Volume 4, No. 2, Art. 47 – Mai 2003

In der Geisterbahn kollektiver Identität. Lutz Niethammers Kritik einer Begriffskonjunktur

Dietmar Rost

Review Essay:

Lutz Niethammer (2000). Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek: Rowohlt. 680 Seiten, ISBN 3-499-55594-8, sFR 29,00 / EUR [D] 16,90 / EUR [A] 17,40

Zusammenfassung: NIETHAMMER bietet einen umfassenden, äußerst kritischen, vielseitigen und anregenden Blick auf die Erfolgsgeschichte des Identitätsbegriffes. Zunächst zeigt er im Werk herausragender Intellektueller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts frühe Spuren des Begriffes. Da es seinerzeit bereits um kollektive Identität ging, bestreitet NIETHAMMER die Ansicht, kollektive Identität sei nach dem Zweiten Weltkrieg aus personaler Identität abgeleitet worden. Schon in diesen frühen Varianten betrachtet er den Begriff als ein in höchst unterschiedlichen Zusammenhängen verwendetes, konnotationsreiches "Plastikwort", das mehr verhülle als begreife. Aus diesem Grunde formuliert NIETHAMMER, auch in seiner anschließenden Skizze zu Phasen der neueren Konjunktur kollektiver Identität, eine scharfe Kritik und Ablehnung des Begriffes, die allerdings zum Teil überzogen ist und nicht vollständig auf alle dargestellten Variationen des Begriffes zutrifft.

Keywords: kollektive Identität, personale Identität, Theorie, Begriffsgeschichte, Identitätspolitik, Interdisziplinarität

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Frühe Quellen kollektiver Identität

3. Die unheimliche Konjunktur

4. Alternativen zum Begriff "kollektive Identität"?

5. Diskussion

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Identität ist in den letzten Jahrzehnten zum Gegenstand einer ebenso unüberseh- wie unüberschaubaren Flut von politischen, feuilletonistischen und wissenschaftlichen Publikationen geworden. Kulturelle, ethnische, europäische, nationale, regionale, lokale, geschlechtliche, sexuelle oder klassenmäßige Identitäten und Identitätszuschreibungen werden in zahlreichen öffentlichen Debatten eingefordert, abgelehnt oder auch grundlegend kritisiert. In gleichem Maße sind sie zum Gegenstand einer sozial- und auch literaturwissenschaftlichen Forschung geworden, die sich schwerpunktmäßig um ein Verständnis von Identität als Ergebnis von Konstruktionsprozessen bemüht. [1]

Lutz NIETHAMMER versucht diese komplexe Entwicklung als Ganzes zu erfassen. Hierbei erstaunt ihn zunächst der quantitative Aspekt, der die Rede von einer Konjunktur des Themas "Identität" rechtfertigt. Seit den 1950er Jahren, so zählt er, habe sich die Anzahl deutschsprachiger Veröffentlichungen zu diesen Themen pro Jahrzehnt ungefähr verdoppelt (S.21), und international, insbesondere was den nordamerikanischen Raum betrifft, ergibt sich das gleiche Bild einer herausragenden Stellung, die das Thema Identität in jüngerer Zeit gewonnen hat. [2]

Etwas weniger offenkundig ist die zweite grundlegende Beobachtung NIETHAMMERs. Er erkennt ein deutliches Übergewicht von Thematisierungen kollektiver Identität gegenüber solchen zu individueller Identität (S.21) und wählt diese kollektive Dimension als Gegenstand seiner Untersuchung. Eine genaue Quantifizierung innerhalb der unüberschaubaren Identitätsliteratur dürfte zwar auch aufgrund der nicht selten unklaren Unterscheidung individueller und kollektiver Identitäten1) nicht unproblematisch sein, doch dass kollektive Identität in einem weiten Sinne einen großen Raum aller Thematisierungen von Identität einnimmt, kann gleichwohl kaum bestritten werden. [3]

Auf diesen Tatbestand einer unterschiedlichste Disziplinen und Handlungsfelder übergreifenden Konjunktur des Begriffes "kollektive Identität" richtet NIETHAMMER einen äußerst skeptischen Blick. Der Stellenwert seines Buches ergibt sich dabei – neben der nie verhohlenen Skepsis gegenüber dem Begriff – aus seinem interdisziplinären Ansatz an der Allgemeinheit dieses Phänomens, also am unterschiedliche Forschungsfelder übergreifenden Gebrauch des Begriffes "Identität". Es geht ihm um Aufklärung über die Geschichte dieses ebenso jungen wie attraktiven Begriffes sowie über den allgemeinen Gehalt des Begriffes "kollektive Identität". Methodisch versucht er diese Herausforderung durch zwei Strategien zu lösen. Zum einen durch eine Spurensuche nach Ursprüngen der wortwörtlichen Verwendungen des Begriffes, die sich am Vorbild eines Abrisses der semantischen Geschichte des Begriffes von GLEASON (1983) orientiert. Zum anderen durch eine Skizzierung der nach dem zweiten Weltkrieg einsetzenden Identitätskonjunktur. Diese Herangehensweise an die intellektuellen Diskurse über kollektive Identität, die während des 20. Jahrhunderts in Wissenschaft, Literatur und Publizistik geführt wurden, kann nicht beanspruchen, der großen Menge solcher in unterschiedlichsten Feldern angesiedelten Thematisierungen von Identität vollauf gerecht zu werden. Aber sie ist in der Lage, Wurzeln der Begriffsgeschichte sowie Hintergründe des Begriffsgebrauchs zu erhellen, allgemeine Züge des Begriffes zu erkennen und Phasen seiner Verwendung zu skizzieren. [4]

Die 680 Seiten seines Buchs zeugen von einem langen "Trip auf der Geisterbahn der Identität" (S.634), den NIETHAMMER in Anschluss an seine auf das Oberthema "Identität und Geschichte" reagierende Jenaer Antrittsvorlesung (NIETHAMMER 1994) absolviert hat. Schon dort beschäftigte er sich mit Thematisierungen kollektiver Identität in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, um durch Präsentation solch früher Spuren des Begriffes die "Legende" zu widerlegen, der zufolge der Identitätsbegriff nach dem Zweiten Weltkrieg in Amerika als individuelle Identität in das soziale Denken eingeführt worden und in der Folge zu unterschiedlichen Konzepten kollektiver Identität weiterentwickelt worden sei. Weiter angetrieben von seiner Vermutung, "daß alles, was in der Nachkriegszeit neu schien, seine Wurzeln in der Zeit davor hatte" (S.634), hat er diese Suche nach begriffsgeschichtlichen Spuren kollektiver Identität fortgesetzt, um im 380 Seiten umfassenden Hauptteil des vorliegenden Buches (Teil II und Anfang von Teil III) schließlich ausführliche Belege für solch frühe Ursprünge des Themas und für die Vorgängigkeit kollektiver vor individueller Identitätsproblematisierung zu präsentieren. [5]

Es geht NIETHAMMER freilich nicht nur um eine historische Perspektive auf den Begriff "Identität". Ebenso zielt er auf die scheinbare Selbstverständlichkeit eines ungenauen Begriffes, den er in vielen außer- und innerwissenschaftlichen Bereichen als entbehrlich und ersetzbar betrachtet. Insofern ist sein Buch eine Herausforderung an alle, die sich mit diesem Themenfeld beschäftigen und gewollt oder ungewollt zur hier kritisierten Identitätskonjunktur beitragen. Wenn NIETHAMMER sagt, "kollektive Identität ist eher etwas für Detektive als für Theoretiker" (S.177), dann umreißt er damit nicht nur die von ihm gewählte Methode einer Spurensuche, sondern auch die Theoriearmut, die seine Bemühungen um Identifizierung des Begriffes "kollektive Identität" diesem attestieren. Eine explizierte und auch nur halbwegs tragfähige Theorie kollektiver Identität, so sagt NIETHAMMER, habe er nicht entdecken können (S.55). [6]

Schon der einführende erste Teil präsentiert Grundzüge von NIETHAMMERs Kritik an der unheimlichen Konjunktur kollektiver Identität. In der Vagheit des Begriffes – die sich schon in der Dominanz von Tagungsbänden und dem Mangel an systematischen Abhandlungen zum Thema widerspiegele (S.26) – liege ein grundlegendes Charakteristikum des Identitätsbegriffes. Identität fungiere als ein "konnotatives Stereotyp" öffentlicher Rede, als ein über die Wissenschaft hinausgreifendes – hier übernimmt er ein Konzept von Uwe POERKSEN – "Plastikwort", dessen begrifflicher Substanzverlust durch ein Wachstum an Konnotationen kompensiert werde (S.28-34). Das Wesentliche des Begriffes, nämlich eine zugrunde liegende Vergleichsoperation, die durch Setzung von Differenz Identität konstituiert, bleibe im Begriff verborgen (S.43f). Als bloße Feststellung von "Einerleiheit" oder "Selbigkeit" eigentlich inhaltsarm, sei der Begriff durch Weihen der Tradition, der Logik und der Wissenschaft aufgewertet worden und zu einer normativen Aufladung gelangt (S.41f, 54, 413). Das Unheimliche an dieser Konjunktur erkennt NIETHAMMER nicht nur in ihrer theoretischen Armut, sondern auch in der Ausklammerung des Begriffes "kollektive Identität" aus den so verbreiteten Bemühungen um Dekonstruktion (S.17) und insbesondere in der dem Begriff inhärenten Tendenz zu Fundamentalismus und Gewalt (S.652). [7]

Im folgenden werde ich zunächst auf die Teile des Buches zu frühen Quellen (Abschnitt 2.) und zur Konjunktur des Identitätsbegriffes (3.) sowie anschließend auf NIETHAMMERs Vorschlag eines Verzichts auf den Begriff "kollektive Identität" (4.) eingehen. Abschließend folgt eine ausführlichere Diskussion (5.). [8]

2. Frühe Quellen kollektiver Identität

Der frühen europäischen Manifestationen kollektiver Identität gewidmete Hauptteil des Buches (S.71-459) untersucht in umfangreichen Kapiteln das Werk und Leben von Carl SCHMITT, Georg LUKÁCS, C.G. JUNG, Sigmund FREUD, Maurice HALBWACHS und Aldous HUXLEY. NIETHAMMER begreift sie als exemplarische Fälle einer umfassenderen Reihe von Autoren, die in jener Zeit Vorstellungen kollektiver Identität entwickelten. In einem Exkurs wird ihnen der für die Verbreitung des Identitätsbegriffes wichtige Erik H. ERIKSON zur Seite gestellt. Ein Kernstück von NIETHAMMERs Argumentation liegt darin, dass auch innerhalb ERIKSONs Arbeit der Begriff kollektiver Identität demjenigen individueller Identität vorausging, da dieser im Kontext des Zweiten Weltkriegs zunächst über nationale Identitäten schrieb, einem Thema, das er später allerdings aufgab (S.306). [9]

Dieser Teil wird durch weitere Exkurse ergänzt, die Verbindungen und Ähnlichkeiten zwischen den untersuchten frühen Artikulationen von Identität und solchen der Gegenwart, z.B. in der Forschung über "civic culture", Multikulturalismuskonzepten oder innerhalb der Esoterikwelle nachgehen. Auf die sehr detailliert ausgearbeiteten Analysen zu den Entwürfen kollektiver Identität jener Autoren soll im Einzelnen hier nicht näher eingegangen werden. Nicht nur aufgrund der Berücksichtigung biographischer Hintergründe und gesellschaftlicher Kontexte sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Kapitel auch als Einführungen in das Werk der genannten Personen gelesen werden können. [10]

Eingangs des dritten Teils resümiert NIETHAMMER dann seine Befunde zu den frühen Autoren in einer vergleichenden Perspektive. Die in der Frühphase entdeckten Identitätsformeln erscheinen ihm keineswegs identisch, sondern unterschiedlich und "vor allem auch viel zu komplex, als daß sie in einem strengen Sinn auf eine Identitätsaussage zurückgeführt werden könnten" (S.415). Identität dient der Definition von völkischer Demokratie (bei SCHMITT), revolutionärem Bewusstsein (LUKÁCS), barbarischer Regression (JUNG), jüdischer Ethnizität (FREUD), beliebiger Traditionalität (HALBWACHS) oder programmierter Ungleichheit (HUXLEY): "Solche hochkomplexen gesellschaftlichen Aussagen und Forderungen sind weder untereinander im formalen Sinn vergleichbar, noch bringen sie je im einzelnen eine materielle Beständigkeit im wesentlichen auf den Begriff." (S.415) Daher scheint eine Verständigung über den Inhalt kollektiver Identität kaum möglich zu sein. Mal gehe Identität aus einem Identifikationsvorgang hervor, in dem immerhin noch erkennbar bleibe, zwischen was überhaupt Identität bestehe oder bestehen solle, mal bleibe ein solcher Vergleichsvorgang ganz verdrängt und Identität erscheine als eigenständiger Wert. [11]

Trotz der Heterogenität der untersuchten Ansätze wagt NIETHAMMER eine Typisierung von Zweck und Status solcher formelhaften Argumentationen. SCHMITT und LUKÁCS zählt er zu Ideologien politischer Homogenisierung, die von Niederlagen und dem Nachdenken über die Neuformierung weltgeschichtlicher Kampfverbände ausgehen. Die Identitätsaussagen von FREUD und HALBWACHS subsumiert er unter Konstruktionen kultureller Differenz, die einem religiösen Paradigma folgen, aber erst aus einer postreligiösen Situation heraus bewusst bzw. erklärbar werden und die allerdings – im Gegensatz zum ersten Typus – ohne politisch-programmatische Folgerungen sowie innerhalb der Disposition der Beteiligten bleiben. JUNG und HUXLEY schließlich zählen zu Diagnosen misslingender Massenzivilisation, die Kollektividentität als Chiffre für den größtmöglichen Gegensatz zu ihren persönlichen Leitvorstellungen gebrauchen. [12]

NIETHAMMER resümiert dann die Ergebnisse seiner Suche nach frühen Spuren kollektiver Identität. Der Begriff erweise sich in den untersuchten Fällen als eine Bezugnahme auf Kollektiva, die keiner expliziten Theorie folge, sondern sich vielmehr als eine magische Formel erweise, die sehr unterschiedliche wissenschaftlich, politisch oder religiös problematische Inhalte zugleich verdecke und diskursfähig machen solle. "Strukturell ist ihm als einziger Inhalt die Abgrenzung zum Nicht-Identischen mitgegeben, wozu er notwendig zusätzlicher Bestimmungen bedarf." (S.457) Aufgrund dieses Mangels fehle dem Begriff ein regulierendes Moment, das die Dynamik der Abgrenzung z.B. durch Bezüge auf die innere Vielfalt von Kollektiven oder die Relativierung von Differenz hemmen könnte. Die jeweilige Intensität der Abgrenzung werde jenseits des Begriffes, rein situationsabhängig bestimmt. So erfordere der Mangel einer über die Abgrenzung zum Nicht-Identischen hinaus gehenden Begriffsbestimmung ein Hinzuziehen zusätzlicher Bestimmungen zum Identitätsbegriff, die allerdings in der Praxis allzu oft im Hintergrund verborgen blieben. Gerade dadurch aber erhalte die "Identitätsformel" ihre legitimierende Allgemeinheit. [13]

NIETHAMMER fragt auch, woher die große Anziehungskraft des in der untersuchten Periode noch weitgehend unbekannten Begriffes und seine Anwendung auf höchst unterschiedliche Zusammenhänge stammt. Im Kontext von religiösem Sinn-Entzug und sozio-kulturellem Traditionsverfall erweist sich die Identitätsformel als funktionales Äquivalent für Letztbegründungen, Abgrenzungen und Sinntraditionen. Auffällig an den untersuchten Fällen sei zudem, darauf stößt NIETHAMMER mehrfach (S.429, 437-446, 459), dass sie mit der christlichen Spannung gegenüber dem Judentum oder Reaktionen auf diese Spannung in Zusammenhang stehen. [14]

3. Die unheimliche Konjunktur

Mit Kapitel 2 des dritten Teils beginnt NIETHAMMER eine Skizze der "Benutzung" kollektiver Identität seit dem Zweiten Weltkrieg, der in seinen Augen unheimlichen Konjunktur kollektiver Identität. Diese Betrachtung bleibt auf amerikanische und europäische, vor allem deutsche und einige französische, Autoren und Identitätsdebatten beschränkt. Das ist eine folgenreiche Beschränkung, die allerdings ausführlich erörtert wird (S.460-463): NIETHAMMER räumt ausdrücklich ein, dass eine Berücksichtigung weiterer Bereiche, insbesondere der dem Typ defensiver Differenz zugerechneten Selbstverständigungsdiskurse der Dritten Welt und des Judentums, seine Skizze nicht nur vervollständigt hätte, sondern aufgrund einer dann vermutlich wesentlich positiveren Bewertung von Identitätsdiskursen seine äußerst skeptische Sicht des Phänomens kollektive Identität verändert und korrigiert hätte. Damit deutet er selbst an diesem Punkt einen alternativen oder ergänzenden Rahmen an, dessen Untersuchung zu Thematisierungen kollektiver Identität zu einer differenzierteren Einschätzung des Phänomens geführt hätte, als in der vorliegenden radikalen Ablehnung der Verwendung des Begriffes "kollektive Identität". [15]

Nach dem Zweiten Weltkrieg war zunächst wenig von kollektiver Identität die Rede, und diejenigen, die sich in der Vorphase damit beschäftigt hatten, waren diskreditiert oder vergessen. Hier liegt nun die Bedeutung von ERIKSON, der den Identitätsbegriff in der zweiten Popularisierungswelle der Psychoanalyse verwendete, allerdings in den fünfziger Jahren "aus Befürchtung mißbräuchlicher Identitätszuschreibungen in der antikommunistischen Hexenjagd McCarthys" (S.469) selbst aufgehört hatte, den Identitätsbegriff auf kollektive Phänomene anzuwenden. [16]

Dennoch sprang in jener Zeit eine Konjunktur kollektiver Identität an, als Sozialpsychologen den Begriff aufgriffen. Aus der Perspektive seiner Gesamtbetrachtung von Identitätsthematisierungen periodisiert NIETHAMMER drei Phasen dieser Konjunktur: Eine erste, progressive Phase seit den 60er Jahren sei geprägt durch die neuen Begriffe "politische Identität" und "Zivilkultur", die unter anderem den Wandel von unbeliebten Nationalcharakteren zu neuen Konsensformeln ermöglichten, und den neuen Begriff der Ethnizität, der zunächst nur den durch die "white Anglo-Saxon protestant" Hegemonie in den USA auf andere Gruppen ausgeübten Anpassungsdruck reduzieren wollte, jedoch bald in den eher regressiven Druck zum Bekenntnis zu ethnischen Minderheiteneigenschaften umschlug, die noch dazu inzwischen mit wenn auch kulturalisierten Rassenkategorien klassifiziert werden. Ein weiteres Moment dieser Phase sei die vernünftige Identität (HABERMAS), die zu einem pädagogischen und didaktischen Ziel erhoben wurde. In diesen Fällen handelt es sich um strategisch geplante, erst herzustellende Identitäten, die freilich NIETHAMMERs Kritik nicht entgehen: "Ohne die betroffenen Subjekte geplante, progressive Identitätskonstruktionen erreichen selten ihr Ziel." (S.482) [17]

Die seit Mitte der 70er Jahre einsetzende zweite, regressive Welle kollektiver Identität erscheint als Auffrischung der verbrauchten Terminologie des Nationalen. In Deutschland ist sie z.B. ein Ausdruck der lauter werdenden Wünsche, einfach eine normale Nation zu sein. Aber auch international vollzog sich Ähnliches mit dem 1982 von der UNESCO proklamierten Grundrecht auf "kulturelle Identität". Inspiriert auch von Poststrukturalismus und Postmoderne erscheint kollektive Identität erneut als Leitbegriff auch konservativer und rechter Strategien, die den ökonomischen Wandel dem Neoliberalismus überlassen und sich stattdessen ausschließlich den sozio-kulturellen Rückwirkungen dieses Wandels widmen. NIETHAMMER geht hier ausführlicher auf die Neue Rechte und insbesondere den deutschen Neokonservatismus samt dessen dann doch nicht so erfolgreichen "Symbolschreinern" (S.493) ein. Freilich war auch diese Verbindung von Marktliberalismus und Kulturkonservatismus – THATCHERismus und REAGONonomics erinnern daran – in eine internationale Entwicklung eingebunden. [18]

Beginnend bereits in den 80er Jahren erkennt NIETHAMMER eine dritte Phase der massiven Inflationierung des "Plastikworts" Identität, die er als progressive Regression bezeichnet. Deren heitere Seite liege in der von beschleunigter Modernisierung generierten Suche nach Traditionalem und Geschichtlichem, die sich im Boom von Antiquitätenhandel, Denkmalschutz, Musealisierung, Alltagsgeschichte und Symbolisierungen lokalistischer und regionaler Gemeinschaftlichkeit ausdrücke. Die düstere Seite liege hingegen in der internationalen Verbreitung von Kämpfen, die kulturell definiert werden (bis hin zu HUNTINGTONs "Kampf der Kulturen") und potentiell oder tatsächlich gewaltsam eskalieren. Zu dieser Phase führt NIETHAMMER im Vergleich zu den anderen nur sparsam aus, eventuell mag sich dies daraus erklären, dass er hier eine globale Perspektive anreißt, die er eingangs ja für die essayistische Ausarbeitung dieses dritten Teils ausgeschlossen hatte und die ihn aber – das klingt hier doch wieder an – zum defensiven Gestus als verbreitetster Ausdrucksform kollektiver Identität überhaupt führt. Er spricht hier sogar von darauf beruhendem Fortschritt für einzelne Minderheiten, die so aus Vereinzelung und Legitimationsdefiziten befreit werden, versäumt jedoch nicht, deren neue Gefährdungen zu benennen, nämlich die Gefahr, dann neuen Zuschreibungen, Stereotypen und gruppeninternen Dominanzen sowie der Dynamik der Identitätssemantik ausgeliefert zu sein (S.499f). [19]

Kapitel 3 des dritten Abschnitts widmet sich schließlich einer wiederum eingehenderen und daher auch umfangreicheren Untersuchung einiger exemplarischer intellektueller Beiträge zur politischen Zeitdiagnostik, in denen kollektive Identität eine Schlüsselrolle spielt. Gegliedert ist dies in die Bereiche Amerika, Europa und Deutschland. Zu den untersuchten amerikanischen Autoren zählt Francis FUKUYAMA, dessen Vorstellung universaler Anerkennung in der Weltgesellschaft auf multiple Identitäten internationaler und interkultureller Anerkennung aufbaue (S.511). Daran anschließend wertet NIETHAMMER die Vorstellung mancher Kommunitaristen, dass eine Ausbalancierung unterschiedlicher Zugehörigkeiten zu einer multiplen oder komplexen Identität zur Schlichtung gesellschaftlicher Desintegration beitragen könne, als eklatanten Ausdruck der gegenwärtig üblichen Verkehrung, nicht mehr die individuelle Identität als Normalfall zu betrachten, sondern kollektive Identitäten, die von den Individuen als Pluralitäten zu integrieren seien (S.514). Eine Kritik Samuel HUNTINGTONs schließt den Blick nach Amerika ab. Sein Begriff kollektiver Identität bleibe undefiniert und lasse im zentralen Platz, den er der Religion einräume, Ähnlichkeiten mit der Begriffstradition von SCHMITT und JUNG erkennen (S.525). [20]

Europa ist ein weiteres, höchst aktuelles Feld von Identitätsschreinerei. Auch hier erweist sich der Begriff als höchst inkonsistent und als formelhafte Beschwörung von Einheit, der sehr verschiedene Vorstellungen unterliegen. Die Einheit des falschen Themas verhindere eine Verständigung über die Probleme europäischer Vielheit (S.551). NIETHAMMER kritisiert an dieser Stelle unter anderem HABERMAS' Analogiebildung zwischen artifiziellem nation-building des 19. Jahrhunderts und der nun anstehenden europäischen Identitätskonstruktion. In dieser Perspektive werde der Preis, der in Form von Abgrenzung, Konkurrenz und Gewalt damit verbunden sei, nur historisch wahrgenommen, beim Transfer dieses Modells in die Zukunft falle er unter den Tisch (S.542). Die Reflexion der schwierigen Überwindung innerer Differenz, einer gegebenen Begrenzung europäischer Identität, könne leicht zu einer Logik äußerer Abgrenzung nach Art von HUNTINGTONs "Kampf der Kulturen" verleiten. Kollektive Identität sei ein Gleitmittel, mit dem man leicht von einem Zukunftsszenario in ein anderes gerate. Vom Europa als Gegenstand einer Vorstellungsgeschichte führen allerdings, ähnlich wie schon beim Identitätsbegriff, Spuren in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zurück, als sehnsuchtsvolle Bezüge auf Europa formuliert wurden. In dieser von Luisa PASSERINI gewählten Perspektive erscheine Europa als eine nur begrenzt erfüllbare Sehnsucht, und das zieht NIETHAMMER gegenüber solchen Leitbildern vor, die eine objektive europäische Erbschaft unterstellen (S.548). [21]

Den Debatten um die deutsche Nation ist der dritte Block dieses Kapitels zu Gegenwartsdiagnosen gewidmet. Aufgespießt werden hier sowohl die fortgesetzten Bemühungen, den Deutschen endlich eine normale nationale Identität beizubringen, wie auch der Glaube, man lebe in Deutschland bereits in einer post-nationalen Gesellschaft. NIETHAMMER liefert auch eine anschauliche Skizze zu "Gefühl und Gedächtnis nach der deutschen Vereinigung" (S.552) und dem Aufkommen des Topos "ostdeutsche Identität", während zwar von westdeutscher Identität kaum die Rede sei, gleichwohl aber die alte westdeutsche Gesellschaft einen neuen Instinkt für ihre kollektive Differenz entwickelt habe (S.552-562). [22]

4. Alternativen zum Begriff "kollektive Identität"?

Der dritte Teil des Buches schließt mit einem kurzen Kapitel, in dem NIETHAMMER einen "bescheidenen" (S.625) Vorschlag zur Vermeidung des unheimlichen und gefährlichen "Plastikworts" kollektive Identität macht. Gefährlich sei es, da kollektiver Identität die Tendenz zu Fundamentalismus und zu Gewalt inhärent sei und die soziale Mechanik seiner Praxis dabei unabhängig von den Intentionen jener wirke, die solche Begriffe formulieren. Schutzmechanismen vor dem Hinabgleiten in düstere Konsequenzen gebe es keine. Das Konzept "multiple Identität" – mit dem er sich im Buch allerdings nicht ausführlich auseinandersetzt und zu dem er nur auf Seite 53 einen Hinweis auf Carl F. GRAUMANN gibt – sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung, der jedoch von der verkehrten Grundlage des Identitätsbegriffes ausgehe (S.627). Demgemäß schließt er vernünftige Artikulationen von Identität aus:

"Wer nur von bloßen und noch dazu partiellen Ähnlichkeiten unter den Mitgliedern einer Gruppe spräche oder von den genaueren Bedingungen der Möglichkeit einer Differenzerfahrung, von spezifischen Gesichtspunkten, unter denen eine Identität in einer sonst diversen Gruppe festgestellt werden mag, kurzum: Wer so spräche, wie es geistig verantwortbar wäre, der bräuchte mit seiner sozialen Sinnstiftung erst gar nicht zu beginnen." (S.466) [23]

Denn das Wesen des Begriffes "kollektive Identität" liege in der Setzung von äußerer Differenz und einer natürlich erscheinenden, die innere Komplexität verschleiernden Homogenität. Solche Identität kenne keine Einschränkung und reiße in Konfliktfällen, häufig mehr als ihren Stiftern lieb sei, in die Auseinandersetzung hinein. [24]

Daher lautet NIETHAMMERs Vorschlag, den Begriff kollektive Identität einfach aus dem politischen Wortschatz zu streichen. Die Aufgabe der inhaltlich so vagen magischen Identitätsformel zwinge nämlich zur Detaillierung der vielen Einflüsse, die auf Menschen einwirken, sie nicht-identisch machen und zu mehreren Gruppen zugehörig fühlen lassen. Anstatt kollektiver Identität kämen so kollektive Interessen stärker in den Blick. Statt kollektive Identität zu beschwören, solle einfach "wir" gesagt werden (S.629). Diese Perspektive – die allerdings selbst wieder Gefahren ideologischer Wir-Phraseologie in sich berge –, halte immerhin Subjektivität eher erkennbar und diskutabel, und sie signalisiere, dass Gruppen aus Individuen zusammengesetzt sind. [25]

Obwohl primär in dieser Zielrichtung formuliert, gilt diese Ablehnung des Begriffes nicht nur für das politische Feld, sondern offenbar auch hinsichtlich der Identitätstheorien: "Soweit man sie ernst nehmen kann, handelt es sich um Variationen individueller Identitätstheorien hinsichtlich ihrer kollektiven Bezüge und nicht um Theorien kollektiver Identität" (S.470). Ein weiterer Vorzug der vorgeschlagenen Wir-Perspektive liege darin, dass die Relativität und Revidierbarkeit von Wir-Aussagen – anders als im Falle der solches verhüllenden Behauptungen kollektiver Identität – noch eine alltagspraktische Erfahrung sei. Die wichtigen Fragen lägen nicht in fixen Zugehörigkeiten, sondern in der Vielfalt von Zugehörigkeiten, zu der auch eine gewisse Wählbarkeit der Affinitäten gehöre. Handlungsfähigkeit bedeute auch eine Auseinandersetzung über das in bestimmten Kontexten relevante "wir" bzw. der Wechsel von einem "wir" in ein anderes. Zur Verständigung darüber sei jedoch nicht die Fiktion der Identität, sondern die konkretere Wahrnehmung von Ähnlichkeit innerhalb von Komplexität und Differenz der richtige Ausgangspunkt. [26]

5. Diskussion

NIETHAMMERs umfangreiches Buch bietet zahlreiche Facetten. In seiner begriffsgeschichtlichen Perspektive präsentiert es Konzeptionen kollektiver Identität, die früher entstanden sind als der auf die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Begriffskonjunktur gerichtete Blick zunächst erwarten lässt. Hierzu drängt sich allerdings die Frage auf, ob denn nicht nur weitere, sondern vielleicht auch noch frühere Quellen auszumachen sind. NIETHAMMERs Betrachtung schließt dieses nicht aus, denn er weist darauf hin, detektivisch nur einige Spuren zu verfolgen. Zudem spricht er in einem Postskriptum die Thematisierung nationaler Identität in einem Roman Gottfried KELLERs von 1854/55 an (S.66). Gerade das Feld des Nationalismus und der Nationenbildung legt die Vermutung nahe, noch weitere Spuren des Begriffes kollektiver Identität aufzuweisen, da äußere Abgrenzung sowie innerer Homogenitätsglaube und -zwang zum Kern des Nationalismus zählen. Die Frage ist hier nur, ob und wo in diesem Zusammenhang auch tatsächlich das Wort "Identität" verwendet wurde. [27]

Bezüglich des Gehaltes des Begriffes "kollektive Identität" ergibt NIETHAMMERs Vergleich der untersuchten Varianten kollektiver Identität ein vernichtendes Urteil. Der Begriff fasse nicht das eigentlich Gemeinte, sondern sei eine Ersatzformel, mit politischen Funktionen der Verschleierung und drohender Gewaltdynamik. Anders als im Falle individueller Identität, kann NIETHAMMER auch keine gehaltvolle theoretische Fassung kollektiver Identität erkennen. Selbst wenn man ihm hier eine polemische Zuspitzung zu Gute hält, erscheint diese Aussage doch überzogen. Ich denke hier z.B. an die protheoretische Konzeption kollektiver Identität von BADER (1991, 104-128), die sich übrigens in ihrer Berücksichtigung eines totalisierenden Anspruchs, der kollektiven Identitäten inhärent sei, und in ihrem Zweifel gegenüber dem Erkenntnisniveau vieler Identitätstheorien gar nicht so sehr von den Resultaten der NIETHAMMERschen Perspektive unterscheidet. [28]

Die politischen Funktionen der Verschleierung und unregulierter Ausgrenzungsdynamik begründen NIETHAMMERs Appell, den Begriff aus der politischen Semantik zu streichen. NIETHAMMER formuliert diesen Vorschlag eines "versuchsweisen" (S.631) Verzichts ziemlich vorsichtig und ohne große Erwartungen. Darin, dass zumindest ein weniger uferloser Gebrauch des Begriffes Identität wünschenswert ist, kann ihm sicherlich zugestimmt werden. Und insbesondere gegenüber der Vielzahl gegenwärtiger Bemühungen um Stiftung regionaler, nationaler, ethnischer und gerade auch europäischer Identitäten erscheint seine Provokation angebracht, da sie anregt, es vielleicht doch einmal ohne die Identitätsbegrifflichkeit zu probieren oder zumindest begriffliche Alternativen zu erwägen. Eher die Wissenschaft betreffend, bieten sich zum Beispiel die noch begriffsnahe Alternative der Identitätstypen (BERGER & LUCKMANN 1977, S.185), Zugehörigkeit (COHEN 1982), Solidarität (BADER 1991, S.417), Gesellschaftsbilder (ROST 2000, S.7f), Wir-Gefühl (BLOMERT, KUZMICS & TREIBEL 1993) oder der auf SUMNER zurückgehende Begriff der Wir-Gruppe als zumindest in bestimmten Zusammenhängen klarere Begriffe an. [29]

Was NIETHAMMER selbst mit der von ihm favorisierten Rede vom "Wir" vor Augen hat, mag für eine politische Semantik angemessener und attraktiver sein, liegt allerdings trotz aller Kritik sehr dicht an den gescholtenen Konzepten multipler Identität (S.627), an Ansätzen also, die wie zum Beispiel BURKE (2002) nicht von einer Identität der Kollektive ausgehen, sondern von Individuen, die eine Vielzahl von Zugehörigkeiten vereinen. Der Unterschied liegt hier eigentlich nur im Festhalten oder Aufgeben des Begriffes "Identität". Das verdeutlicht, dass sich NIETHAMMERs Argumentation zumindest nicht gegen jegliche Konzeption von kollektiver Identität in einem weiten Sinne, sondern in erster Linie gegen den wortwörtlichen Begriff richtet. [30]

Die wesentliche Unwesentlichkeit und Vielgestaltigkeit des Identitätsbegriffes – der letztlich eben nur sehr abstrakt das Setzen von Grenzen oder Differenz bezeichne – wird von NIETHAMMER anhand seiner frühen Quellen herausgearbeitet. Hier stellt sich allerdings die meines Erachtens unbeantwortet bleibende Frage, ob das in diesem Zusammenhang klarer erkennbar wird als in einer entsprechenden Untersuchung jüngerer Zeugnisse, oder ob sich auf deren Grundlage nicht ein etwas anderes und womöglich noch heterogeneres Bild der allgemeinen Züge des Begriffes ergeben würde. [31]

Hinsichtlich der Ablehnung des Identitätsbegriffes sollte nicht übersehen werden, dass NIETHAMMER eine ergänzende, doch fragmenthaft bleibende Lesart anbietet, die zwischen eher akzeptablen, da zu Emanzipation führenden Artikulationen von Identität und solchen unterscheidet, die aggressiv oder aufgezwungen sind. Er unterscheidet dann kollektive Identität als defensive Differenz und als mit Führungsansprüchen verbundene Homogenitätsbehauptung (S.464). Den erstgenannten Typus betrachtet er nicht nur verständnisvoll, sondern – trotz der an anderer Stelle (S.262) jeder Form von Identitätsartikulation zugeschriebenen latenten Gewaltdynamik – geradezu wohlwollend. Die Qualität kollektiver Identität sei dort stark,

"wo sie das Wahrnehmungspotential sozialer Schwäche und Ausgrenzung betont, intuitive Verständigungen zwischen Ausgegrenzten als sinnvolle Kraft begreift und Subjektivität mit Stolz ausstattet, aber schwach, wo sie vorgerückte Arrivierung mit der Paranoia des Opfers ausstattet, objektive biologische Identität vortäuscht, wo subjektive kulturelle Bedürfnisse erst gesucht werden müßten und sich über das eigene Herkommen mit mystischen Konstruktionen betrügt" (S.266). [32]

Darüber hinaus hält es NIETHAMMER im Rahmen der Reflexion seiner Eingrenzungen der Begriffsgeschichte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wie bereits erwähnt, für wahrscheinlich, dass eine Einbeziehung z.B. von Selbstverständigungsdiskursen der Dritten Welt in seine Untersuchung seine äußerst kritische Sicht auf das Problem kollektiver Identität verändert und ihn zu einer positiveren Bewertung geführt hätte (S.461). Wenn auch eher unterschwellig, so erscheint kollektive Identität auch bei NIETHAMMER als eine notwendige Ressource, deren Gebrauch zumindest bedrängten Subjekten offenbar zustehe und wohl nicht zu versagen sei. Zudem liegt für NIETHAMMER darin ein großer Unterschied, ob die Definitionsmacht über ihre Identitätsbehauptung bei den jeweiligen Gruppen selbst – oder besser noch: bei den einzelnen Subjekten – liege, oder ob ihnen ihre Identität von außen auferlegt werde (S.252, 339). Gerade in der für politische Funktionen der Begriffsverwendung so sensiblen Perspektive von NIETHAMMER ist das eigentlich ein starkes Argument für ein bedingtes Festhalten am Begriff "kollektive Identität", das von Autoren wie HALL (1991) und auch BADER (1991, S.111) in exakt dieser Weise vertreten wird. [33]

Noch wichtiger als die Frage, was tatsächlich begriffen bzw. gerade nicht begriffen wird, wenn von kollektiver Identität die Rede ist, scheinen also für NIETHAMMER die politischen Funktionen des Begriffes zu sein. Insofern zielt seine Kritik wohl vor allem auf die publizistische und politische Verwendung und Wirkung des Begriffes. Kritisch anzumerken ist, dass NIETHAMMER die Differenz zwischen solchen primär kritisierten Wirkungen der Rede über kollektive Identität und rein rekonstruktiv vorgehenden Analysen von gegebenen Artikulationen kollektiver Identität nicht deutlich macht. Welche Bedeutung besitzt nun aber seine Arbeit für eine solche qualitative, rekonstruierende Sozialforschung? NIETHAMMER stellt in dieser Beziehung in Rechnung, dass die größte Fruchtbarkeit und Berechtigung im weitesten Sinne dekonstruktivistischer Ansätze im Aufzeigen des Konstruktionscharakters von Identitätsofferten und rein projektiven Identifikationen liege. Er weist auf die befreiende Wirkung von Enttraditionalisierungen hin und fordert den "Konstruktivismus" – zumindest indirekt – dazu auf, an der dekonstruktivistischen Intention festzuhalten und ein Gegengewicht zur großen Bedeutung zu bilden, die der Konstruktivismus inzwischen in der Beratungsindustrie für Images und Identitätsstiftung habe (S.53f). Insbesondere Europa sei Gegenstand solcher nur noch wenig kritisierten Identitätskonstruktion geworden (S.23f). Dieser Vorwurf ist, denkt man z.B. an die aktuelle Welle von Initiativen zur Förderung europäischer Identität, sicherlich berechtigt. [34]

Doch auch in einer anderen Weise ist dieser Vorwurf eines Umschlags des Konstruktivismus nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn man weniger an die Intentionen, denn an die Wirkungen denkt, die auch in dekonstruktivistischer Absicht erstellte Forschungsarbeiten haben können. Mit kritischer Intention herausgearbeitete Mechanismen der Identitätskonstruktion erweitern grundsätzlich das Wissen über diese Angelegenheiten, und so können sie auch als "Anleitung" zu Identitätskonstruktionen gelesen und unter Hinweis auf die von diesen Studien erwiesene Ubiquität solcher Prozesse sogar zur Legitimation von Identitätskonstruktionen verwendet werden.2) Auch wenn NIETHAMMER in diesem Zusammenhang die Vielzahl an anti-essentialistisch motivierter Identitätsforschung, die er aufgrund einer gewissen Spiegelfechterei in anderer Weise ebenfalls kritisieren könnte, aus dem Blick gerät, so liegt hier doch für diese – und für rekonstruktive Zugänge zum Phänomen "Identität" generell – ein interessanter Anknüpfungspunkt, da NIETHAMMER zu einer vertieften Reflexion über außerwissenschaftliche Wirkungen und Rezeptionsweisen der Identitätsforschung3), aber auch über offene und verborgene Motive bei der Entwicklung von Forschungsthemen anregen kann. [35]

NIETHAMMER untersucht Begriffe, die von Intellektuellen geschaffen wurden. Deren Hervorbringung wird zwar vor dem Hintergrund von Biographie und zeitgenössischer Erfahrung untersucht, doch die Perspektive auf die Erfahrungen der Bevölkerung, also auf die Nachfrageseite der Begriffskonjunktur, die zur Erklärung der unheimlichen Konjunktur seit den 60er Jahren ebenfalls erforderlich ist, bleibt dennoch unterbelichtet. Für ein Buch des Alltagsgeschichtlers Lutz NIETHAMMER ist das sicherlich erstaunlich. Er selbst sagt allerdings, dass er hier eben einmal auf den Reiz einer "Erfahrungsgeschichte von Konzepten und Intellektuellen" (S.634) zurückgekommen sei. [36]

Alles in allem vermittelt das Buch, neben seiner durch die aufgezeigten Defizite und Probleme gerechtfertigten Herausforderung des Identitätsbegriffes, einen höchst informationsreichen, allerdings in seiner Kritik mitunter über das eigene Ziel hinausgehenden, Überblick über Entwicklung, Verbreitung und Grundzüge des Identitätsbegriffs im 20. Jahrhundert – zumindest soweit das die hier noch immer eher vertraute transatlantische Welt betrifft. Nicht zuletzt aufgrund von NIETHAMMERs beißender Kritik und seiner dennoch fein differenzierten Darstellung der untersuchten "Identitäter" kann der lange Trip durch die Geisterbahn der Identität mit beträchtlichem Gewinn und auch mit einem gewissen Vergnügen nachvollzogen werden. [37]

Anmerkungen

1) Vgl. die auf dieses Defizit reagierende klare Unterscheidung personaler und kollektiver Identität von STRAUB (1998). <zurück>

2) Beispiele hierfür finden sich z.B. in Äußerungen der norditalienischen Lega Nord (Limes 1996). <zurück>

3) Vgl. hierzu aus Perspektive der Anthropologie SEGAL (1996). <zurück>

Literatur

Bader, Veit-Michael (1991). Kollektives Handeln: Protheorie sozialer Ungleichheit und kollektiven Handelns. Opladen: Leske + Budrich.

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Blomert, Reinhard; Kuzmics, Helmut & Treibel, Annette (Hrsg.) (1993). Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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Cohen, Anthony P. (1982). Belonging: the experience of culture. In Anthony P. Cohen (Hrsg.), Belonging. Identity and social organization in British rural culture (S.1-17). Manchester: Manchester University Press.

Gleason, Philip (1996). Identifying identity: A semantic history. In Werner Sollors (Hrsg.), Theories of ethnicity. A classical reader (S.460-487). New York: New York University Press. (Orig. 1983)

Hall, Stuart (1991). Old and new identities, old and new ethnicities. In Anthony D. King (Hrsg.), Culture, globalization and the world-system. Contemporary conditions for the representation of identity (S.41-68). Houndmills: MacMillan.

Limes (1996). O federalismo subito, o indipendenza. Incontro con Mario Carraro, Ilvo Diamanti e Roberto Maroni. Limes, 1996/1, 47-53.

Niethammer, Lutz (1994). Konjunkturen und Konkurrenzen kollektiver Identität. Ideologie, Infrastruktur und Gedächtnis in der Zeitgeschichte. Prokla, 24, 378-399.

Rost, Dietmar (2000). Gesellschaftsbilder in Sardinien. Zur sozialen Konstruktion lokaler, regionaler und nationaler Identitäten. Münster: Lit.

Segal, Daniel A. (1996). Resisting Identities. A found theme. Cultural Anthropology, 11(4), 431-434.

Straub, Jürgen (1998). Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs. In Aleida Assmann & Heidrun Friese (Hrsg.), Identitäten (Erinnerung, Geschichte, Identität, Bd. 3, S.73-104). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Zum Autor

Dietmar ROST ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Potsdam im von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojekt "Neue regionale Identitäten und strategischer Essentialismus". Zuvor qualitative Forschung zur Konstruktion, lokaler, regionaler und nationaler Identitäten in Sardinien.

Kontakt:

Dr. Dietmar Rost

Allgemeine Soziologie
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Universität Potsdam
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E-Mail: drost@rz.uni-potsdam.de
URL: http://www.uni-potsdam.de/u/allg_soziologie/index.htm

Zitation

Rost, Dietmar (2003). In der Geisterbahn kollektiver Identität. Lutz Niethammers Kritik einer Begriffskonjunktur. Review Essay: Lutz Niethammer (2000). Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur [37 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(2), Art. 47, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0302476.

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