Volume 4, No. 2, Art. 21 – Mai 2003

Rezension:

Wilhelm Schwendemann

Harald Welzer (Hrsg.) (1999). Auf den Trümmern der Geschichte: Gespräche mit Raul Hilberg, Hans Mommsen und Zygmunt Bauman (Reihe: Studien zum Nationalsozialismus; Band 3), Tübingen: Edition diskord, 127 Seiten, ISBN 3-89295-659-6, EUR 14,-

Zusammenfassung: Drei Wissenschaftler, die über den Holocaust forschen, geben Auskunft über ihr Leben, Werk und vor allem über ihre Motivation und ihr Erkenntnisinteresse, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen. Lebens- und Forschungsthemen sind deswegen bei ihnen eng verknüpft und kreisen um die zentrale Frage, wie der Holocaust beschrieben und erklärt werden kann. Der Herausgeber Harald WELZER arbeitet den allen dreien gemeinsamen Kristallisationskern mittels erinnerungs- und biographietheoretisch angelegten Interviews heraus. Im Buch sind aber nur die Interviews wiedergegeben, so dass es vor allem auf die Rezeptions- und Rekonstruktionsleistung der Rezipierenden ankommt.

Keywords: biographie- und erinnerungstheoretisches Interview, Geschichtsschreibung, Judenvernichtung, Holocaustforschung, Zivilisationsprozess, Moderne

Inhaltsverzeichnis

1. Forschungsinteresse am Holocaust und biographiebezogenes Interviewverfahren

2. Wie Täter, Opfer, Mitläufer Gesichter und persönliche Geschichten bekommen

3. Der Nationalsozialismus als politischer Prozess

4. Die Rationalität des Bösen und der Prozess der Moderne

5. Fazit oder die andere Art, an den Holocaust zu erinnern

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Forschungsinteresse am Holocaust und biographiebezogenes Interviewverfahren

Es gibt wahrscheinlich kein Gebiet innerhalb der Neuzeit- und Zeitgeschichte, das nicht so intensiv bearbeitet wurde und wird wie der Nationalsozialismus. Der Sozialpsychologe Harald WELZER (Universität Hannover) hat einen anderen als den historischen Zugang gewählt. Nicht Fakten und in erster Linie Informationswissen werden ausgebreitet, sondern das persönliche Erleben, Erleiden, Aushalten und Kämpfen, Verstehen und Erzählen dreier Wissenschaftler zum Holocaust und Nationalsozialismus sind die Eckpunkte eines zusätzlichen heuristischen und wissenschaftlichen Modells. Alle drei Forscher (Raul HILBERG, Hans MOMMSEN und Zygmunt BAUMAN) entstammen der Generation, die den Nationalsozialismus und seine Gräuel miterlebt hat und seine Ideologie radikal in Frage stellt. Ihre grundsätzliche Anfrage, auch an die Methoden und selbstverständlich auch an die Ergebnisse der Forschung sind: Wie kann das Phänomen des Holocaust beschrieben werden, das in der Menschheitsgeschichte in diesem Ausmaß vor 1933 undenkbar war und nach 1945 weiterwirkte und zudem alle Vorstellungskraft bis auf den heutigen Tag übersteigt? [1]

WELZER – bekannt geworden durch qualitative empirische Forschung zum Nationalsozialismus (siehe WELZER 1995, 1997 und aktuell 2002 sowie WELZER, MONTAU & PLAß 1997) – rekonstruiert in den Interviews mit den drei Forschern den jeweiligen persönlichen Zugang zu Nationalsozialismus und Holocaust und verbindet diesen methodisch mit den zentralen Fragen der Holocaustforschung und den aktuellen Forschungsfragen. Seine These ist dabei, dass das Forschungsthema Nationalsozialismus sich nicht losgelöst von der persönlich-biographischen Geschichte des Forschenden und seinen Lebensthemen bearbeiten lasse, dass die Forschenden sich aber nicht mit dem Thema insgesamt abgleichen ließen und dass das persönliche Erleben und Verarbeiten der NS-Ereignisse für das Forschungsinteresse – aufgrund der Verletzungen durch den Nationalsozialismus – heuristisch wesentlich sei. In den Interviews wird deutlich, dass die Psychodynamik des Nationalsozialismus weiterwirkt; ja sogar sich im modernen Zivilisationsprozess Mechanismen finden lassen, die der Zerstörungsmacht des Nationalsozialismus entsprechen oder sie weiterführend aufnehmen. Die Psychodynamik dieser Mechanismen ist fast noch terra incognita in der Forschung. Eines lässt sich aber wohl behaupten: dass diese Mechanismen in sich ambivalent sind und die emotionale Skala von Faszination, über die Macht berauscht zu sein bis hin zu aggressiv-destruktiven Formen reicht. Diese Dynamik, so eine These WELZERs, sei spürbar bis in die wissenschaftliche Auseinandersetzung um das "Thema" hinein, die jeden verletze, berühre, in Frage stelle, der sich mit dem Nationalsozialismus und Holocaust wissenschaftlich beschäftigt. Nationalsozialismus und Holocaust seien gerade nicht in sich abgeschlossene Bereiche, sondern reichten in die Gegenwart hinein und gingen an die anthropologische Wurzel jedes Daseins. Häufig wird zum Beispiel, etwa von Politikern an bestimmten Gedenktagen, proklamiert, es sei notwendig zu "erinnern", die Geschichte "aufzuarbeiten", aus ihr zu "lernen", um dadurch deren Wiederholung zu vermeiden. Es unterbleibt aber in der Regel die Auseinandersetzung mit den "Erinnerungen" der Männer und Frauen, die Hitler und den Nationalsozialismus akzeptiert, bejaht oder mitgetragen oder passiv unterstützt haben, denn, so Theodor Adorno (1977, S.676): "Die Wurzeln sind in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern." [2]

2. Wie Täter, Opfer, Mitläufer Gesichter und persönliche Geschichten bekommen

Im ersten Interview ist Raul HILBERG Interviewpartner. Die Dokumentation umfasst zwei transkribierte Interviews (20.11.1997 Burlington/Vermont und 28.5.1998 Hannover). Der Politikwissenschaftler Raul HILBERG zählt zu den bekanntesten Forschern, dessen Hauptwerke wie Täter, Opfer, Zuschauer (1992) oder Die Vernichtung der europäischen Juden (1982), international bekannt geworden sind. HILBERG musste Wien 1939 verlassen und kam als amerikanischer Soldat nach 1945 zurück. Das Interview rekonstruiert die Situation des Kriegsendes, in der sich deutsche Soldaten mehr oder weniger freiwillig den Alliierten ergaben. Ein Verhör mit einem deutschen Offizier taucht in der Erinnerung auf und führt direkt ins Zentrum der NS-Ideologie. HILBERG stellt an diese Situation die Frage: Wie war es Hitler möglich, derart ins Zentrum der Macht zu geraten? In der ersten Nachkriegszeit wird HILBERG als Soldat mit der Haltung vieler konfrontiert, die in Hitler "einen großen Staatsmann" u.ä. (S.16) sahen. HILBERG hatte, so wird deutlich, den bewussten Wunsch, gegen Hitler-Deutschland zu kämpfen und die Erinnerungen dieser Zeit sind in einem noch existierenden Tagebuch von ihm festgehalten worden, auch die recht frühe Ahnung und dann Kenntnis des Genozids an der jüdischen Bevölkerung Europas. Seit ihm diese Umstände etwa 1942/43 bekannt waren, habe sich seine Forschungsfrage etabliert und sei das politische Interesse erwacht. Die Motive für dieses Interesse seien einmal biographisch-familialer Natur und zum anderen auf den Status des nach Europa zurückgekehrten amerikanischen Soldaten bezogen. So sagt HILBERG:

"Ja, ich war mir sehr bewußt, daß es sich um eine wichtige Geschichte handelte. Ich habe wenig geschlafen, sehr wenig. Ich hatte nichts dagegen, nachts Patrouille zu gehen, drei Nächte hintereinander. Die anderen waren bei so etwas natürlich auch wach, aber sie waren wach, weil sie wach sein mußten, und ich war wach, weil ich wach sein wollte, das war ein kleiner Unterschied ... Ich habe alles aufgespeichert sozusagen, und ich hatte, glaube ich, sehr wenig Gefühle. Also war ich nicht haßerfüllt oder so etwas, und ich war nicht wütend wie manche meiner Kameraden, die Dachau befreit hatten und dabei zumindest ein paar Dutzend SS-Leute niedergeschossen hatten." (S.25) [3]

HILBERG hebt hervor, dass nach seinem Verständnis, jeder deutsche Zeitgenosse in irgendeiner Weise in den Nationalsozialismus involviert gewesen sei und dass es keinen geometrischen Ort der Beobachtung und des Nichtbeteiligtseins gebe:

"Zwischendurch war ich natürlich schon in Deutschland gewesen, für die Forschung, 1968 und 1976. Aber das hatte mich nur in der Annahme bekräftigt, daß man mit Deutschland nichts zu tun haben sollte. Da gab es noch diese Generation, diese alte, und es gab auch eine Übergangsgeneration, Leute, die zwar damals noch keine reifen Männer waren, aber sich doch mit diesem System identifizierten. Und zwar noch nachher." (S.27) [4]

1947 war bei HILBERG das Forschungsinteresse geweckt, wie viel Nüchternheit und instrumentelle Vernunft in der bürokratischen Organisation des Holocaust stecke. Er wollte die Mechanismen klären, die dazu führten, dass Millionen Deutscher vom Nationalsozialismus begeistert waren und Millionen Juden ermordet werden konnten und wie man diese Ungeheuerlichkeit für die Gegenwart und Nachwelt in Worte fassen könne. Wie soll man über den Holocaust schreiben, ohne die Opfer zu entwürdigen und die Täter, Mitläufer und Unterstützer des Systems aus den Augen zu verlieren? Wie wird ein Konflikt in einem Dokument, einer Quelle dargestellt und wie bekommen Täter, Opfer, Mitläufer Gesichter und persönliche Geschichten? Wo sind die Spuren der Geschichte wahrnehmbar? "In so etwas steckt die Geschichte. Aber wie kommt man wissenschaftlich an diese Dinge heran?" (S.46) [5]

3. Der Nationalsozialismus als politischer Prozess

Die zweite Gesprächsreihe wurde am 21.7.1998 und am 14.9.1998 mit dem deutschen Historiker Hans MOMMSEN aufgenommen, dem es in Bezug auf Holocaust und Nationalsozialismus darum geht, "einen Prozeß zu erklären und nicht in moralischer Empörung steckenzubleiben" (S.49, vgl. dazu auch: MOMMSEN 1999, MOMMSEN & ANGERMUND 1988). [6]

Im ersten Teil des Interviews schildert MOMMSEN seine Kindheit und Jugend in Marburg im bürgerlich-professoralen Umfeld. Den Vater, Geschichtsprofessor an der dortigen Universität, trafen die politischen Entscheidungen in Hitler-Deutschland, musste sich aber aus familiären Gründen ein Stück weit mit ihnen arrangieren. Die erste Begegnung mit dem Nationalsozialismus war für MOMMSEN die Erfahrung und das Erlebnis der Reichsprogromnacht (immer noch bekannter unter dem NS-Begriff "Reichskristallnacht"), in der die Marburger Synagoge angezündet und nicht gelöscht wurde. Die kritische Haltung gegen den Nationalsozialismus wurde vor allem im Familien- und Freundeskreis gepflegt und MOMMSEN sozialisierte sich in diesem bürgerlichen Bildungsmilieu.

"Andererseits kann kein Zweifel daran bestehen, daß in meinem Elternhaus keine Spur des Antisemitismus vorhanden war. Ich erinnere mich, daß der Vater uns einmal die Anweisung gab, keine zu engen Beziehungen zu den Kindern von Professor Pfannenstiel, die mit uns im Fähnlein 4 waren, zu unterhalten. Erst viele Jahre später habe begriffen, daß er mit diesem Anhänger der KZ-Versuche und Befürworter der Euthanasie keine gesellschaftlichen Beziehungen unterhalten wollte." (S.53) [7]

Der junge MOMMSEN wurde dann in die Entwicklung von Nachkriegsdeutschland und seinen NS-Seilschaften involviert, denn der Vater wurde von diesem NS-Netz in Verruf gebracht, was ihn um die Universitätsstelle brachte und den jungen MOMMSEN zu Misstrauen gegen angemaßte Autoritäten. Er studiert dann auch Geschichte und wird nach seiner Promotion Referent am Institut für Zeitgeschichte in München, wo er dann beruflich und wissenschaftlich mit der historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus betraut und beauftragt wird. 1966 folgte mit der Schrift Beamtentum im Dritten Reich die Habilitation.

"Mit dieser Studie reihte ich mich in die Gruppe jüngerer Historiker ein, welche die inzwischen von den Alliierten zurückgegebenen Dokumente zugrunde legte und nicht nur ideologisch geprägte Zeugnisse, und dadurch auch einen anderen methodischen Zugang fand, als das für ihre Vorgänger in der NS-Forschung gilt. Der Weg zu dieser Spezialisierung ergab sich aus einer Reihe von äußeren Umständen, obwohl sicherlich das Interesse vorhanden war, Antworten darauf zu finden, warum die nationalsozialistische Machteroberung von breiten Gruppen der deutschen Eliten und relevanten Teilen der Bevölkerung jedenfalls zunächst begrüßt und unterstützt worden ist." (S.63) [8]

MOMMSEN beschäftigt in dieser Schrift ausführlich mit der Frage, warum 1933 das deutsche Beamtentum den Nationalsozialismus unterstützte und der Ideologie des nationalen Aufbruchs der Nationalsozialisten unterlag. Überaus plausibel scheint mir die These MOMMSENs, dass der Nationalsozialismus nur als politischer Prozess insgesamt fassbar wird, d.h. als Interaktion zwischen verschiedenen Machtgruppen und Macht- und Funktionsträgern. Diese Sicht stört natürlich den lang gepflegten Hitlerzentrismus nicht nur in der Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland, sondern auch in der HistorikerInnenschaft. Der Hitlerzentrismus steckt als Scheinhypothese in vielen Köpfen bis auf den heutigen Tag und hat eine tiefgehende Wirkungsgeschichte. MOMMSEN kann zeigen, dass hinter dem Hitlerzentrismus und damit auch hinter der Mythisierung Hitlers ein wesentlich apologetisch gefärbtes Interesse steht, das selbst in die Wirkung nationalsozialistischer Ideologiefragmente gehört. Zu betonen ist, dass "es komplexe und großenteils bürokratische Prozesse gewesen sind, welche die Massenvernichtung herbeigeführt haben" (S.76). Unangebracht seien nach MOMMSENs Meinung rein intentionale oder moralische Betrachtungsweisen des Nationalsozialismus. Es gehe darum, die Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen es möglich gewesen ist und wird, sämtliche moralischen Tabus zu brechen.

"Die früheren Funktionalisten ..., zu denen ich mich rechnen würde, versuchten das herkömmliche Bild eines kontingenten nationalsozialistischen Herrschaftssystems, wie es unter dem Einfluß der Theorie des Totalitarismus gezeichnet wurde, zu durchbrechen. Damit stellte sich auch die Frage der Verantwortung für den Absturz in die Diktatur in ganz anderem Zusammenhang. Die ausgeprägte Betonung der monolithischen Struktur des Regimes und der Rolle Hitlers als allein entscheidendem Diktator ..., hatte zugleich stets einen apologetischen Hintergrund ... Das ist auch der Grund, warum 1964 die bis heute umstrittene Formel von Hitler als dem 'schwachen Diktator' geprägt habe. Diese Formulierung ist in der Regel falsch verstanden und in dem Sinn aufgefaßt worden, daß Entscheidungen gegen das ausdrückliche Veto Hitlers möglich gewesen seien. Das ist natürlich falsch. Jedoch fehlte Hitler die innere Souveränität, sich mit selbständigen unabhängigen Persönlichkeiten als Beratern zu umgeben. Zugleich pflegte er unbequemen, eindeutige Optionen verlangenden politischen Entscheidungen auszuweichen und sich erst, wenn sie schließlich überfällig waren, dazu zu entschließen." (S.66) [9]

4. Die Rationalität des Bösen und der Prozess der Moderne

Das letzte Interview des Buches wurde am 4.8.1998 in Leeds mit dem polnisch-britischen Soziologen Zygmunt BAUMAN über die Rationalität des Bösen geführt (vgl. dazu auch BAUMAN 1999, 1992, 1989, insbesondere 1987). [10]

BAUMANs Motivation, sich mit dem Holocaust unter soziologischen Gesichtspunkten zu beschäftigen, besteht darin, nicht nur Bescheid zu wissen und das Geschehen relativierend als Episode in die Geschichte einzuordnen. Vielmehr geht es ihm darum, den Zusammenhang zwischen den Ideen der Moderne und dem Nationalsozialismus aufzuweisen, worin sich die zerstörerische Logik zeigt, die Welt nach einem scheinbar besseren Prinzip so einrichten zu können, wie man sie gern hätte.

"Das zentrale Anliegen dieses Buches war nicht, den Holocaust zu erklären, sondern die Moderne zu erklären. Und meine zentrale Frage ist, was können wir aus diesem geschichtlichen Ereignis Holocaust darüber lernen, was der Bewegungszusammenhang, die Logik unserer modernen Gesellschaft ist ... Und so etwas endet dann bei Vorstellungen wie etwa jener der Nazis, daß man ganz einfach Menschen verpflanzen kann, übersiedeln in andere Gegenden. Daß sie nicht mehr an einem falschen Ort sind, sondern an einem richtigen Ort, wo sie besser hinpassen. Diese Zugriffsweise ist ein zentraler Faktor unserer Zivilisation. Der Holocaust war in diesem Sinne eines der grandiosesten Projekte der Weltgeschichte, vielleicht neben Stalins Idee, die Klassen abzuschaffen, indem man die nichtzugehörigen oder absterbenden Klassen eliminierte." (S.97) [11]

Die Forschungsfrage, die sich daran anschließt, lautet: Warum wirkten normale, vielleicht sogar moralische Menschen an den Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus mit? BAUMAN vergleicht die Situation im Nationalsozialismus mit einem Laboratorium, in dem ungeheuer rationales und instrumentelles Potenzial stecke und der Holocaust passe seiner Sicht nach genau in dieses Setting hinein. BAUMANs These ist, dass der Zivilisationsprozess der Moderne die Möglichkeit des Holocaust beinhalten musste (!) und dass wir vor Wiederholungen, wenn auch in abgeschwächter Form, nur aufgrund einer moralischen Einstellung nicht gefeit seien, d.h. das Böse des Holocaust weise eine eigene Rationalität auf, die im Zivilisationsprozess angelegt sei.

"Was sie also brauchen, sind Menschen, die von sich aus überhaupt nicht an Mordtaten oder der Teilnahme an Massenmorden interessiert sind. Mit anderen Worten: Die zentrale Frage ist nicht, warum böse Menschen böse Sachen tun, denn das ist ja eine Tautologie. Nein, die Frage ist, warum Menschen, die überhaupt nicht böse sind, warum Leute, die zur Kirche gehen, die von sich selber glauben, daß sie moralische Menschen sind, die gute Familienväter sind und so weiter, warum die das tun ... Und die andere Frage, die mich beschäftigte, war, warum bestimmte Leute, jedenfalls, wenn man der Forschung glauben kann, warum bestimmte Leute, sei es durch moralische Impulse, sei es durch unklare Befehlslagen oder was auch immer, in der Lage gewesen sind, dieser Maschinerie des Mordens zu widerstehen und nicht mitzutun." (S.100) [12]

Der Holocaust stellt für BAUMAN die absurde Steigerung des Traums von der Perfektionierung der Welt dar.

"Ich glaube, daß der Zivilisierungsprozeß selber diese Möglichkeit des Holocaust beinhaltet, daß dies im Grunde genommen das andere Gesicht genau des gleichen Prozesses ist ..., und natürlich bin ich der Auffassung, daß er ein Produkt der Moderne war. Und daß der nicht irgendwie Teil einer Hobbeschen Welt ist, des bellum omnium contra omnes, des Krieges aller gegen aller. Andersherum: Der Holocaust ist undenkbar ohne die Moderne." (S.102) [13]

5. Fazit oder die andere Art, an den Holocaust zu erinnern

Das Aufregende an WELZERs Buch ist m.E. der oft sehr dichte Zugang zu den Texten der Interviewten zum Thema des Holocaust und der Holocaustforschung. In den teilweise sehr persönlich gefärbten Interviews wird die Person des Forschenden deutlich und dass es zum Thema Holocaust einen "objektiven" oder "wissenschaftlichen" Zugang ohne die Person des Forschenden nicht geben kann. Weiter ist sehr beeindruckend, dass durch die drei biographischen Zugänge die Perspektive auf den Forschenden selbst fällt, der sich dann genau Rechenschaft über seine Erkenntnisinteressen und Forschungsintentionen geben muss. Zugleich machen die drei Beiträge auf eine noch unerledigte aber wesentliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft aufmerksam, sich nicht in der Darstellung nationalsozialistischer Gräueltaten zu erschöpfen, sondern Bedingungen, Strukturen, Funktionen derselben im Vergesellschaftungsprozess aufzuspüren und zu benennen. Ausgangspunkt ist die Frage: Wie waren der Nationalsozialismus und der Holocaust möglich? Was bewegte die Menschen, Hitler und Nationalsozialismus zu akzeptieren, zu bejahen oder mitzutragen? Die Forschungsfragen setzen an einem spezifischen Defizit im Umgang mit Holocaust und NS-Vergangenheit an, das sich z.B. im öffentlichen oder wissenschaftlichen Erinnerungsdiskurs zeigt. [14]

Im wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust spielt die Auseinandersetzung mit den Motiven und Beweggründen jener Menschen eher eine untergeordnete Rolle. Innerhalb der umfangreichen Literatur zum Thema Nationalsozialismus ist der Anteil der "Täter"- und "Mitläufer"-Forschung quantitativ relativ gering. Die drei Forscher geben zu bedenken, dass der Nationalsozialismus und der Holocaust keine kontingenten Ereignisse, sondern zwangsläufige Ergebnisse von Prozessen waren und dass sich in ihnen die Dialektik der Moderne zeige. [15]

Literatur

Adorno, Theodor W. (1977). Erziehung nach Auschwitz. In ders., Gesammelte Schriften Band 10/2, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Bauman, Zygmunt (1987). Legislators and interpreters: On modernity, post-modernity and intellectuals. Cambridge: Polity Press.

Bauman, Zygmunt (1989). Modernity and the Holocaust. Cambridge: Polity Press.

Bauman, Zygmunt (1992). Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit (aus dem Englischen von Martin Suhr, Hamburger Institut für Sozialforschung). Hamburg: Junius.

Bauman, Zygmunt (1999). Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg: Hamburger Ed. HIS Verlags-Gesellschaft.

Hilberg, Raul (1992). Die Vernichtung der europäischen Juden: Die Gesamtgeschichte des Holocaust. Frankfurt/M: Büchergilde Gutenberg.

Hilberg, Raul (1992). Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945 (3. Aufl.). Frankfurt/M.: Fischer.

Mommsen, Hans & Angermund, Ralph (1988). Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Düsseldorf: Schwann im Patmos-Verlag.

Mommsen, Hans (1966). Beamtentum im Dritten Reich (mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik). Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt.

Mommsen, Hans (1999). Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche. Ausgewählte Aufsätze. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt.

Welzer, Harald (Hrsg.) (1995).Das Gedächtnis der Bilder: Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen: Edition diskord.

Welzer, Harald (1997). Verweilen beim Grauen: Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust. Tübingen: Edition diskord.

Welzer, Harald (2002). Das kommunikative Gedächtnis : eine Theorie der Erinnerung. München: Beck.

Welzer, Harald; Montau, Robert & Plaß, Christine (1997). "Was wir für böse Menschen sind": Der Nationalsozialismus im Gespräch zwischen den Generationen (Reihe: Studien zum Nationalsozialismus – Band 1). Tübingen: Edition diskord.

Zum Autor

Wilhelm SCHWENDEMANN ist Professor für Evangelische Theologie und Didaktik an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg – Hochschule für Soziale Arbeit, Diakonie und Religionspädagogik und derzeit Prodekan des Fachbereiches II. Aktuell leitet er zwei empirische Forschungsprojekte: (a) Gott der Kinder – religiöse Sozialisation von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter; (b) Antisemitismus und Nationalsozialismus als Themen des Unterrichts.

1999 wurde er vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg mit dem Landeslehrpreis ausgezeichnet.

Jüngste Veröffentlichung: Schwendemann, Wilhelm & Marks, Stephan (2003). Aus der Geschichte lernen? Nationalsozialismus und Antisemitismus als Unterrichtsthema. Band 1: Grundsätzliche Überlegungen (Schriftenreihe der Ev. Fachhochschule Freiburg, Band 17). Münster: LIT-Verlag.

Kontakt:

Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann

Evangelische Fachhochschule Freiburg
Buggingerstr. 38
D-79114 Freiburg

Tel.: 0761-47812-35
Fax: 0761-47812-30

E-Mail: schwendemann@efh-freiburg.de
URL: http://www.efh-freiburg.de

Zitation

Schwendemann, Wilhelm (2003). Rezension zu: Harald Welzer (Hrsg.) (1999). Auf den Trümmern der Geschichte: Gespräche mit Raul Hilberg, Hans Mommsen und Zygmunt Baumann [15 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(2), Art. 21, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0302216.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

Creative Common License

Creative Commons Attribution 4.0 International License