhin zu hören, dass die Entwicklung der Brüste spontan meist als unangenehm erlebt wird und erst durch die Bewunderung oder Wertschätzung anderer Frauen, besonders aber von für begehrenswert gehaltenen Jungen oder Männern auch als positiv (S.112). "Brüste sind nie unschuldig" (Frigga HAUG, zit. nach FLAAKE, S.248): Sie symbolisieren metonymisch die Frau als sexuelles Wesen und markieren ihre erotische Anziehungskraft in besonderer Weise. Unter Frauen oder im Verhältnis mit der Mutter provozieren sie auch Neid und Rivalität (S.122), bei Männern womöglich ungewollte sexuelle Aufmerksamkeit. Insbesondere männliche Blicke können schmeicheln oder verletzen. Im Erleben der Männer sind nach FLAAKE oft Frauen die "Schuldigen" an sexuellen Verstrickungen (S.231f): Die Attraktivität der Frau wird von ihnen als "Naturmacht" erlebt. In der Realität bleiben für Frauen die inneren Maßstäbe ihres idealen Aussehens meist unerreichbar, was eine lebenslange Sorge um den eigenen Körper begründet (S.250 f). Bei Männern ist dasselbe Gefühl als Trend – und sicherlich in abgeschwächter Form – ebenfalls im Kommen. [12]

Männliche Wesen, mit denen Mädchen sexuell in Beziehung stehen oder zu stehen wünschen, scheinen nach FLAAKE häufig eher Phantasiegestalten zu sein (S.250), die als Erfüllungshilfen für narzisstische Wünsche imaginiert werden. Reale sexuelle Erfahrungen funktionieren als Initiation in das Erwachsenenleben und Frausein: Nach Jahrzehnten der moralischen Abwertung jugendlicher Sexualität sind die ersten sexuellen Erfahrungen Adoleszenter längst familisiert und "domestiziert" (S.137). Peers und Sexualpartner dienen als Hilfen zur Lösung aus der Herkunftsfamilie und der Kinderrolle (S.235) und rufen Ängste der Eltern wach. Besonders für Mädchen ist der erste Sex, wie neben den Interviews auch Umfragen zeigen, oft wenig lustvoll (S.145, 255): Sexuelles Interesse, sexuelle Wünsche und Befriedigung werden an das männliche Geschlecht delegiert, Sex und Lust müssen erst erlernt werden. Bei den Mädchen spielen, wie FLAAKE hervorhebt, Erfahrungen mit Selbstbefriedigung eine geringere Rolle als bei Jungen. Der Gedanke an Masturbation ruft moralische Schuldgefühle hervor, symbolisiert aber auch eine Autonomie gegenüber Eltern und Männern, die ebenfalls gefährlich wirken mag. Auch in diesem Zusammenhang werden in komplexer Weise Gefühle "verschoben" oder vertauscht: Ängste der Mutter vor ihrer eigenen Sexualität können als Sorge um die Tochter ausagiert werden. [13]

Die erste pubertäre Beziehung kann als Kompensation emotionalen Unterversorgtseins funktionieren und dann mit der radikalen Abwertung der Eltern und der Idealisierung des Partners einhergehen (S.172). In einer solchen Situation wird die nicht selbst gewünschte oder herbeigeführte Trennung zu einer echten Katastrophe. Das Scheitern der unbewussten Versuche einer Bewältigung innerer Konflikte bzw. die Nichterfüllung tiefsitzender Bedürfnisse nach einem stabilen und verlässlichen Glück, das in der Kindheit nicht erlebt wurde, wirken traumatisch. Die reale Beziehung ist für FLAAKE dabei eher sekundär. Die "erste große Liebe" funktioniert primär als ein inneres Objekt und kann subjektiv lebenslang große Bedeutung haben. Auch unter weniger dramatischen Umständen sind Teenager-Liebschaften konfliktträchtig: Das aus Kindertagen überkommene Alte muss abgelegt werden, aber ein adäquater "Ersatz ist nicht sofort zur Hand" und erweist sich oft genug als unberechenbar und brüchig (S.244). Es verwundert dabei, dass die betroffenen Mädchen allem Anschein nach nicht explizit nach ihren Erwartungen und Tagträumen hinsichtlich von Sexualität und Partnerschaft befragt wurden. Gerade von einem psychoanalytischen Buch hätte man sich erwarten können, dass solche Wünsche und Phantasie untersucht und als einflussreiche Faktoren ernst genommen werden. [14]

Leider, so fällt dem Rezensenten auf, findet sich in diesem Zusammenhang kein Wort über die psychische Aufgabe und Nöte der Jungen, die ja ebenso wenig "von Natur aus" wissen, wie man(n) es in Liebes- und Sexualdingen "richtig" macht und seiner Rolle gerecht wird. Männliche Sexualität ist eben nicht an sich simpler, weil triebhaft und aggressiv – wie FLAAKE verschiedentlich suggeriert (S.237, 254). Eine entsprechende detaillierte Studie zur männlichen Adoleszenz wäre deswegen äußerst willkommen. Auch wollen ja (junge) Männer nicht immer "bloß das Eine": Hier mangelt es der Autorin an Einsicht in die kulturelle Konstruiertheit solcher sexistischer Zuschreibungen. Manche Ergebnisse FLAAKEs lassen sich womöglich auf das männliche Pendant übertragen: Die diffizile "Balance zwischen Zulassen und Kontrolle der sexuellen Erregungen" ist für heranwachsende Männer, allem selbst- oder fremdauferlegten Machismo zum Trotz, sicherlich nicht weniger problematisch (S.151). Die Aufgabe, sexuelles Begehren und Begehrtwerden (S.171) in ein ausgeglichenes, befriedigendes und daher dann: lustvolles Verhältnis zu bringen, ist für sie eine ebenso große psychische Leistung. [15]

5. Kommentar: sexualisierter Kleidungsstil und nicht-sexualisiertes Verhalten junger Frauen seit den 1990ern

Im Anmerkungsteil (der ohnehin viele methodische und theoretische Mitteilungen enthält, die im Kontext der Interviews nur angedeutet werden, für das Verständnis aber wesentlich sind) versteckt FLAAKE die Information, dass Mädchen niederer Bildungsschichten in besonderer Weise zur Sexualisierung ihres Verhaltens und zu einer ausgeprägten Wertschätzung des Aussehens neigen (S.250). Weibliche "Macht" in Gestalt sexueller Attraktivität diene ihnen wohl als Ausgleich für fehlende ökonomische Chancen. Dies klingt soweit einleuchtend: Junge Frauen leiden unter den körperlichen Veränderungen der Pubertät. Die erste Regelblutung, das Wachstum der Brüste, die Veränderungen der körperlichen Gestalt, das Erwachen ihres eigenen sexuellen Interesses an Männern sowie das männliche Interesse an ihnen verwirren sie, erfüllen sie nach einiger Zeit aber auch mit Stolz. Einige Beobachtungen seien als Anregung zum Weiterdenken angefügt und scheinen mir im Hinblick auf die jüngste Geschichte der Sexualität von Interesse zu sein (vgl. dazu auch SIGUSCH 2000): Für jede/n ersichtlich, hat sich während des letzten Jahrzehnts unter weiblichen Teenagern ein Kleidungsstil durchgesetzt, der in hohem Maße sexualisiert genannt werden kann: Im Sommer enden Röcke oder Shorts knapp unterhalb der Pobacken, Beine, Taille und Bauch, Oberarme, Schultern, oberer Rücken und Brustansatz werden nackt getragen, die Unterwäsche wird sichtbar, der Busen kann mittels Push-Ups noch zusätzlich in Szene gesetzt werden. Gelegentlich muss man mit ansehen, wie mit erstaunlicher Leidensfähigkeit die Bauch- und Hüftregion sogar bei winterlichen Minusgraden unbedeckt gelassen wird. Kältegefühle oder Nieren- und Blasenbeschwerden scheinen die Mädchen (noch) nicht zu kennen. Folgt man der älteren feministischen Interpretation – etwa bei Simone de BEAUVOIR – dann liegt der Sex dabei im Auge des männlichen Betrachters (S.248). Fragen muss man sich aber schon: Weshalb kommen die Mädchen und Frauen dem so offensiv – und selbstbewusst – entgegen? Kaum überzeugend wirkt für mich die Vorstellung, männliche Modeverantwortliche zwängen sie dazu. Von wesentlicherer Bedeutung dürfte daher der weibliche narzisstische Wunsch sein, der die "imaginierten Blicke" des anderen Geschlechts innerlich vorwegnimmt (S.114). Spiegel, reale wie menschliche, beschreibt FLAAKE als Hilfsmittel der Selbstfindung und der Etablierung eines Selbstwertgefühls in der Pubertät (S.70). [16]

In Kleidungsfragen sind Frauen viel eher (Konsum-) Subjekte als Objekte. Da die Push-Up-Generation inzwischen an den Universitäten angekommen ist, bietet sich hier die teilnehmende Beobachtung in sexualis an.1) Dabei wirkt das geschilderte textile Phänomen auf mich eher wie eine Demonstration weiblichen Selbstbewusstseins, das dort ansetzt, wo vor einigen Jahren dasselbe noch durch den ostentativen Verzicht auf Büstenhalter und Achselenthaarung demonstriert werden sollte. Vermuten möchte ich, dass auch dabei (siehe oben Abschnitt 15) das Ziel verfolgt wird, frühzeitig zusätzliche soziale Chancen zu akkumulieren. Als Dozent bin ich heute ungewollt über Figur, Bräunungsgrad, Piercings, Tätowierungen und Unterwäsche meiner Studentinnen zumeist informiert. Ihre intellektuellen Leistungen schmälert diese Zurschaustellung nicht, sie sind wie überall sonst: mal größer, mal kleiner. In der "Gegenübertragung" erlebe ich das Verhalten dieser jungen Frauen nicht als verführerisch und registriere keine Ansätze zum Flirt. In Sprechstunden stellt sich in der Regel eine sachliche und damit situationsangemessene Gesprächsatmosphäre ein. Sie bieten auch Gelegenheit, Näheres über die Vorstellungen, Wünsche und das Selbstverständnis der jungen Frauen zu erfahren. Anders als die Kein-BH-Generation berichten meine Studentinnen spontan nicht über Erfahrungen von "Diskriminierung als Frau" während der Schulzeit oder an der Universität, die als demokratische Institution gelobt wird. Eher schon geben Liebesbeziehungen Anlass zum Geschlechterfrust und zu Klagen über "die Männer". Betont wird aber, selbst "gerne Frau zu sein" und auf keinen Fall mit Männern tauschen zu wollen. Massive Ängste vor "Diskriminierung" treten freilich zutage, wenn im Geiste der Versuch, die selbstauferlegte oder phantasierte Mehrfachbelastung durch erfolgreiche Karriere, gelingende Partnerschaft und Kinderwunsch zu bewältigen, evoziert wird. [17]

Da diese angstauslösenden Erlebnisse in der Lebenserfahrung der jungen Frauen nach eigener Aussage noch keine Rolle spielen, wirken ihre Ängste wie Folgen einer ideogenen weiblichen Kollektivneurose, mit der über einige Jahrzehnte hin die vermeintlich oder tatsächlich geringeren Lebenschancen mittels eines Gestus moralischer Überlegenheit kaschiert werden sollten. Die jüngere Generation hat sich von feministischen Grundsätzen ansonsten abgewandt und strebt äußerlich Vorbildern wie den Popfrauen Britney Spears, Christina Aguilera oder Shakira nach. Seit Mitte der achtziger Jahre ist dieser Teenager-Modestil, benannt nach einer anderen Queen of Pop, als das "Madonna-Phänomen" bekannt. Die Bekleidungsgewohnheiten verwirren Vertreter/innen älterer Generationen dahingehend, dass sie – entgegen dem ersten Anschein – keine eigentlich sexuelle Botschaft vermitteln sollen. Sie stehen nicht für eine libidinöse Energie, für sexuelle Wünsche oder Interesse an Verführung. Dass sich in jüngster Zeit eine Diskussion entwickelt hat, diese Mode an der Schule zu verbieten, zeugt deshalb vor allem von unterschiedlichen Bedeutungen, die innerhalb verschiedener Generationen2) der Sexualität (oder Moden, die an sie erinnern) zugeschrieben werden. [18]

Anmerkungen

1) Meine Beobachtungen sammelte ich als Dozent der Neueren Geschichte seit 1999 an den Universitäten Konstanz und St. Gallen. <zurück>

2) Kürzlich hat der Senator für Bildung und Wissenschaft der Freien Hansestadt Bremen, Willi Lemke (Jg. 1946), gegenüber der "Bild"-Zeitung bemerkt, "solche Reizwäsche" passe "vielleicht in die Disco oder in die Badeanstalt", nicht aber in die Schule, und weiterhin: "Es gibt Sexbomben an unseren Schulen, da möchte ich nicht Junglehrer sein". Sprachlich verweisen seine Äußerungen auf die moralischen und modischen Standards der 1960er und 1970er. Über eine Suche nach "Willi Lemke Kleidung" erhält man einen guten Einblick in die Debatte im Internet. <zurück>

Literatur

Fischer-Homberger, Esther (1984). Krankheit Frau. Zur Geschichte der Einbildungen. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand.

Foucault, Michel (1983). Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hirsch, Mathias (1999). Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Mißbrauchs in der Familie Gießen: Psychosozial. (Orig. 1987, Berlin: Springer).

Pörksen, Uwe (1988). Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart: Klett-Cotta.

Schmidt, Gunter (1998). Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der Sexualmoral (vollst. überarb. und erw. Neuausgabe). Reinbek: Rowohlt.

Schmidt, Gunter (Hrsg.) (2000). Kinder der sexuellen Revolution. Kontinuität und Wandel studentischer Sexualität 1966–1996. Eine empirische Untersuchung (Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 77). Gießen: Psychosozial.

Sigusch, Volkmar (1998). Die neosexuelle Revolution. Über gesellschaftliche Transformationen der Sexualität in den letzten Jahrzehnten. Psyche, 52(12), 1192-1234.

Walter, Tilmann (2003). Begrenzung und Entgrenzung. Zur Genealogie wissenschaftlicher Debatten über Sexualität. In Claudia Bruns & Tilmann Walter (Hrsg.), Von Lust und Schmerz. Eine historische Anthropologie der Sexualität (S.129-174). Köln / Weimar 2003: Böhlau.

Zum Autor

Tilmann WALTER, Studium der Geschichte und der Germanistik in Heidelberg; 1997 Promotion in Germanistik über "Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland" (Berlin, New York: de Gruyter 1998); derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Projekts "Geschichte der DFG 1920-1970" im Teilprojekt "Medizinische Forschungsförderung durch die Notgemeinschaft/DFG, 1920-1970" am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Heidelberg; Arbeitsschwerpunkte: Historische Anthropologie, Wissenschaftsgeschichte, Geschichte der Sexualität; in zurückliegenden Ausgaben von FQS finden sich weitere Rezensionen von Tilmann WALTER; zu Literarische Imagologie und historische Anthropologie der Haut, Körperbewegungen und ihre Bedeutungen, When Men Meet. Homosexuality and Modernity, Heteronormativität" sowie der Rezensionsaufsatz Körpererleben im Spannungsfeld von leiblicher Erfahrung, therapeutischer Praxis und kulturellem Kontext.

Kontakt:

Dr. phil. Tilmann Walter

Universität Heidelberg
Institut für Geschichte der Medizin
Im Neuenheimer Feld 327
D-69120 Heidelberg

E-Mail: tilmann.walter@urz.uni-heidelberg.de

Zitation

Walter, Tilmann (2003). Rezension zu: Karin Flaake (2001). Körper, Sexualität und Geschlecht. Studien zur Adoleszenz junger Frauen [18 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(3), Art. 15, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0303158.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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