Volume 4, No. 3, Art. 30 – September 2003
Den Alltag unter die Lupe genommen
Lars Allolio-Näcke
Tagungsbericht:
Alltag im Aufbruch. Ein psychologisches Profil der Gegenwartskultur. 28.-30. Mai 2003, Psychologisches Institut der Universität Köln, veranstaltet durch die Gesellschaft für Kulturpsychologie
Zusammenfassung: Die Tagung "Alltag im Aufbruch. Ein psychologisches Profil der Gegenwartskultur" beschäftigte sich mit dem Phänomen des gelebten Alltags in unserer und in anderen Kulturen. Im Unterschied zur Mainstream-Psychologie lag der Fokus der Tagung auf den kulturellen Konstruktionen von Sinn und Bedeutung als intentionalen Prozessen und wandte sich entschieden gegen jede Form der "Naturalisierung des Mentalen". Dem Alltäglichen näherten sich Beiträge aus den Themenbereichen Zeitkultur, Gefährdete Kultur, Alltagskultur, Jugendkultur, Subjektkultur und Medienkultur. Neben der Vieldeutigkeit der Interpretationen, standen auch methodische Problematiken zur Debatte, die sich darauf zurückführen lassen, dass sich die kulturellen Phänomene des Alltags einer adäquaten Operationalisierung sperren.
Keywords: Kulturpsychologie, Kultur, Zeitdiagnose, Subjektivität, Methodologie, qualitative Forschungsmethoden, quantitative Forschungsmethoden, Sinnkonstruktion, Bedeutungskonstruktion
Inhaltsverzeichnis
1. Der Konjunkturzyklus der Kulturpsychologie
2. Über das Verhältnis von Alltagspsychologie und Kulturpsychologie
2.1 Zeitkultur
2.2 Jugendkultur
2.3 Alltagskultur
2.4 Gefährdete Kultur
2.5 Subjektkultur
2.6 Medienkultur
3. Gelebte Kultur
4. Bewertung und Ausblick
1. Der Konjunkturzyklus der Kulturpsychologie
Kulturelle Inhalte und Erzeugnisse unterliegen zeitlichen Schwankungen. In der Ökonomie bezeichnet man diesen Prozess um Angebot und Nachfrage als Konjunktur- oder Schweinezyklus, wie Norbert GROEBEN (Universität Köln) in seinem Grußwort an die Teilnehmer der Tagung der Gesellschaft für Kulturpsychologie "Alltag im Aufbruch. Ein psychologisches Profil der Gegenwartskultur" vom 28. bis 30. Mai diesen Jahres in Köln erläuterte. GROEBEN versuchte mit Hilfe dieses zyklischen Bildes zu zeigen, dass die "Naturalisierung des Mentalen", die derzeit in der Psychologie und den Neuroscience dominiert, nicht selbstverständlich ist. Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Dieses angebotene Bild des Konjunkturzyklus lässt sich selbst auf die (deutsche) Kulturpsychologie rückbinden, denn im "global village" (McLUHAN & POWERS 1992) werden die Themen Sinn, Bedeutung und Kultur (erneut) virulent. [1]
Hatte schon Wilhelm WUNDT zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts erkannt, dass seine experimentelle Psychologie (1887) nicht in der Lage ist, das Emergente, Kulturelle zu fassen und ihr deshalb eine umfassende, historisch interpretative Kultur-/Völkerpsychologie zur Seite gestellt (1921), so erlebte die Kulturpsychologie eine erneute Konjunktur mit der sogenannten "Kognitiven Wende", denn diese war nichts anderes als der Versuch, Reiz-Reaktionsschemata durch Sinn und Bedeutung zu ersetzen. Wie Jerome BRUNER (1997) schreibt, scheiterte das Projekt daran, dass sich mit Hilfe der entwickelnden Computerwissenschaften nicht Sinn und Bedeutung als Grundpfeiler des psychologischen Verständnisses durchsetzten, sondern im Analogieschluss der Informationsbegriff jeglichen Bezug auf die Sinnkonstruktion des Menschen suspendierte. [2]
Schließlich erlebt die Kulturpsychologie seit Ende des vergangenen Jahrhunderts einen erneuten Konjunkturaufschwung, der als "second cognitive revolution" (HARRÉ 1992) bezeichnet wird und bis heute anhält. Hierzu haben zum einen die Rezeption Lew S. WYGOTSKIs in den USA als auch die Rezeption von Michel FOUCAULT in Großbritannien beigetragen. Mit der Fokussierung WYGOTSKIs auf die Sinnkonstruktion durch das Sprechen (1972, siehe auch PAPADOPOULOS 1999), als auch mit FOCAULTs Perspektive auf Bedeutungskonstruktionen, die sich in machtvollen Diskursen vereinen (1975, 1977), wurde erneut der Weg von Sinn und Bedeutung in die (deutsche) (Kultur-) Psychologie geebnet. Diese erneute Konjunktur lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass die Kölner Tagung in ihrer Form die größte und mit ca. 120 Teilnehmenden, davon 20 ReferentInnen, meistbesuchte in der Geschichte der Gesellschaft für Kulturpsychologie war. [3]
2. Über das Verhältnis von Alltagspsychologie und Kulturpsychologie
Laut BRUNER muss eine Kulturpsychologie, die auf intentionale Prozesse abzielt, grundsätzlich auf einer Alltagspsychologie aufsetzen, denn sie ist "die Erklärung einer Kultur für das, was den Menschen in Gang hält. Sie umfasst eine Theorie des Geistes, des eigenen und des fremden, eine Theorie der Motivation und alles übrige" (1997). Deshalb ist es auch kein Zufall, sondern Absicht, dass die Tagung der Gesellschaft für Kulturpsychologie unter dem Titel "Alltag im Aufbruch" stand und dieser Alltag unter die Lupe genommen wurde, der bisher vor allem der Anthropologie, der Linguistik, der Philosophie des Geistes und der Sprache, der Soziologie sowie den Literaturwissenschaften überlassen wurde. Dies zu korrigieren und einen psychologischen Raum zu eröffnen, war demnach auch erklärtes Ziel der Tagung, das Herbert FITZEK (Universität Köln) als Organisator der Tagung, der gleichzeitig Vorsitzender der Gesellschaft für Kulturpsychologie ist, den ReferentInnen und ZuhörerInnen mit auf den Weg gab. [4]
Jürgen STRAUB (TU Chemnitz), dessen Beitrag sich dem Themenbereich "Zeitdiagnosen" widmete, lieferte eine umfassende Analyse verschiedener (populär) wissenschaftlicher Konzepte, die sich mit der Interpretation des Alltags in unserer Gesellschaft beschäftigen. Ob Ulrich BECKs Diagnose der "Risikogesellschaft" (1986), Gerhard SCHULZEs "Erlebnisgesellschaft" (1992) oder auch SENNETTs "Flexibler Mensch" im neuen Kapitalismus (1998), so STRAUB, es handelt sich stets um den Versuch, den sich verändernden Alltag einzufangen und zu beschreiben, um somit Grundorientierungen für die Individuen zu liefern. Besonderes Augenmerk legte STRAUB dabei auf die methodische Kritik dieser Zeitdiagnosen, wie z.B. dass die Autoren ihre Diagnosen oft mittels induktiven Schließens gewinnen, d.h. vom Einzelfall auf die Gesamtheit verallgemeinern. Damit handeln sie sich das Problem ein, dass die kulturelle Vielfalt zugunsten einer kulturellen Homogenität aufgegeben und reduziert wird ebenso wie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus dem Blick gerät. In heutigen Gesellschaften trifft sich Moderne mit Postmoderne, ein Mix, der sich nicht zu Gunsten einer Seite auflösen lässt. Um diesen Problemen zu begegnen, plädierte STRAUB eher dafür, groß angelegte Massenerhebungen durchzuführen, um eine gesicherte Datenbasis für die Diagnosen zur Verfügung zu haben, die eine weitreichendere Differenzierung ermöglichen. [5]
Eben um jene differenzierte Sicht ging es auch Rainer WINTER (Universität Klagenfurt) in seinem Vortrag "Politik des Vergnügens". Mittels diskursanalytischer Verfahren richtete WINTER seinen Blick auf den Alltag, auf die kulturelle Praxis im Umgang mit Kultur und deren Erzeugnissen. Kultur wird mehr und mehr zum Erlebnis, das aufgeführt und konsumiert wird. Konsum jedoch ist ein subjektives subversives Element, das in der Lage ist, eine bestimmte dominante kulturelle Praxis zu unterlaufen, sie zu brechen. Dabei steht nicht im Zentrum der Betrachtung was konsumiert wird, sondern das wie, der spezifische Gebrauch. Unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Homogenität der Kultur wird ein unendlicher Handlungsspielraum sichtbar, der es den Subjekten ermöglicht, mit, gegen und zwischen bestehenden sozialen Strukturen zu handeln. Der Alltag selbst repräsentiert die unreduzierbare Unendlichkeit der menschlichen Handlungsmöglichkeiten, so dass sich eine Homogenisierung mittels Zeitdiagnose von selbst verbietet. Dass die bisherigen Zeitdiagnosen alles andere als umfassend sind und keine universal gültigen Modelle menschlichen Handelns darstellen, verdeutlichten Alexander KEUL und Ulrike KAMMERHOFER (Universität Salzburg) am Beispiel des "Sound of Musik" und Andreas MARLOVITS (Sporthochschule Köln) am "Snowboarding" als Ausdruck einer spezifischen Jugendkultur. Ebenso wie Zeitdiagnosen keine universelle Gültigkeit haben, brachte Werner JUNG (Universität Duisburg) in seinem Vortrag "Alltag und Ekstase" selbst das bewährte und geeichte Maß der Zeit ins Schillern. [6]
Der Jugendkultur wurde auf der Tagung ein eigener Vortragsrahmen eingeräumt, denn die Jugendkultur einer Gesellschaft ist stets als Barometer der Entwicklung und des Ausdrucks der Gesamtkultur zu verstehen. Dass wir es längst mit einer multikulturellen Realität zu tun haben, die bestimmte Vorteile aber auch Probleme mit sich bringt, verdeutlichten Elfriede BILLMANN-MAHECHA und Joachim TIEDEMANN (Universität Hannover) in ihrem Vortrag "Multikultureller Alltag an deutschen Grundschulen", in dem sie Ergebnisse der "Hannoverschen Grundschulstudie" präsentierten. Dabei stützten sich die AutorInnen sowohl auf klassische Fragebogenauswertungen als auch auf Interviews, die mittels des Ansatzes der "Grounded Theory" ausgewertet wurden. [7]
Durch ihre Analysen kamen BILLMANN-MAHECHA und TIEDEMANN zu dem Ergebnis, dass der multikulturelle Alltag in Schulen problematisch ist. So erzielen durchschnittlich Klassen, in denen keine nicht-deutschen Kinder unterrichtet werden, bessere Leistungen als Klassen, in denen auch nicht-deutsche Kinder unterrichtet werden. Mit zunehmender Anzahl nicht-deutscher Kinder sinkt auch das Gesamtleistungsniveau. Häufig liegt dies daran, dass immer mehr Erziehungsarbeit und der Spracherwerb vom Elternhaus in die Schule verlagert werden, die Lehrer dem jedoch nicht gewachsen sind, wie die präsentierten Interviewpassagen eindrucksvoll zeigten. Die daraus erwachsenden Lernbenachteiligungen von deutschen und nicht-deutschen Schülern werden jedoch im öffentlichen Raum kaum diskutiert. Auch nicht, dass nicht-deutsche Kinder häufig als problematisch eingestuft werden, da sie mehr pädagogische Arbeit bedeuten, und deshalb von Klasse zu Klasse weitergereicht werden, so dass eine Exklusion statt eine Integration des Kindes erfolgt. [8]
Ganz ähnliche Problematiken sprach auch Michael LEY (Universität Bonn) in seinem Beitrag "Alltag im Wunschformat – Über Internatserziehung im Blick der Familie". An den Interviews mit Eltern und Schülern, die sich für die Form der Internatserziehung entschlossen haben, zeigt sich durchgängig ein Muster, nach dem das Internat als "Wunschformat" für eine Korrektur elterlicher erzieherischer Defizite fungiert: das Internat als Fortsetzung von erwünschten Familienbildern. Auch hier wird die Erziehungsleistung der Eltern an eine andere Institution abgegeben, Verantwortlichkeit von sich gewiesen, um quasi ein Kind, dass allen Wünschen und gesellschaftlichen Anforderungen entspricht, zurückzuerhalten. [9]
Ganz anders näherte sich Martin HILDEBRAND-NILSHON (FU Berlin) dem Thema des Wünschens. Er präsentierte eine Reihe von internationalen Werbefilmen, die sich mit verschiedenen kulturellen Vorstellungen des Kindseins und der Eltern-Kind-Beziehung beschäftigen. Dass gleiche Marken in verschiedenen Kulturen anders beworben werden, dürfte nicht verwundern. Dass jedoch die von LENZEN (1997, S.375) postulierte Entdifferenzierung zwischen Kindern und Erwachsenen im postmodernen Werbefilm nicht stringent zu beobachten ist, sondern vielmehr traditionelle Familien und Kinderbilder transportiert werden, überraschte doch. Nicht zuletzt regte dieser Beitrag trotz aller Vorstellungen der Angleichung der Lebensverhältnisse und Interpretationsmuster, was kurz unter Globalisierung thematisiert wird, dazu an, bestehende kulturelle Interpretationsunterschiede, die trotz scheinbar gleicher Handlungsweisen und Gegenstände vorhanden sind, zu einem methodischen und methodologischen Problemthema kulturpsychologischer Grundlagenforschung zu machen. Zwar gibt es Versuche, der kulturellen Vielfalt Herr zu werden, sie so zu reduzieren, dass Vergleichsmöglichkeiten entstehen, jedoch weist schon MATTHES (1992, S.81) darauf hin, dass es sich dabei statt eines Vergleichs zumeist um eine Nostrifizierung handelt. Bei der Reduktion der kulturellen Vielfalt entsteht "ein universalisiertes 'theoretisches Konstrukt', was in der Welt der Erscheinungen auf ihre Variationen hin überprüft" wird. Dass somit ebenfalls das bisher akzeptierte Auffinden eines "funktionalen Äquivalents" erneut in Frage gestellt ist, liegt auf der Hand. [10]
Von der Werbung aus dem Kasten gelang schließlich Wolfram DOMKE und Hans-Jürgen FREICHELS (Köln) der Schritt hinein in deutsche Jugendstuben, die sich laut ihrer Analyse von Interviews ebenfalls als Kasten beschreiben lassen. Dieser hat vier die individuelle Entfaltung gewährleistende Wände, die Sicherheit, Geborgenheit, Rückzug und Distanz zur Welt garantieren. Die ganze Welt gerät in der Jugendkultur in einen Kasten, an dessen Wänden, die meist zur Einliegerwohnung bei den Eltern gehören, der jugendliche Entwicklungsdrang endet. Von hier aus managen die Jugendlichen ihr Leben, betrachten die Welt aus der Sicherheit des Kastens, ohne hinauszugehen, die Welt zu verändern, ohne sich in die Gesellschaft einzubringen und ohne an ihr aktiv teilzuhaben. Wenn die Jugend aber nicht verändert, bedeutet dies Stillstand. Trotz dieser scheinbar kulturpessimistischen Analyse zeugte doch von Witz, dass der ADAC das politische Bild dieser Jugend, wenn es denn überhaupt eines gibt, abdeckt: "Er hilft, wenn man stecken bleibt." Von den Jugendzimmern gelang schließlich Monika KRITZMÖLLER (Kempten) der Schritt in die Wohnwelt der Erwachsenen, die sich in ihrem Beitrag mit dem ästhetischen Phänomen des schönen Wohnens auseinander setzte. Mangelt es den Jugendlichen an Interesse, so kann dies für viele Erwachsene nicht behauptet werden: Hobbys, vor allem die auf das Sammeln abzielen, haben Konjunktur, wie Waltraut BELLWALD (Winterthur) am Beispiel von Sammlern von "Kaffeerahmdeckeli" erläuterte. [11]
Kultur aber ist nicht nur der Spaß, die Bewegung und die Freude, die sich im Sammeln und Einrichten ausdrückt. Zu ihr gehören auch Grenzerfahrungen, das Abseits. Auch dieses Abseits erhielt auf der Kölner Tagung seinen Platz. Ernst PLAUM und Ursula KOEPFF (Katholische Universität Eichstätt) versuchten sich anhand einer quantitativen Analyse von Einstellungswerten bei Männern und Frauen dem Thema Frauenbild und Vergewaltigung zu nähern. Ihr Ergebnis, dass sich die Einstellungen junger KFZ-Mechaniker von denen der Männer über 60 Jahren kaum unterscheiden, kann man als ein Revival überkommener Werte, als das Ausbleiben eines schichtspezifischen Wertewandels oder – wie bei PLAUM und KOEPFF – als Suche nach einer spezifischen männlichen Rollenidentität beschreiben. Dass jede dieser Interpretationen ein Fünkchen Wahrheit enthält, zeigte denn auch die sehr kontroverse Diskussion des Beitrags, die sich am Beispiel der Einstellungen zu Vergewaltigungen entzündete. Hier wurde auf, dem Thema geschuldet, sehr sensible Weise noch einmal deutlich, dass kulturpsychologisches Handeln und Interpretieren stets auch ein politischer Akt ist – das Politische als stringenter Bestandteil des Kulturellen, der nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr mitbedacht und reflektiert werden muss. [12]
Politisch sind dabei das spezifische Welt- und Menschenbild des forschenden Subjekts, die letztendlich zu einem bestimmten Erkenntnisinteresse führen. Dieses ins Auge gefasst, begleitet – wenn nicht sogar bestimmt – das Erkenntnisinteresse den gesamten Forschungsprozess und führt letztendlich zu bestimmten Interpretationen. Dass diese allgemein vorauszusetzende Annahme für jegliche psychologische Forschung besonders an brisanten Themen deutlich wird, mag nicht verwundern. Demnach müsste meines Erachtens jegliche Kulturpsychologie eine reflexive Arbeit über die eigenen Motive und Gründe an den Anfang jedes Forschungsprojekts stellen, um die spezifische Interpretation der Ergebnisse transparenter zu gestalten, wie es bereits Standpunkttheoretikerinnen wie Sandra HARDING (1994) gefordert haben. Folgt man einem solchen Weg, muss man sich auch mit den methodologischen Konsequenzen auseinandersetzen, denn einen expliziten (politischen) Standpunkt zu beziehen bedeutet, auf Neutralität und auf eine spezifische Vorstellung von Objektivität zu verzichten, was in Konsequenz heißt, auch eine andere Form des Verallgemeinerungsanspruchs anzustreben. [13]
Eben dieses Politische war nicht zuletzt auch Thema des Vortrages von Friedrich W. HEUBACH (Kunstakademie Düsseldorf), der sich unter dem Titel "Menschen Roboter Talibane" mit der (angeblich) schwindenden Differenz zwischen Mensch und Maschine beschäftigte. Auch hier ist es ein Politikum, eine Frage nach dem Welt- und Menschenbild des Forschers, ob man der Maschine Menschlichkeit zuspricht, sie ontologisiert, oder aber die Maschine als "Als ob"-Mensch betrachtet, denn dies ist letztlich nichts anderes als ein Wiederentdecken des Eigenen im Fremden, ein Projizieren des Eigenen auf das Andere und somit eine Antwort auf sich selbst. Thematisierte HEUBACH damit die Grenze zwischen Mensch und Ding, so spielte bei Yizhak AHREN (Universität Köln) eine ganz andere Grenze eine zentrale Rolle: die Grenze zwischen Leben und Tod, die er anhand der Trauerarbeit jüdischer Familien thematisierte. Dass hier eine Kultur von vielen innerhalb der Kultur angesprochen ist, zeigt die Komplexität, der sich die kulturpsychologische Forschung stellen muss, will sie adäquat menschliches Handeln und Erleben analysieren und rekonstruieren. [14]
Um dieser Komplexität zu begegnen, versuchen Kulturpsychologen, sie zu reduzieren. Ein möglicher Ansatzpunkt ist dabei nicht zuletzt das sozial eingebundene Subjekt mit seinen intentionalen Handlungen, Interpretationen und Lebensäußerungen. Dass hierbei nicht das Individuum wie in der klassischen Psychologie im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen kann, liegt auf der Hand, bedenkt man, dass "die Teilhabe des Menschen an einer Kultur und die Verwirklichung seiner mentalen Kräfte durch die Kultur" (BRUNER 1997, S.31, Herv. im Orig.) gedacht werden müssen. Genau dieser doppelten Einbindung des Subjekts in die sozialen Strukturen und kulturellen Muster waren denn auch Thema der Vorträge, die unter dem Titel "Subjektkultur" standen. Ralph SICHLER (TU Wien) stellte die provokante Frage nach der "Deformation oder Transformation des Subjekts" in der Arbeitswelt, eine Problematik, auf die bereits Richard SENNETT mit seinem "flexiblen Menschen" (1998) hingewiesen hat. [15]
Die Transformation des Subjekts war auch das Thema von Lars ALLOLIO-NÄCKE und Britta KALSCHEUER (FAU Erlangen-Nürnberg). Ausgehend von der Infragestellung zunehmender Unsicherheit der Subjekte in postmodernen gesellschaftlichen Zusammenhängen entwarfen beide ausgehend von der alltäglichen Skepsis ein an Michel FOUCAULT angelegtes Modell des "Doing Identity", dass sich auf die Übernahme eines Identitätsangebots reduzieren lässt, sondern den alltäglichen Prozess der Neudefinition des Subjekts mittels Positionierungen und dem Gebrauch der Identitätsangebote ins Auge nimmt. Wie dieser Gebrauch, der transdifferente Momente ermöglicht (siehe BREINIG & LÖSCH 2002), und damit die Veränderung gesellschaftlicher Identitätsangebote realisiert werden kann, verdeutlichten die AutorInnen anhand gelebter ostdeutscher Frauenidentitäten. Während die diskursanalytische Analyse soziologischer und psychologischer Studien zeigte, dass diese ein ostdeutsches Frauenbild transportieren, das eher dem einer gewünschten Bundesdeutschen Frauenidentität entspricht, konnte mittels Interviewpassagen gezeigt werden, dass der Alltag in Ostdeutschland nur oberflächlich betrachtet den Erkenntnissen der Studien entspricht. Zwar greifen ostdeutsche Frauen diese Identitätsangebote auf, eignen sie sich an, um eine handlungs- und anschlussfähige Position zu gewinnen, doch sie verändern diese, indem sie sie strategisch einsetzen und unter dem Deckmantel der Anpassung eigene Lebens- und Selbstkonzepte entwickeln. Eben diesem Thema, der "alltäglichen Lebensgestaltung" in Form von Bewegung und kreativem Gestalten widmete sich auch der letzte Beitrag dieses Tagungsformats von Hans-Jürgen SEEL (Fachhochschule Nürnberg). [16]
Dass die Medien mehr und mehr unseren Alltag bestimmen, sogar entscheidend prägen, ist nicht eine Debatte, die erst seit der Popularisierung des Internets geführt wird. Bereits mit der Erfindung des Buchdrucks beginnt die Auseinandersetzung mit (Massen-) Medien und ihrer Rezeption. Das vorher Einzigartige, das Singuläre wurde und wird durch die mediale und zunehmend multimediale Verbreitung vervielfacht und zum alltäglichen Phänomen. Es wird normalisiert und trivialisiert. Die Gesellschaft hat ihren Spiegel gefunden. Dies zeigten Dirk BLOTHNER am Film "Fight Club" von David FINCHER und Gloria DAHL (Köln), die sich den "paranoiden Szenarien im Film" widmete. Wird durch den Film noch eine eindeutige Referenz erkennbar und bewusst mit Fiktionalität und Realität gespielt, so lassen sich diese Merkmale nur schwer auf das Internet anwenden. So gibt es mehr und mehr "Pseudo-Dokumentationen", deren wahrhafter oder fiktionaler Gehalt für den Konsument kaum noch unterscheidbar ist. Warum dies so ist und wie diese "Pseudo-Dokumentationen" rezipiert werden, führten Margit SCHREIER, Norbert GROEBEN und Soheila OWZAR (International University Bremen/Universität Köln) aus. [17]
Da eine wissenschaftliche Reflexion des Alltags und der Gegenwartskultur erfordert, dass man diese gut kennt, hatten die TeilnehmerInnen mehrfach die Möglichkeit sich der Alltagskultur Kölns anzunähern – egal ob Herbert FITZEK den "Kölschen Abend" mit einem in rheinisch gehaltenen After-Dinner-Talk würzte, zu einer "morphologischen Kunstanalyse" (Hans-Christian HEILING) geladen oder aber der kulturhistorische Wissensdurst durch eine Altstadtführung (Matthias DÜPPENGIEßER) befriedigt wurde. [18]
Was bleibt? Einen Ausblick zu wagen, wie sich der Konjunkturzyklus der (deutschen) Kulturpsychologie fortsetzen wird. Die Hoffnung ist: Konjunktur statt Depression. Berücksichtigt man das breite Interesse an der Kölner Tagung der Gesellschaft für Kulturpsychologie und die derzeitige Entwicklung in Großbritannien, den USA und in Deutschland, so lässt sich hoffungsvoll sagen: Die Kulturpsychologie ist bereits im Aufbruch. Um diesen zu unterstützen, bedarf es einer breiten Debatte über die Fragen, die durch eine spezifische kulturpsychologische Herangehensweise (erneut) aufgeworfen werden. Diese sollte sowohl zwischen den verschiedenen kulturpsychologischen Ansätzen (Morphologische Psychologie, Diskursive, Narrative Psychologie, Handlungs- und Tätigkeitspsychologie) als auch über die Grenzen hinaus stattfinden. [19]
Wichtig dabei wäre erstens eine erneute grundsätzliche Diskussion der Fragen nach dem Verhältnis zwischen Kultur und Gesellschaft, dem Verhältnis zwischen verschiedenen Kulturen sowie deren Abgrenzung gegeneinander. Wünschenswert wäre ein ernsthafter und konsequenter Umgang mit Erkenntnisgrenzen, die klar benannt und nicht durch erkenntnistheoretische Tricks, qualitative Pseudoempirie oder statistische Zahlenspiele verschleiert oder negiert werden. Dazu gehört zuerst die Einsicht, dass die Psychologie der westlich-industrialisierten Länder selbst in ihrer Diversität nur eine Deutungsmöglichkeit von Welt ist, die wenn schon nicht machthierarchisch so zumindest vom erkenntnistheoretischen Gehalt auf gleicher Stufe mit anderen indigenen Psychologien steht. Bestimmte Abgrenzungen oder Nostrifizierungen erscheinen unter dieser Prämisse als vorerst logische Folge der Kulturgebundenheit von Forscher und den von ihm benutzten theoretischen und methodischen Mitteln. Konsequenterweise müssten bisherige Verallgemeinerungen sowie bisher anerkannte Methoden erneut hinterfragt und möglicherweise verändert, wenn nicht gar verworfen werden. Gleichzeitig wäre nach Wegen zu suchen, welche anderen Formen der Verallgemeinerung sich eignen, die kulturelle Vielfalt zu erfassen ohne sie zu Gunsten einer künstlichen Homogenität zu unterdrücken. Dies gilt sowohl für Verallgemeinerungen innerhalb eines kulturellen als auch interkulturellen Rahmens. [20]
Zweitens muss aus kulturpsychologischer Perspektive erneut eine Verständigung über den genuinen Gegenstand psychologischer Forschung im Allgemeinen geführt werden. Nimmt man die kulturpsychologischen Ansätze ernst, die die menschliche Welt grundsätzlich als eine von Sprache und Intentionalität strukturierte betrachten, so müsste man nicht mehr einem erkenntnistheoretischen Spagat leisten, den die derzeitige Mainstream-Psychologie in Form eines physio-psychologischen Parallelismus macht. Dass damit interpretative Verfahren einen anderen Stellenwert innerhalb der empirischen Forschung erhalten würden, wäre wünschenswerte Konsequenz. Hinzu kommt, dass eine an Bedeutungskonstruktionen interessierte Psychologie nur bedingt Individualpsychologie sein kann, denn Sinngebungsprozesse sind an kulturelle Bedeutungsmuster gebunden, ohne die sie nicht verständlich wären. Daraus folgt weiterhin, dass der Forscher selbst an der kulturellen Bedeutungskonstruktion teil hat und somit seine Erkenntnisse nicht nur Welt abbilden, sondern auch beeinflussend formen. [21]
Die Ergebnisse und Beiträge der erfolgreichen Kölner Tagung der Gesellschaft für Kulturpsychologie lassen sich noch in diesem Herbst nachlesen: Herbert FITZEK und Michael LEY (Hrsg.) (2003). Alltag im Aufbruch. Ein psychologisches Profil der Gegenwartskultur (Zwischenschritte 21). Gießen: psychosozial. [22]
Beck, Ulrich (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Breinig, Helmbrecht & Lösch, Klaus (2002). Introduction: Difference and Transdifference. In Helmbrecht Breinig, Jürgen Gebhardt & Klaus Lösch (Hrsg.), Multiculturalism in Contemporary Societies: Perspectives on Difference and Transdifference, Erlangen (Universitätsbund), S.11-36 (= Erlanger Forschungen: Reihe A, Geisteswissenschaften, Bd. 101).
Bruner, Jerome S. (1997). Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns. Heidelberg: Auer. (Orig. 1990: Acts of meaning. Cambridge: Harvard University Press).
Foucault, Michel (1975). Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (Orig. 1969: Archéologie du savoir. Paris)
Foucault, Michel (1977). Der Wille zum Wissen. Band 1. Frankfurt/M: Suhrkamp. (Orig. 1976: Histoire de la sexualité, I: La volonté de savoir. Editions Gallimard).
Harding, Sandra (1994). Das Geschlecht des Wissens. Frankfurt/M: Suhrkamp. (Orig. 1991: Whose Science? Whose Knowledge?: Thinking from Women's Lives. Cornell University Press).
Harré, Rom (1992). Introduction. American Behavioral Scientist 36(1), 3-8.
Lenzen, Dieter (1997). Kind. In Christoph Wulf (Hrsg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie (S.367-378). Weinheim: Beltz.
Matthes, Joachim (1992). The Operation Called "Vergleichen". In Ders. (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Soziale Welt, Sonderband 8 (S.75-99). Göttingen: Schwartz.
McLuhan, H. Marshall & Powers, Bruce R. (1992). The Global Village. Transformations in World Life and Media in the 21st Century. Oxford Univ. Press.
Papadopoulos, Dimitris (1999). Lew S. Wygotski – Werk und Wirkung. Frankfurt/M: Campus.
Schulze, Gerhard (1992). Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt/M: Campus.
Sennett, Richard (1998). Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin Verlag. (Orig. 1998: The Corrosion of Character: The Personal Consequences of Work in the New Capitalism. New York, London).
Wundt, Wilhelm (1887). Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig: Engelmann.
Wundt, Wilhelm (1921). Völkerpsychologie. 10 Bände. Leipzig: Engelmann.
Wygotski, Lew S. (1972). Denken und Sprechen. Stuttgart: S. Fischer. (russisches Orig. 1934; Neupublikation 1956. Moskau: Verlag der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der RSFSR).
Lars ALLOLIO-NÄCKE, Diplom Psychologe, geb. 1975, Studium der Psychologie an der FU Berlin 1996-2001, Gründungsmitglied der Gruppe Culture, Development & Psychology am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie der FU Berlin. Von April-September 1999 Mitarbeit im Projekt "Motivationspsychologie der Ontogenese" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, seit April 2001 Promotionsstipendiat im soziologischen Teilprojekt des von der DFG geförderten Graduiertenkollegs Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Forschungsschwerpunkte: Entwicklungspsychologie, Diskursive Psychologie, Historische Psychologie, Transformationsforschung, Identität und Subjektivität, Historische Anthropologie
Kontakt:
Lars Allolio-Näcke
Königswarterstr. 50
D-90762 Fürth
Tel.: 0911/9748857
E-Mail: julian95@gmx.de
URL: http://www.kulturhermeneutik.uni-erlangen.de/lars_de.html
Allolio-Näcke, Lars (2003). Den Alltag unter die Lupe genommen. Tagungsbericht: Alltag im Aufbruch. Ein psychologisches Profil der Gegenwartskultur [22 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(3), Art. 30, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0303309.