Volume 4, No. 2, Art. 45 – Mai 2003
Interpretationsmethodik in Psychologie und Sozialwissenschaften – neues Feld oder vergessene Traditionen?
Jochen Fahrenberg
Zusammenfassung: Die verbreitete Auffassung, dass in dem biographischen und interpretativen Paradigma ein neuer Ansatz in der Psychologie und den Sozialwissenschaften entstanden sei, wird in Frage gestellt. Diese Methodik hat in der Psychologie eine sehr lange Tradition. Vor fünfzig Jahren war sie in vielen Psychologischen Instituten in Forschung und Unterricht sogar die dominierende Methodik. In vielen dieser Verfahren, projektiven Tests, Traumdeutung, Graphologie u.a., wird heute nicht mehr ausgebildet, obwohl sie in einigen Berufsfeldern noch angewendet werden. Auch die gründliche Ausbildung in der Interview-Methodik ist eher selten geworden.
Mit diesen Verfahren scheinen jedoch auch viele der damals erarbeiteten Prinzipien und Regelsysteme der Interpretationslehre in Vergessenheit geraten zu sein, außerdem die Gründe für den Niedergang. Maßgeblich waren nicht allein die zunehmenden Zweifel an der empirischen Validität für berufspraktische Aufgaben des Assessment und der Diagnostik in der Psychologie, sondern auch der sehr hohe Aufwand für die Ausbildung und für die kompetente Anwendung dieser Verfahren.
Diese Perspektive wird an ausgewählten Themen und Methodenproblemen dargestellt und diskutiert. In diesem Kontext zeigen sich Defizite – zumindest in großen Teilen der neueren Arbeiten und Publikationen. Neben einem offenkundigen Mangel an Rückblick und Austausch zwischen den Disziplinen ist auch das Fehlen einer eingehenden und konkreten Diskussion über die Standards der empirischen Qualitätskontrolle bemerkenswert. FQS könnte auch der Ort sein, um über die universitäre Ausbildung in dieser Methodik zu sprechen
Keywords: Assessment, Ausbildung, Biographik, Interpretation, Divergenz, Reliabilität, Tiefe, Validität, Interview, latent, manifest, projektive Tests
Inhaltsverzeichnis
1. Vergessene Tradition
2. Manifester Text und latente Bedeutungen
3. Interpretationstiefe und Interpretationsdivergenz
4. Qualitativ und Quantitativ
5. Interpretationsgemeinschaft, Kontrollstudien, Qualitätskontrolle
6. Sonderstellung der psychologischen Interpretation
7. Spezielle und allgemeine Interpretationslehre
8. Anwendung und Ökonomie
9. Mangelnder interdisziplinärer Austausch und andere Defizite
10. Ausbildung
Biographische und interpretative Verfahren finden gegenwärtig in Projektgruppen und Instituten ein starkes Interesse. Diese Tendenz hat bemerkenswerte Entsprechungen in den Archiven (z.B. Archiv Deutsches Gedächtnis, Fernuniversität Hagen; Archiv für Lebenslaufforschung, Universität Bremen; Das Deutsche Tagebuch Archiv Emmendingen) und in den Regalen der Buchläden. [1]
Manche der Fach-Publikationen mit den missverständlichen Etiketten "Qualitative Sozialforschung" oder "Qualitative Psychologie" erwecken fast den Eindruck, dass diese Verfahren erst kürzlich entdeckt oder ausgearbeitet wurden. Dieser Eindruck wäre jedoch wissenschaftsgeschichtlich irreführend, denn ein genauerer Rückblick wird den gegenteiligen Befund ergeben: Vieles, was in der älteren Psychologie entwickelt und ausgiebig angewendet wurde, scheint vergessen worden zu sein. [2]
Vor 50 Jahren bildeten die biographischen Ansätze, die Interpretation projektiver Verfahren, die Traumdeutung und die Schriftdeutung den Prüfungs-Standard oder zumindest ein regelmäßiges Lehrangebot vieler Psychologischer Institute. Zu dieser intensiven Ausbildung gehörten nicht nur die Strategien und Regelsysteme spezieller Interpretationsmethoden, sondern auch die möglichen Verfahren zur Prüfung der Interpretationsgültigkeit, um die Gefahren der "hermeneutischen Beliebigkeit" zu vermeiden. [3]
Die eigentümlichen Defizite und Auslassungen der heutigen Lehr- und Handbücher dieses Gebietes sind offenkundig. Bereits die Personen- und Sachregister zeigen, welche Themen und Probleme schlichtweg ausgeklammert oder vergessen wurden (siehe Abschnitt 8). Dies gilt für die meisten deutschen und nicht minder für US-amerikanische Bücher. Fatal ist, dass auch die wesentlichen Gründe nicht mehr erinnert werden, weshalb in der praktischen Arbeit auf viele dieser breit eingeführten und zeitweilig dominierenden interpretativen Methoden wieder verzichtet wurde. Diese Auseinandersetzung ist damals primär in der psychologischen Diagnostik und in der allgemeinen Methodenlehre der Psychologie ausgetragen worden, aber diese Einsichten und diese Problemgeschichte werden auch für die Soziologie und Literaturwissenschaften wichtig bleiben. [4]
Auffällig ist weiterhin, ein wie geringes Interesse die praktische Lehr- und Lernbarkeit der Interpretationsmethodik gegenwärtig findet. Vorschläge zu curricularen Bausteinen wären ja die ersten Schritte, um die Interpretationslehre im Studienplan der Psychologie oder Soziologie verankern zu können, und dem "interpretativen Paradigma" den gebührenden Platz bereits im Grundstudium (wieder) zu gewinnen (siehe Abschnitt 10). [5]
Mit dem folgenden Diskussionsbeitrag zum Forum Qualitative Sozialforschung soll auf vergessene Traditionen und Traditionsbrüche aufmerksam gemacht werden. Dieser Beitrag ist hier nur in Gestalt von Thesen, also zugespitzt und verkürzt, möglich – mit dem Hinweis auf die ausführliche Darstellung (FAHRENBERG 2002). [6]
2. Manifester Text und latente Bedeutungen
Das Basisproblem der interpretativen Verfahren ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen dem vorliegenden Text mit seinem manifesten Inhalt und den nicht unmittelbar ersichtlichen, tieferen oder verborgenen Bedeutungen, die interpretativ erschlossen werden müssen. Latente Bedeutungen und Zusammenhänge kann es geben: in den Konnotationen von Wörtern, in den Textelementen, in den Strukturen und Themen des Textes, in den Beziehungen zwischen Text, Kontext und Benutzern, in gesellschaftlichen Bedingungen oder Abhängigkeiten der Textentstehung usw. Über das aktuell verfügbare oder leicht zugängliche Wissen hinaus sind auch nicht-erinnerliche und unbewusste Bedeutungen anzunehmen. [7]
Viele neuere Arbeiten der Text- und Inhaltsanalyse in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften befassen sich mit latenten Bedeutungen von Texten, nur selten wird jedoch das Basisproblem der Methodik methodologisch prägnant angesprochen und kaum einer der Autoren bezieht sich noch auf die analoge, aber viel ältere Auseinandersetzung über die Interpretation von manifesten und latenten Trauminhalten. Es würde sich dann zeigen, dass "latent" zwei hauptsächliche Bedeutungen haben kann: latent im Sinne von momentan nicht bewusst (nicht erinnerlich) und latent im Sinne von dynamisch-verdrängt-unbewusst. [8]
Sigmund FREUD (1900, 1937) hat – wie unterschiedlich auch die Psychoanalyse im übrigen beurteilt werden mag – in seiner "Traumdeutung" einen fundamentalen Beitrag zur allgemeinen Interpretationslehre geliefert, wie unter günstigen Bedingungen latente Inhalte durch methodisch fortgeschrittene, gemeinsame Deutearbeit und Prüfung der Konstruktionen an ihren Konsequenzen erschlossen werden können. Nun ist diese gemeinsame Deutearbeit mit dem Autor des Textes für weite Bereiche der geistes- und sozialwissenschaftlichen Text- und Inhaltsanalyse aus praktischen Gründen unmöglich. Aber ist dies ein hinreichender Grund, die latenten Bedeutungen eigentümlich zu verkürzen oder das Methodenproblem weitgehend auszuklammern? Diese methodologische Sonderstellung der Psychoanalyse (partiell auch der projektiven Tests und des vertieften psychologischen Interviews) im Vergleich zur geistes- und sozialwissenschaftlichen Text-Hermeneutik wird oft nicht gesehen. FREUD wird hier nicht mehr einschlägig zitiert. [9]
3. Interpretationstiefe und Interpretationsdivergenz
Für die Strategie der Interpretation ist es zweifellos eine zentrale Entscheidung, ob konnotative Bedeutungen verschiedener individueller und gesellschaftlicher Art und darüber hinaus auch unbewusste Motive erfasst werden sollen. Statt von verborgenen und latenten Bedeutungen zu sprechen, werden hier die Begriffe Interpretationstiefe und Interpretationsdivergenz eingeführt. [10]
Ein Text ist grundsätzlich mehrdeutig. Die Interpretation kann von den häufigen, gewöhnlichen, naheliegenden Bedeutungen zu seltenen, ungewöhnlichen, erst zu erschließenden Bedeutungen vordringen. Die Anzahl und die Vielfalt der möglichen Schritte kennzeichnen die Tiefe eines Textes. Der Interpret bzw. die Interpretationsgemeinschaft entscheiden, welche Interpretationstiefe sie als zweckmäßig, ausreichend oder erschöpfend ansehen wollen. Mit zunehmender Interpretationstiefe wird in der Regel die inhaltliche Divergenz von unabhängig gegebenen Interpretationen zunehmen und deren breite Überzeugungskraft abnehmen. Wie konvergent und intersubjektiv überzeugend kann dieser Spielraum genutzt werden und wie divergent, singulär und spekulativ sind die Ergebnisse? Divergenz und Überzeugungskraft sind nicht allgemeingültig zu bestimmen, sondern nur aus den Beurteilungen einer Bezugsgruppe und dem grundlagen- oder anwendungsbezogenen Kontext abzuleiten. [11]
Es gibt protokollierbare Schritte und Möglichkeiten empirischer Prüfungen. Die Interpreten haben einen Entscheidungsspielraum, in dem sie zwischen möglicher Tiefe und gewünschter Überzeugungskraft abwägen können. Interpretationstiefe und Interpretationsdivergenz sind Konzepte, den Prozess der Interpretation operational genauer zu kennzeichnen. Hier werden sich zahlreiche weitere Fragen anschließen. In welchem Bereich zunehmender Divergenz kann die Inhaltsanalyse noch aussichtsreich konvergent geleistet werden? Wo müssen wissenschaftliche Untersuchungen und wo müssen Anwendungen, die u.U. nachhaltige Konsequenzen für andere Personen haben, abgebrochen werden? An welchen Kriterien ist die Grenzüberschreitung abzulesen, dass die Deutung zu spekulativ, die Interpretation zur Dichtung wird? Dies muss heute – zumindest in den Anwendungsfeldern der empirischen Psychologie und Sozialwissenschaft – genauer gesagt werden können, d.h. in den Begriffen von Gütekriterien (Zuverlässigkeit und Validität in ihren verschiedenen Aspekten). Dazu gehört auch die kritische Evaluation der Ergebnisse (mit entsprechendem Appell an die fachliche Qualitätskontrolle). [12]
Bis in die Buchtitel und Projektbezeichnungen ist zur Zeit die Dichotomie "qualitativ –quantitativ" populär. Die Begriffe sind mehrdeutig und missverständlich, insbesondere wenn der Unterton mitschwingt, "qualitative" seien im Grunde "besser" als alle anderen Methoden. Nicht selten klingt auch ein Vorwurf mit, dass diese "Richtung" irgendwie benachteiligt oder durch ein anderes Wissenschaftsverständnis unterdrückt wurde. [13]
Zur Erinnerung sei angemerkt, dass auch in der universitären Psychologie die interpretativen Methoden insgesamt sehr weit verbreitet waren und in der Praxis allgemein und vielfach bis heute dominieren. Statt die vermeintliche Unterdrückung zu beklagen, wäre es fruchtbarer, nach den Gründen für den teilweisen Niedergang bzw. den Verzicht auf einige der Methoden zu diskutieren (siehe Abschnitt 5 bis 8). [14]
Die Diskussion über die zweitrangige Frage der Skalenniveaus (Nominal-, Ordinal- oder Intervall-Skalierung) überlagert auf unglückliche Weise die ungleich wichtigere Auseinandersetzung über das oben skizzierte Basisproblem der allgemeinen Interpretationslehre. Wie können zwischen Interpretationstiefe und Interpretationsdivergenz Kompromisse erreicht werden, die auch für andere Personen als den Interpreten überzeugend und darüber hinaus für die praktische Anwendung nützlich sind? Wie können in Ausbildung und Forschung Standards erreicht und eine Qualitätssicherung geleistet werden? [15]
In der Ausbildung zum Diplom-Psychologen fehlen heute die projektiven Verfahren und die Graphologie. Auch als Forschungsthemen sind sie nicht mehr aktuell. Weshalb wurde an den Universitäten nach vielen Jahrzehnten Abstand von diesen Theorien und Methoden genommen? Lag es tatsächlich an einem gemeinsamen und vollständigen Wechsel der wissenschaftstheoretischen Überzeugungen, lag es an dem unverhältnismäßig großen Zeitaufwand für die Ausbildung und Anwendung oder lag es doch an der mangelnden empirischen Gültigkeit und deshalb schwindenden Überzeugungskraft dieser Verfahren? Diese Reflektion wäre eigentlich von einer "neuen" qualitativen Psychologie zu erwarten; sie steht noch aus. [16]
5. Interpretationsgemeinschaft, Kontrollstudien, Qualitätskontrolle
In der geisteswissenschaftlichen Tradition scheint weithin akzeptiert zu sein, dass individuelle Vorverständnisse eines Textes, und – über individuelle Färbungen hinaus – auch "Schulunterschiede", Richtungen und Parteilichkeiten der Interpretation existieren. Der Prozess des Interpretierens und Verstehens ist ohne solche persönlichen und zeitgeschichtlichen Anteile kaum vorstellbar. [17]
Es gibt keine eindeutigen, "richtigen" Übersetzungen. Doch wie werden solche Voreingenommenheiten im Interpretationsprozess berücksichtigt, d.h. erkannt und kritisch einbezogen? Diese strukturelle Subjektivität psychologischer Interpretationen ist offensichtlich. Aber sie wird nur einen Teil der Interpretation beeinflussen, während für andere Teile eine intersubjektive Übereinstimmung erzielt werden kann. Die Existenz unterschiedlicher Vorverständnisse ist deshalb kein Freibrief für beliebiges Deuten und keine Rechtfertigung für spekulatives Vorgehen. [18]
Es besteht ein Kontinuum mit graduell verschiedener Ausprägung der Nachvollziehbarkeit eines Interpretationsprozesses, der methodenkritischen Reflektion und der entsprechenden Kontrollstrategien. Dies sind wesentliche Voraussetzungen der intersubjektiven Überzeugungskraft einer psychologischen Interpretation. Vergleichend ist hier unter anderem zu fragen und zu bewerten:
Inwieweit geschieht die Interpretation nach deutlichen Strategien und Regeln?
Bleibt dieser Prozess durchsichtig und nachvollziehbar?
Sind die anfänglichen Interpretationsansätze absichtlich divergent angelegt, also an heuristischen Varianten interessiert, um viele Aspekte zu bedenken und einzubeziehen?
Gibt es auch eine Systematik und eine theoretische Analyse der Diskrepanzen und der Fehler?
Wird die Überzeugungskraft der Interpretation im Kontext, im interaktiven Verfahren oder in einer Interpretationsgemeinschaft geprüft?
Oder ist das Vorgehen eher sprunghaft, in den Urteilen undurchsichtig und durch andere Interpreten nicht reproduzierbar? [19]
Diese kritischen Überlegungen werden den Geltungsanspruch einer Interpretation einschränken. [20]
Viele der aktuellen Publikationen wirken in ihren erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Ausführungen anspruchsvoll und außerordentlich abstrakt – als ob die empirischen Verfahren zur Prüfung der Ansprüche und der Erkenntnisleistungen fehlten. Dieser Sachverhalt ist vielleicht typisch für diese Methodik, welche sich Konventionen und Standardisierungen zu entziehen scheint. Der divergente Denkstil muss jedoch in der methodenkritischen Prüfung der Ergebnisse seine notwendige Begrenzung finden. Könnten wir nicht manche dieser abstrakten Überlegungen hingeben, wenn dafür einmal an einem interessanten und konkreten empirischen Projekt – nach unterschiedlichen Interpretationsstrategien und jeweils durch mehrere unabhängige Interpreten – demonstriert würde, was diese Verfahren kreativ und konvergent/divergent zu leisten vermögen? Diese unerlässliche Phase der Qualitätskontrollen steht noch bevor. [21]
Ein hervorragender Bewertungsmaßstab müsste es schließlich sein, inwieweit ein Verfahren lehr- und lernbar ist, inwieweit für Studierende geeignete Curricula entworfen wurden, Übungsmaterial zugänglich gemacht und Lehrerfahrungen mitgeteilt werden. [22]
6. Sonderstellung der psychologischen Interpretation
Die Methodik der psychologischen Interpretation hat in dreifacher Weise eine Sonderstellung: In der Regel sind außer dem zu interpretierenden Text noch andere, psychologisch wichtige Informationen über den Autor vorhanden. Im Unterschied zur konventionellen Textanalyse kann die Interpretation auch interaktiv geschehen, indem der Autor bzw. die Autorin des Textes beteiligt werden. Die psychologische Interpretation hat häufig einen berufspraktischen Zweck. [23]
Statt isolierter Texte werden häufig persönliche und soziodemographischen Daten, Interviewbefunde, Testwerte usw. vorliegen, die in einer geeigneten Phase des Interpretationsprozesses zu berücksichtigen sind. Diese Zusatzinformationen können u.U. die psychologische Interpretation erleichtern, fordern jedoch auch zum Vergleich und zur Ergebniskontrolle heraus. [24]
Der Autor bzw. die Autorin des Textes sind anwesend oder sehr oft noch erreichbar. Sie können nach Einzelheiten und nach Zusammenhängen gefragt werden. Es ist auch eine aktive Mitarbeit möglich: als Diskussion der Interpretationshypothesen oder als Konfrontation mit der entstandenen Konstruktion, die sich in der persönlichen Rückmeldung bewähren sollte. Dies war FREUDs grundlegende Neuerung. In den geisteswissenschaftlichen Disziplinen wird dies nur selten der Fall sein. Der Autor ist in der Regel nicht mehr erreichbar, er kann nichts erläutern und kann sich nicht gegen die aus seiner Sicht falschen Auslegungen wehren. Die psychologische Interpretation eines Textes kann als interaktiver Prozess gestaltet werden und bietet dann wichtige zusätzliche Möglichkeiten der Vertiefung und der methodischen Kontrolle der Interpretation. Ein Text erhält durch die komplementäre Sichtweise des Autors und durch Rückmeldungen und Synthesen wichtige neue Interpretationsebenen, die sich von anderen Kontexten grundsätzlich unterscheiden. Diese Ebenen fehlen in der typischen Methodik geisteswissenschaftlicher Interpretationen. [25]
Die psychologischen Interpretationen von Testergebnissen und von biographischen Informationen dienen häufig einem bestimmten Zweck. Es kann sich um Diagnosen, Beratungen, Begutachtungen und andere Aufgaben handeln. In diesem professionellen Kontext erhalten Interpretationen neue Dimensionen, die in den geisteswissenschaftlichen Fächern in der Regel fehlen. Es sind praktische Fragen nach dem Nutzen, nach der Qualitätskontrolle und der empirischen Bewährungskontrolle. Außerdem gibt es berufsethische und andere juristische Aspekte, Fragen nach der speziellen beruflichen Ausbildung, Kompetenz, Qualitätskontrolle, Zertifizierung und Honorierung. In diesem professionellen und juristischen Kontext erhalten die Risiken und die Konsequenzen vorschneller Interpretationen ein anderes Gewicht. [26]
7. Spezielle und allgemeine Interpretationslehre
In der Methodenlehre und Praxis der Psychologie wurde eine Reihe von Interpretationssystemen entwickelt und über viele Jahrzehnte – mit Ausläufern in die Gegenwart – praktisch angewendet: die Ausdrucksdeutung, die Schriftdeutung (Graphologie) und die projektiven Tests. Vor allem für die projektiven Tests und die Schriftinterpretation wurden Strategien und Regelsysteme sehr genau ausgearbeitet. Diese Prinzipien – von den speziellen Verfahren abstrahiert – sind auch heute von großem Interesse für eine allgemeine Interpretationslehre in der Psychologie, werden jedoch in den überwiegend kritischen Stellungnahmen zu diesen diagnostischen Verfahren kaum gewürdigt. Hier sind hervorzuheben:
das im äußeren Ablauf gut standardisierte Verfahren, um divergentes individuelles Material für formale und inhaltliche Analysen bzw. als Explorationshilfe zu erheben;
die psychologisch gezielte Konstruktion von Aufgaben mit geeignetem Aufforderungscharakter (als "Entfaltungstests");
die methodische Auseinandersetzung mit den manifesten und den latenten Aspekten im Aufforderungscharakter und in den Deutungen (wie beim Thematischem Apperzeptionstest TAT von MURRAY);
die Sensibilisierung für charakteristische Hinweise und auffällige Marker;
die Heuristiken im Umgang mit mehrdeutigem Material und widersprüchlichen Interpretationsentwürfen;
die differenzierte Berücksichtigung mehrerer Kontexte;
die Kombinatorik von Testmerkmalen mit bestimmten Gewichtungsregeln;
die Verlaufsanalyse seriell erhobener Antworten zur Beschreibung von Prozesseigenschaften;
Kontrollstrategien mit systematischer Suche nach Konvergenzen und Divergenzen sowie mit einer Überprüfung in der seriellen Auswertung. [27]
In dieser expliziten Form, in einer lehrbaren und lernbaren Weise, sind solche Methodiken in vielen anderen Bereichen der hermeneutisch-interpretativen Verfahren kaum entwickelt worden. Wer neuere Bücher über Interviewmethodik und Inhaltsanalyse liest, wird dort viele dieser Aspekte wiedererkennen, jedoch oft unvollständiger und offensichtlich ohne Kenntnis dieser älteren Tradition der Interpretationskunst. [28]
Andere interpretative Methoden werden auch heute intensiv genutzt: das psychologische Interview, die Interpretation psychologischer Testergebnisse, die biographische Methode und natürlich die Interpretation von individuellen psychologischen Befunden im Hinblick auf Assessment (Diagnostik), Beratung und Intervention. Hier gibt es zahlreiche Lehrbücher, jedoch keine Interpretationslehre in einer allgemeineren, die speziellen Methoden übergreifenden Darstellung. [29]
Alle Interpretationsverfahren sind recht zeitaufwendig. Vor allem die älteren Methoden wie die projektiven Tests und die Graphologie verlangten eine jahrelange Ausbildung, zu der heute wahrscheinlich schon aus zeitlichen Gründen und wegen des notwendigen Verzichts auf andere Themen nur sehr wenige Studenten bereit wären. Zweifellos verlangen auch die Interviewmethodik und die Biographik eine gute und zeitintensive Ausbildung. [30]
Auch die Kosten-Nutzen-Aspekte der praktischen Anwendung dürfen nicht außer acht gelassen werden. So würde ein präzise vorbereitetes halb-strukturiertes Tiefen-Interview nach WENGRAF (2001) je nach Aufgabenstellung und Gründlichkeit viele Stunden benötigen und eine gründliche psychologische Biographik im Sinne THOMAEs (1968) wird noch wesentlich mehr Zeit beanspruchen. Ein Zeitaufwand in der Größenordnung von vielen Stunden oder Tagen für eine genauere Auswertung des Materials wird in der Regel für die heutige psychologische Praxis zu lang oder sogar viel zu lang sein. Deshalb werden die meisten dieser Verfahren nur als Forschungsmethoden in Frage kommen. [31]
Diese Aufspaltung zwischen dem Forschungssektor und dem Anwendungsbereich muss gerade hier als problematisch angesehen werden. Inwieweit die Entwicklung von geeigneten Kurzformen neben detaillierten Langfassungen zweckmäßig ist, wird aber in den Darstellungen dieses Bereichs bisher – mit Ausnahme von WENGRAF (2001) – kaum diskutiert. Ohne solche pragmatische Formen für den Alltagsgebrauch ist jedoch ein Transfer in die Praxis nicht wahrscheinlich. Insofern kann auch die Kontroverse über Gegenstandsangemessenheit oder Überlegenheit des interpretativ-qualitativen Paradigmas leicht eine schiefe Sichtweise vermitteln, wenn extrem zeitaufwendige Verfahren mit den pragmatischen Kompromissen der Berufspraxis kontrastiert werden. [32]
Gründliche Inhaltsanalysen verlangen viel Zeit. Dennoch ist bemerkenswert, wie klein die Materialbasis in den meisten Publikationen bleibt. Viele Autoren bescheiden sich oft mit einer Kasuistik oder wenigen Beispielen, und versuchen gelegentlich sogar, trotz eigener Vorbehalte, generalisierende Aussagen aus nur wenigen Fällen. Wahrscheinlich existieren größere Materialbestände in den Schränken der Untersucher, welche nicht ausgewertet wurden und auch nie mehr ausgewertet werden. Dieser Aspekt ist auch für die Bewertung der computer-unterstützten Verfahren wichtig. [33]
9. Mangelnder interdisziplinärer Austausch und andere Defizite
Der Austausch zwischen verschiedenen Arbeitsrichtungen und akademischen Fächern, aber auch die Erinnerung an ältere Traditionen sind unzureichend. Die Frage nach den latenten Aspekten eines Textes bzw. der Interpretationstiefe war ein typisches Beispiel. Ein zweites ist das Schreiben über "Triangulation". Dieses Prinzip hat unter anderem Namen eine lange Vorgeschichte (multiple Operationalisierungen bzw. multimodale Strategien, u.a. bei CAMPBELL und FISKE [1959] und bei CATTELL [1957]), deren Kenntnis schneller zu einer Klärung geführt hätte – abgesehen von dem völlig irreführenden Wort Triangulation, das ja ursprünglich die exakte Vermessung eines Standortes meint und nicht etwa wechselseitige Stützung "weicher" Aussagen. In der neueren Diskussion über die Kombination von Methoden ("Integration von Hermeneutik und Empirismus") scheint die tiefergehende Diskussion über idiographische und nomothetische Ansätze kaum noch präsent zu sein. THOMAEs (1968) jahrzehntelangen und grundlegenden Arbeiten über die methodologischen Probleme, d.h. über die Kategorien biographischer Interpretation, über Typenbildung, Clusteranalyse und Generalisierung scheinen weitgehend unbekannt zu sein. [34]
Bemerkenswert ist, wie selten in den methodisch-programmatischen Ausführungen und in den Sachregistern der meisten Publikationen dieses Bereichs bestimmte Stichwörter vorkommen: Ausbildung und Training, Qualitätskontrolle, empirische Bewährung, Fehler und Missverständnis, Grenzen des Verstehens, Spekulation, Evaluation von "Kosten und Nutzen". Es ist kaum vorzustellen, dass den Autoren solche Phänomene oder Fragen in ihrer eigenen Praxis nicht begegnet sind. [35]
Die historische Perspektive dieser Diskussion ist oft viel zu kurz geraten und maßgebliche Pioniere wie FREUD, MURRAY, THOMAE oder GADAMER tauchen kaum noch auf. Wer behauptet, dass interpretierend-qualitative Methoden in der Psychologie erst heute in zunehmendem Maße beachtet würden, übersieht deren Dominanz über viele Jahrzehnte in der universitären Ausbildung und in der Berufspraxis. Diese These ist anhand von Vorlesungsverzeichnissen und Lehrbüchern bis in die 80er Jahre hinein zu belegen. [36]
Viele Publikationen zum interpretativen-qualitativen Ansatz sind als Einführungen verfasst. Auch deswegen fehlen in der Regel ausführliche Berichte über substantielle Forschungsergebnisse oder praktische Anwendungen (eine "vorbildliche" Ausnahme stellt m.E. BREUER 1996 dar). Dadurch wirken manche dieser Bücher sehr programmatisch und anspruchsvoll. Sie fordern deshalb zur kritischen Stellungnahme heraus. Die von Methodikern gelegentlich geübte, vielleicht überkritische Bewertung der "qualitativen" Verfahren rührt wohl auch daher, dass die methodischen Kontrollen unterentwickelt sind. Selbst in den wenigen Beiträgen, wo überhaupt Begriffe wie Auswertungs- und Interpretations-Übereinstimmung angesprochen werden, fehlen meist empirische Details. Ergebnisse tatsächlicher Überprüfungen werden selten mitgeteilt. Deshalb liegt der Schluss nahe, dass solche Befunde nicht verfügbar sind oder nicht wirklich interessieren. [37]
Es gibt unter dem Titel der "qualitativen Methoden" erstaunlicherweise kaum empirische Untersuchungen zur kritischen Evaluation interpretativer Verfahren und kaum eine konkrete Auseinandersetzung über die Adäquatheitsbedingungen solcher Qualitätskontrollen. Diese wären in vernünftigen Grenzen empirisch durchaus möglich und für eine Verbesserung von Regeln bzw. für die Lehr- und Lernbarkeit – wie in der Entwicklung der Testdiagnostik – geboten. Es ist ein merkwürdiger Sachverhalt, welch geringes Interesse die tatsächliche Divergenz oder Konvergenz verschiedener Interpreten und die Bedingungen solcher Unterschiede finden. Dieses Defizit ist umso auffälliger, als in diesem Bereich Kommunikation und sozialer Bezug so ausdrücklich betont werden. Die Qualitätskontrolle der "qualitativen" Verfahren ist aber unverzichtbar. [38]
Für die Verbreitung und produktive Anwendung einer Methodik gibt es einige praktisch wichtige Bedingungen. Ist das Verfahren in Prinzipien, Strategien und Regeln so gut ausgearbeitet, dass es als eine gut lehrbare und lernbare Methodik gelten kann? Hat diese Ausbildung einen festen Platz im Studienplan der Psychologie und der Sozialwissenschaften (siehe BORTZ & DÖRING 2002)? [39]
Ohne systematische Ausbildung wird eine Methodik oder ein umfassendes interpretatives Paradigma in der wissenschaftlichen Welt und Berufspraxis kaum Bestand haben können. Die Interpretationslehre muss auch gelehrt werden. Hier ist eher ein Rückschritt zu verzeichnen. Die im Diplom-Studiengang inzwischen weitgehend entfallene testpsychologische (und früher auch die graphologische) Ausbildung war ja zugleich auch ein prinzipielles Training in der allgemeinen Kompetenz zur psychologischen Interpretation. In der psychologischen Praxis werden heute, z.B. bei Interviews oder biographischen Erhebungen, wahrscheinlich sehr verkürzte Formen von inhaltsanalytischen Auswertungen und "freien" Interpretationen ad hoc vorherrschen. Es sei denn, während des Diplomstudiums wurde, zumindest für klinische Psychologen, eine adäquate und sehr eingehende methodische Ausbildung in der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Interviews vermittelt. [40]
FQS könnte auch ein Platz sein, didaktische Erfahrungen auszutauschen. Eine Chance hätten solche curricularen Vorschläge nur, wenn sie realistisch bleiben, in Hinsicht auf Zeit- und Arbeitsaufwand, nicht als Alternative zur empirisch-experimentellen Methodik, sondern z.B. als Teil der im Studienplan vorgesehenen Praktika für alle Studierenden. [41]
Wie können in ein bis zwei Veranstaltungen sowohl die Interpretationspraxis (im Verbund mit strategischem Wissen) als auch die heuristische und die kontrollierende Erfahrung in der Interpretationsgemeinschaft vermittelt werden? Wie sind (1) Übungen zur Biographik und (2) Übungen zur Inhaltsanalyse zu strukturieren? Was könnte eine aufbauende Lehrveranstaltung im zweiten Studienabschnitt enthalten und was könnten fakultative Angebote für speziell Interessierte bieten? [42]
Bortz, Jürgen & Döring, Nicola (2002). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler (3. Aufl.). Berlin: Springer.
Breuer, Franz (Hrsg.) (1996). Qualitative Psychologie. Grundlagen, Methoden und Anwendungen eines Forschungsstils. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Campbell, Donald T. & Fiske, Donald W. (1959). Convergent and discriminant validation by the multitrait-multimethod matrix. Psychological Bulletin, 54, 81-105.
Cattell, Raymond B. (1957). Personality and motivation. Structure and measurement. Yonkers-on-Hudson, NY: World Book Company.
Fahrenberg, Jochen (2002). Psychologische Interpretation. Biographien – Texte – Tests. Bern: Hans Huber.
Freud, Sigmund (1900). Die Traumdeutung. GW II/III (S.1-642). London Imago. (5. Aufl. 1973)
Freud, Sigmund (1937). Konstruktionen in der Psychoanalyse. GW XVI (S.41-56). London: Imago. (4. Aufl. 1972)
Thomae, Hans (1968). Das Individuum und seine Welt. Göttingen: Hogrefe.
Wengraf, Tom (2001). Qualitative research interviewing. Biographic, narrative and semi-structured methods. London: Sage.
Jochen FAHRENBERG ist em. Professor für Psychologie, Psychologisches Institut der Universität Freiburg. Arbeitsgebiete sind: Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung, Methodenlehre der Psychologie (einschließlich Wissenschaftstheorie und Psychologischer Anthropologie) sowie Psychophysiologie.
Kontakt:
Prof. Dr. Jochen Fahrenberg
Psychologisches Institut, Universität Freiburg
Belfortstrasse 20
D-79085 Freiburg
E-Mail: Jochen.Fahrenberg@psychologie.uni-freiburg.de
URL: http://www.psychologie.uni-freiburg.de/einrichtungen/Psychophysiologie/
Fahrenberg, Jochen (2003). Interpretationsmethodik in Psychologie und Sozialwissenschaften – neues Feld oder vergessene Traditionen? [42 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(2), Art. 45, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0302451.