Volume 4, No. 1, Art. 22 – Januar 2003
Editorial Note FQS Tagungen
Günter Mey, Marion Niehoff & Robert Faux
Mit der vorliegenden Ausgabe 4(1) beginnend, möchten wir Berichten über wissenschaftliche Veranstaltungen – von thematisch umgrenzten Workshops und Symposien bis zu Tagungen – mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen, als dies mit den bislang acht – zumeist sehr kurzen – in FQS veröffentlichten Tagungsberichten geschehen ist. Wir freuen uns, dass in FQS 4(1) gleich drei ausführlichere Tagungsberichte Eingang gefunden haben, und wir hoffen, dass die Rubrik FQS Tagungen im Laufe der kommenden Ausgaben mehr und mehr genutzt wird und dass Tagungsberichte sich als für die Diskussion und den Diskurs eigenständige Beitragssorte in FQS etablieren werden. [1]
Tagungen sind ein Ort, um auf aktuelle Trends aufmerksam (gemacht) zu werden: Laufende theoretische und methodologische Diskurse werden (neu) eröffnet, und aktuelle empirische Arbeiten werden – teilweise erstmals – vorgestellt und diskutiert. Tagungen, Workshops, Symposien und andere wissenschaftliche Veranstaltungen bilden damit einen wichtigen Umschlagplatz für Informationen, sie bieten Raum für Austausch und Diskussionen, die sonst kaum möglich wären. Und schließlich sind mit Tagungen Gelegenheiten für den Dialog zwischen Theorie und Praxis und zwischen (wissenschaftlichen) Expert(inn)en und Noviz(inn)en verbunden. [2]
Die Veröffentlichung von Informationen über Tagungen ist bisher – den traditionellen (Print-) Distributionsweg vorausgesetzt – ein eher langwieriger Prozess: die Veröffentlichung eines Vortrages in (überarbeiteter) schriftlicher Form dauert nicht selten bis zu zwei Jahre; teilweise werden Vorträge gar nicht publiziert und die darin aufgezeigten Diskussionsstränge bleiben damit einem größeren Kreis unbekannt. Dementgegen wollen wir mit der Rubrik FQS Tagungen möglichst zeitnah über aktuelle Diskussionen informieren und sie – zumindest in Umrissen – einer breiteren (Fach-) Öffentlichkeit zugänglich machen. [3]
Für die Gestaltung von Tagungsberichten begrüßen wir wie für alle in FQS veröffentlichten Beitragsarten, wenn die spezifischen Potentiale des Online-Publizierens genutzt werden. Diese Potentiale – keine Seitenbegrenzung, die Möglichkeiten der Nutzung von Hypertextstrukturen und der Einbindung von Multimedia – bieten sich besonders an, um Leser(inne)n eine informative nachträgliche Teilhabe zu ermöglichen. Insbesondere erlaubt die Einbindung von Audio- und Video-Dateien, dass die Vor-/Beiträge im Original (wenn auch wohl zumeist nur in Ausschnitten, wie im Beitrag von Doris OHNESORGE und Peter OHLY angekündigt) zur Verfügung gestellt werden; ebenso können den Vorträgen zugrunde liegenden Manuskripte – oder zumindest schriftlich fixierte Kurzfassungen – als Textdateien mit eingebunden und abrufbar gemacht werden (siehe den Beitrag von Leo GÜRTLER). Solche Vorgehens- und Nutzungsweisen bieten einen Informationsgehalt, der weit über die übliche (meist kurze) Berichterstattung zu Tagungen hinausgeht. Doch auch wenn auf solche Möglichkeiten der Hypertext-Strukturierung und auf Video-/Audiodateien verzichtet wird, können Tagungsberichte als eigenständige Beiträge verfasst und verstanden werden. Der Report zur "Conference on Ethnographic Organisational Studies" von Manfred BERGMAN demonstriert dies anschaulich: zunächst wird der aktuelle Diskussionsstand in diesem Feld skizziert, um erst daran anschließend die Tagung selbst zu kommentieren und zum Schluss einige künftige Herausforderungen zu benennen. [4]
Der Beitrag steht damit für eine Anforderung, denen künftige Tagungsberichte in FQS genügen sollten: Da sich die Berichte sowohl an die Tagungsteilnehmenden als auch an jene richten, die nicht teilgenommen haben, sollten sie sich nicht auf die Wiedergabe von Rahmendaten der Veranstaltung beschränken bzw. mehr bieten als nur eine Verschriftlichung des Tagungsprogramms. Solche Informationen – so wichtig sie auch sein mögen – rechtfertigen keine eigene Rubrik, und es ist nicht zu erwarten, dass sie auf Interesse seitens der Lesenden stoßen, da der Informationsgehalt als zu gering einzustufen ist. Der Rubrik FQS Tagungen und den darin aufgenommenen Beiträgen kommt vielmehr die Aufgabe zu, ausgehend von der eigentlichen Veranstaltung die Diskussionen zu bündeln und kommentierend fortzuführen, und möglicherweise sogar mehr als auf der Veranstaltung selbst Bezüge der Beiträge zueinander herzustellen bzw. sie diskursiv aufeinander zu beziehen (siehe Anforderungen an Reports). [5]
Dabei wird explizit aus einer "Not" eine "Tugend" gemacht. Denn während es zum Beispiel für Buchbesprechungen in den meisten Fällen kaum angemessen wäre, eine eigene Publikation zu rezensieren, sind die Autor(inn)en von Tagungsberichten überwiegend aktive Teilnehmende der Veranstaltungen, sei es als Bei-/Vortragende oder gar als Mitorganisator(in); nur in Ausnahmefällen dürfte es sich um eine(n) passive(n) Teilnehmer(in) handeln, der/die "unabhängig" über die Veranstaltung berichtet. Diese Besonderheit beinhaltet zugleich eine Herausforderung, denn es ist zu vermeiden, dass mit dem Report eine nachträgliche (Be-) Werbung einer Veranstaltung vorgenommen wird bzw. dass lediglich positive Gesichtspunkte benannt werden. Vielmehr muss es darum gehen, in resümierender Form Diskussionen und Beiträge zu bündeln und kritisch kommentierend weiterzuführen, d.h. die Desiderata herauszuarbeiten und künftige Aufgaben pointiert zu skizzieren. Hierbei kann die Besonderheit, dass die Berichte von jenen verfasst werden, die aus dem Umkreis der aktiv Teilnehmenden kommen, hilfreich sein: es können ggf. zur Verfügung stehende Materialien (Audio-/Video-Mitschnitte; Vortragsmanuskripte bzw. Abstracts) genutzt und auch weitergehende Hintergrundinformationen können herangezogen werden. Ebenso können über die eigentliche Veranstaltung hinausgehend unterschiedliche "Textsorten" – etwa Interviews mit den Veranstaltenden bzw. Teilnehmenden oder Informationen aus dem Vorfeld der Tagungsvorbereitung – einbezogen werden. [6]
Durch die Verwendung und kommentierte Einbindung solcher Materialien kann auch eine weitere Besonderheit der Berichterstattung über Tagungen "kompensiert" werden, denn abgesehen von kleineren Veranstaltungen ist von parallel angebotenen Arbeitsgruppen auszugehen, sodass der/die Berichtende immer nur Ausschnitte kennt. Hier erlaubt die Nutzung zusätzlicher Informationsquellen (Audio-/Videomitschnitte bzw. Vortragsmanuskripte) die Besprechung von Themenfeldern, die nicht selbst "beobachtet" wurden. Diese Möglichkeiten einer Nutzung unterschiedlicher Primär- und Sekundärquellen erfordert, das Zustandekommen der Tagungsberichte kenntlich zu machen und deutlich zu machen, auf welche Textsorte sich die jeweiligen Ausführungen beziehen. In dieser Perspektive können Tagungsberichte als Resultat eines ethnographischen Vorgehens verstanden werden, bei dem die eigene Teilnahme zur Wissens- und Informationsgewinnung ebenso genutzt wird wie weitere, nicht unmittelbar beobachtete Informationsquellen, und beides in einen Gesamttext eingebunden wird. [7]
Erst im Zuge der weiteren Entwicklung der Rubrik FQS Tagungen wird sich zeigen, welche Konsequenzen die Besonderheiten des "Beobachtungsfeldes" Tagung auch für die Textsorte Tagungsbericht zeitigen, und ob Tagungsberichte wirklich ethnographische Protokolle sein können, in denen unterschiedliche Stimmen zum "Sprechen" gebracht werden. Möglicherweise kommt solchen ethnographischen Berichten auch noch eine andere Aufgabe zu, nämlich die Lebendigkeit von Tagungen "wiederzugeben", indem neben dem Offiziellen das Inoffizielle und Informelle mit in den Blick genommen und damit der Vielgestaltigkeit solcher wissenschaftlichen Veranstaltungen Rechnung getragen wird. Ein so verstandenes ethnographisches Vorgehen würde mitunter auch einen Blick "hinter die Kulissen" von Wissenschaft und Wissenschaftsproduktion werfen, Wissenschaftsrezeption kritisch hinterfragen und Theorie-Praxis-Schnittstellen aufspüren. Insofern böte FQS-Tagungen auch die Möglichkeit, entlang eines spezifischen Genres Aspekte aufzugreifen und diskursiv zu problematisieren, die in der in FQS 3(3) neu eröffneten Debatte Erfolgreich Sozialwissenschaft betreiben – Ethnographie der Karrierepolitiken einer Berufsgruppe angesprochen sind. Denn im Verlauf von wissenschaftlichen Veranstaltungen als Umschlagplatz und Darstellungsforum lassen sich "Praktiken der sozialwissenschaftlichen (Text- und Forschungs-) Produktion und Kommunikation unter den Bedingungen ihrer institutionellen und sozialen Struktur und Dynamik" (BREUER, REICHERTZ & ROTH 2002) erkunden. [8]
Ob die mit der neu gegründeten Rubrik verfolgten Ziele erreicht werden, hängt auch davon ab, inwieweit die hier nur angedeuteten Potenziale genutzt werden, inwieweit (Mit-) Veranstaltende bzw. Beitragende bereit sind, auch auf die Grenzen der eigenen Veranstaltung hinzuweisen, Schwierigkeiten bei der Durchführung der Veranstaltung zu benennen usw., um dadurch möglicherweise den Stand des jeweiligen Wissenschaftsfeldes zu charakterisieren und Hinweise zu seiner Entwicklung zu geben. Wenn dies gelingt, wäre nicht nur ein weiterer Schritt in Richtung einer kritisch-reflexiven Wissenschaft geebnet, sondern auch ein Forum für eine eigene Diskussionskultur eröffnet. In diesem Sinne hoffen wir, dass es uns mit den drei jetzt vorgelegten Berichten gelungen ist, einen ersten Schritt zu machen. [9]
Günter MEY, Marion NIEHOFF, Robert FAUX
Mey, Günter; Niehoff, Marion & Faux, Robert (2003). Editorial Note: FQS Tagungen [9 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(1), Art. 22, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0301224.