Volume 3, No. 4, Art. 15 – November 2002

Versuch einer Integration von Kindheits- und Biographieforschung

Gerold Scholz

Review Essay:

Imbke Behnken & Jürgen Zinnecker (Hrsg.) (2001). Kinder – Kindheit – Lebensgeschichte. Ein Handbuch. Seelze-Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung GmbH, 1183 Seiten, ISBN 3-7800-5245-8, EUR 65.50

Zusammenfassung: Das zu besprechende Buch ist der Versuch einer Integration von Kindheits- und Biographieforschung. Es bietet einen umfangreichen, fast alle Autoren in diesen Bereichen versammelnde Übersicht über die beiden Forschungsgebiete. Ein Teil dieser Beiträge wird unter der Frage betrachtet, welchen Beitrag die Biographieforschung für die neue Kindheitsforschung zu leisten vermag. Unter "neue Kindheitsforschung" wird dabei jene Kindheitsforschung verstanden, die nach der "Perspektive von Kindern" fragt. Das Ergebnis besteht in Bezug auf das Buch darin, dass hier eine Vielzahl von neuen Verbindungen zwischen beiden Forschungsbereichen eröffnet wird. Eine der wesentlichen Verbindungen wird darin gesehen, dass die Biographieforschung Hinweise zu einem anderen Verständnis qualitativer Forschung im Kontext von Kindheitsforschung zu geben vermag.

Keywords: neue Kindheitsforschung, Biographieforschung, Qualitative Forschung, Kinderbuchforschung, Phänomenologie, Gedächtnisforschung

Inhaltsverzeichnis

1. Übersicht über das Buch

2. Das Vorwort: Begründung der Autoren

3. Zur Rezension

4. Wenn über Kinder geredet wird

5. Bücher über Kinder für Kinder

6. Lebensgeschichte in der Selbstdeutung

7. Kindheit in der Phänomenologie

8. Es geht um die Deutung von Bedeutungen

9. Fazit

Anhang: Übersicht zu dem Buch

Anmerkung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Übersicht über das Buch

Das Buch enthält außer einem Vorwort 13 Kapitel, eine Literaturübersicht, ein Sach- und Personenregister, sowie Hinweise auf die Autoren. Das Literaturverzeichnis verweist auf ca. 2000 Texte, das Sachregister auf mehr als 3000 Stichworte, zusammengetragen von 68 Autoren. Jedes der Kapitel wird von einem von den Herausgebern verfassten Text eingeleitet.

Die Kapitel tragen die folgenden Überschriften:

Eine Aufzählung der Arbeitsschwerpunkte der Autoren würde den vorhandenen Platz sprengen. Das Vorwort zählt summarisch auf: Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Literatur- und Kulturwissenschaft, sowie Lehrerinnen und Lehrer und den Bereich der Medizin-Therapie. [2]

2. Das Vorwort: Begründung der Autoren

Das Buch vereinigt Autoren zu den drei im Titel genannten Bereichen: Kinder, Kindheit, Lebensgeschichte. "Es geht um konkrete, individuelle Personen – Kinder –, um deren 'Lebensgeschichte(n)', aber auch um den Abschnitt im Leben, den wir gemeinhin als 'Kindheit' bezeichnen." (S.11) Da es sich um einen Wissenschaftsband handelt, geht es natürlich in allen drei Bereichen auch um Methoden. Die Autoren begründen diese Zusammenstellung zunächst biographisch aus Erfahrungen in den Feldern, in denen sie sich zu Hause fühlen. Systematisch geht es ihnen darum, das Zwischenfeld zwischen Kindheits- und Biographieforschung zu füllen, weil sie hier eine Forschungslücke sehen. Die Perspektive der Auswahl gründet auf der neuen Kindheitsforschung, die bei aller Unterschiedlichkeit davon ausgeht, Kinder als Akteure wahrzunehmen und versucht, diese Perspektive auf die Biographieforschung zu übertragen. Kinder sollen als Handelnde, als Gestalter und Mitgestalter ihres Lebenslaufes erscheinen. Die Herausgeber verweisen auf die Herausforderung, die in der Vielfalt von Autoren, Traditionen, Forschungsmethoden und Betrachtungsweisen liegt. Sie verstehen ihr Handbuch als "einen Atlas der biographischen Kindheitslandschaft in Vergangenheit und Gegenwart" bzw. als "Lesebuch ebenso wie als Nachschlagewerk" (S.13) [3]

Damit stellt sich dann allerdings die Frage, ob das Buch dazu beitragen kann, die konstatierte Forschungslücke, den Zwischenbereich zwischen Biographie- und Kindheitsforschung zu schließen. Denn die Verbindung zum Beispiel von Entwicklungs- und Sozialisationsparadigmen mit einem Paradigma der neuen Kindheitsforschung, nämlich dem der Orientierung am Hier und Heute, muss am konkreten Fall geleistet werden. Die relative Unterschlagung der Tatsache, dass Kinder in einer von Erziehung geprägten Umgebung leben, ist von den Herausgebern schon früher kritisiert worden. Die Diskussion über den Zusammenhang von Entwicklungstheorie, Sozialisationstheorie und neuer Kindheitsforschung versucht, die gewissermaßen historisch entstandenen Einseitigkeiten aufzubrechen. Ein Beispiel dafür ist Michael-Sebastian HONIGs Buch: "Entwurf einer Theorie der Kindheit" (1999). [4]

Aus meiner Kenntnis gibt es (noch) keine Fallbeschreibung, die diesen Anspruch einzulösen vermag. Der Tendenz nach und in der Einschränkung auf den Zusammenhang von Kindheitsforschung und Schulpädagogik lässt sich die Habilitationsschrift von Friederike HEINZEL (2001) benennen: "Kinder im Kreis. Kreisgespräche in der Grundschule als Sozialisationssituation". Sie versucht zu zeigen, dass das Kreisgespräch als pädagogische Inszenierung zumindest die Möglichkeit bietet, Kinder zugleich als Schüler und als Kinder wahrzunehmen. Allerdings lassen sich die von ihr vorgestellten empirischen Belege auch anders lesen, nämlich in dem Sinne, dass die zweifellos vorhandenen Möglichkeiten des Kreisgespräches von den Lehrerinnen kaum oder gar nicht wahrgenommen werden. [5]

Ich will damit sagen, dass ich die Forschungslücke ebenfalls sehe. Ein Handbuch kann sie kaum füllen, allerdings dazu beitragen, dass die Anknüpfungspunkte besser und klarer erkennbar werden. Insofern ist das Handbuch aus meiner Sicht ein Schritt auf dem Weg, die Forschungslücke zu schließen. Von den zwei Möglichkeiten eines Handbuches, nämlich der, unglücklicherweise eine Diskussion abzuschließen und der, eine neue zu eröffnen, erfüllt dieses Handbuch den zweiten Zweck. [6]

3. Zur Rezension

Ein Handbuch mit über 1200 Seiten und einer nicht mehr überschaubaren Vielfalt an Perspektiven, Disziplinen und Methoden lässt sich von einer Person nicht besprechen. Ich beschränke mich deshalb auf den Bereich, in dem ich mich auskenne und darin vor allem auf die Frage, inwieweit ich Diskurse zu identifizieren vermag, die für die Diskussion um die neue Kindheitsforschung relevant sind. Viele andere Fragen, die ebenfalls in dem Handbuch aufgeworfen werden, bleiben ausgeklammert. Zu den von mir besprochenen Aufsätzen füge ich eigene Gedanken an. (Für eine Übersicht über das gesamte Buch siehe den Anhang.) [7]

4. Wenn über Kinder geredet wird

Wenn immer über Kinder geredet wird, so sind es Erwachsene, die sprechen. Kinder reden zwar über andere Kinder nicht aber über Kindheit. Wie Erwachsene über Kinder sprechen, wie sie Kinder konstruieren, mit welchem Bild oder Leitbild sie argumentieren, lässt sich m.E. auf zwei Ebenen verfolgen. Zum einen ist das Kindheitsbild Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher und kultureller Situationen der Gegenwart, in der gesprochen wird und zum anderen Ausdruck eines historischen Vergleiches. Anton A. BUCHER schreibt zu dem zweiten Aspekt: "Wenn Erwachsene über Kinder urteilen, tun sie dies unvermeidlich vor der Folie des eigenen gewesenen Kindseins und stellen Vergleiche an." (S.33) Ich beginne die Betrachtung des Handbuches mit BUCHERs Aufsatz, der sich mit der Sicht von Erzieherinnen auf Kinder beschäftigt, also mit dem historischen Vergleich, weil sich von hier aus ein Weg bietet, der anderen Frage nachzugehen, nämlich der nach dem gegenwärtigen Kindheitsbild als Ausdruck einer gesellschaftlichen oder kulturellen Situation. Dieser Weg bietet sich deshalb an, weil der historische Vergleich zwischen der eigenen Kindheit und der der jetzt lebenden Kinder aus der Perspektive von Erwachsenen einen brauchbaren Hinweis auf die allgemeine Situation bietet. [8]

BUCHER hat 275 Erzieherinnen befragt. Einige Ergebnisse: Mehr als drei Viertel der Erzieherinnen erinnert sich an eine glückliche Kindheit und zwar unabhängig von dem Geschlecht der Befragten und unabhängig davon, wo sie aufwuchsen, auf dem Land oder in der Stadt. Etwas mehr als ein Drittel der Befragten hält die heutigen Kinder für weniger glücklich, etwa die Hälfte sieht keinen Unterschied zur eigenen Kindheit und nur elf Prozent glauben daran, dass die heutigen Kinder glücklicher seien als sie es damals gewesen waren. Am wenigsten optimistisch, schreibt BUCHER, sind die jüngeren Erzieherinnen, die 20-bis 30-Jährigen. Dieses Ergebnis stimmt überein mit anderen Befragungen, die sich auf Kompetenzen von Kindern beziehen. Die Mehrheit der Pädagoginnen und Pädagogen hält die heutigen Kinder für weniger rücksichtsvoll, belastbar, konzentrationsfähig usw. BUCHER verweist auf die Tradition dieser pessimistischen Kindheitsrhetorik und plädiert für eine Reflexion dieser Projektionen, denn er geht davon aus, dass die Kinder von heute "in 30 Jahren liebevoll an ihre eigene Kindheit denken" (S.46). [9]

Nun kann man die Frage stellen, was dieser Pessimismus bedeutet. Ob die heutigen Kinder glücklich sind oder nicht, weiß man nicht. Insofern sind auch die, die mit Kindern umgehen, angewiesen auf Einschätzungen anderer und nicht auf ihre Erfahrungen. Das Phänomen, dass die eigene Situation, der Nahraum positiver eingeschätzt wird als die allgemeine Situation und der Fernraum ist zum Beispiel auch aus Befragungen zu Umweltthemen bekannt. Man kann die Ergebnisse als "medieninduziert" begreifen, eben deshalb, weil in den formulierten Einstellungen eigene Erfahrungen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Aus dieser Sicht lässt sich dann fragen, was denn über Kinder geschrieben wird. [10]

5. Bücher über Kinder für Kinder

Hans-Heino EWERS' Beitrag "Kinderliteratur als Medium der Entdeckung von Kindheit" erzählt gewissermaßen eine andere biographische Geschichte und dies in einer anderen Weise. Er löst sich von jenen Erzähltraditionen, in denen die historischen Veränderungen der Kindheit entweder als Fortschrittsgeschichte oder als Verfallsgeschichte berichtet werden (vgl. LENZEN 1989). Wenn für die Frage nach der Verbindung von Kindheit und Glück eins der beiden, nämlich Glück, als Konstante und Kindheit als dazu veränderliche Kategorie betrachtet wird, kommt EWERS im Blick auf die gegenwärtige Kinderliteratur zu einem bemerkenswerten ambivalenten Ergebnis: "Denn die Gleichberechtigung beinhaltet auch das Eingebundensein in eine Mitverantwortung, den Zwang permanenten Aushandelns und Entscheidens; sie bedeutet für die Kinder das Ende des Zeitalters der Unmündigkeit, gleichzeitig aber auch das Ende des Zeitalters der Unbeschwertheit." (S.62) Nun verbindet EWERS zwei historische Prozesse miteinander: die Veränderung von Kindheit und die Veränderung von Kinderliteratur. Beides steht sicher in einer Wechselwirkung, auf die EWERS auch hinweist. [11]

Zunächst zum Begriff der Kinderliteratur und deren Unterscheidungen, wie sie der Autor vornimmt. EWERS versteht unter Kinderliteratur Literatur, die von Erwachsenen geschrieben und von Erwachsenen als geeignete Lektüre für Kinder angesehen wird. Die Kinderliteraturwissenschaft spricht von "intentionaler Kinderliteratur". Festzustellen ist, dass auch hier Kinder nicht gefragt wurden, werden und gefragt werden können. Von der intentionalen Kinderliteratur abgegrenzt werden kann die Literatur für Erwachsene, die von Kindern auch gelesen wird und die Literatur für Erwachsene, in denen Kinder eine Rolle spielen, in denen das Kindheitsbild – oder wie EWERS es nennt – "die Entdeckung von Kindheit" Bedeutung hat. Man wird sagen können, dass die intentionale Kinderliteratur von der Literatur für Erwachsene wesentlich beeinflusst oder bestimmt ist. Ohne die Kindheitsutopien eines ROUSSEAU oder HERDER, die "Kinder als Wesen von eigener Vollkommenheit ansehen" wäre auch keine Literatur für Kinder denkbar. Aber schon zu dieser Zeit, das macht EWERS deutlich, ist die Freisetzung des Kindes literarisch verbunden mit zwei Sichtweisen: der der Kindheitsidylle und der der "versehrten Kindheit", wie sie u.a. im Schülerroman der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Mittelpunkt stand. Aber auch die für Kinder geschriebene Literatur wird man noch einmal unterscheiden müssen, auch wenn es seit dem 18. Jahrhundert eine Literatur für Kinder gibt, in denen Kinder die handelnden Personen sind. Deren Intentionen bestanden nicht darin, Kindern von anderen Kindern zu erzählen:

"Ihre Intention lautete im Gegenteil, den Kindern zu vermitteln, wie die große Welt, d. h. die Welt der Großen, beschaffen ist, über welches Wissen man verfügen muss, um in dieser zu bestehen, welche moralischen Normen dort gelten und welche Verhaltensregeln in dieser zu beachten sind." (S.49) [12]

Den in der Mitte des 18. Jahrhunderts eintretenden Wandel sieht EWERS primär in einer Veränderung der Vermittlungsmethoden. Das Schlüsselwort dafür ist "Veranschaulichung". Das zu vermittelnde Wissen, die Regeln und Normen, die rechte Moral – so die Theorie – konnten je besser gelehrt werden, je näher die Geschichten im Erlebnishorizont der Kinder angesiedelt wären: "Die Kinderliteratur wurde zu einer von Kindern handelnden Literatur ...", jedoch, wie EWERS schreibt: "als Mittel zum Zweck" (S.50). Er nennt dies "Pseudokindheitsdichtung" (ebd.), weil es sich um erwachsene Charaktere handelte, die als Kinder verkleidet wurden. Ein Blick in die gegenwärtige Kinderliteratur zeigt, dass mit der von EWERS erstellten Systematik auch heute Unterscheidungen vorgenommen werden können. Er nimmt eine weitere Unterscheidung vor. Wenn man die Pseudokindheitsdichtung als Erziehungsliteratur verstehen kann, so sind deren Helden statisch. Jene Kategorie, die EWERS als "Erziehungsliteratur" bezeichnet, betrachtet den Lernprozess zum vollwertigen Erwachsenen als Entwicklungsprozess, Kinder als Wesen, die dabei sind, sich zu vervollkommnen. Obwohl Kinder als Helden in diesen Büchern geschildert werden, besteht die pädagogische Absicht dieser Erziehungsliteratur darin, Kinder aus der Kindheit herauszuführen und nicht darin, Kindern ein Verständnis ihrer Lebenssituation zu ermöglichen. Das Beispiel macht deutlich: EWERS Systematik fragt nun nicht mehr danach, ob Kinder in Büchern für Kinder vorkommen, sondern danach, in welcher Weise - als Erzählung über Kinder oder über potenzielle Erwachsene. Die Spannung und Brisanz dieses Verhältnisses wird in jenen Texten sichtbar, in denen negative Kinderfiguren im Zentrum stehen. Auch deren Autoren müssten eine Ahnung davon besessen haben, dass es eine Differenz zwischen geschriebenem Text und aneignendem Leser gibt. Je lasterhafter ein Kind dargestellt wird, um vor dieser Folie die Tugend zu entfalten, desto geeigneter sind sie, einen Beitrag zur Erforschung der Kindheit zu leisten – schreibt EWERS; und desto größer dürfte aus meiner Sicht auch die Gefahr gewesen sein, dass sich die Leser mit dem "falschen" Helden identifizierten. EWERS nennt dies "Kippphänomene" und erwähnt Tom Sawyer, Huckleberry Finn, Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga. [13]

Bereits für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts identifiziert EWERS Bücher, deren Absicht die "Demonstration allein der Eigengesetzlichkeiten der kindlichen Lebensphase" war. In ihnen fielen Inhalt und Thema zusammen. Sie richtete sich allerdings an Erwachsene, weil, so EWERS, die Pädagogen die Befürchtung hegten, dass die so dargestellten Kinder als Vorbild missverstanden werden könnten und alle Literatur für Kinder pädagogisch sein müsse. Mit einer anderen Argumentationsfigur verlässt die Romantik den Zusammenhang von Inhalt und Thema. Die Konstruktion von Kindheit als vorreflexive Phase verbiete die Reflexion. An die Stelle konkreter Kinder tritt "kindliche Geistesart" in Form von Reimen, Volksliedern, Märchen, Schwänken, Sagen etc. EWERS verweist allerdings auch hier auf die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung. Eine Reihe romantischer Autoren "... bieten den kindlichen Rezipienten die Möglichkeiten, Konflikte zu verarbeiten, die aus der Gegensätzlichkeit von romantisch definierter Kindheitswelt und rationalistischer gesellschaftlicher Umwelt resultieren" (S.55). [14]

Aus einer anderen Sicht unterscheidet EWERS zwischen erinnerter Kindheit und beobachteter Kindheit und hält letzteres für das entscheidende Merkmal moderner Literatur. Die Autoren der "erinnerten Kindheit" unterteilt EWERS in "naive" und in "sentimentalische". Der naive Dichter kehrt zurück in eine noch präsente Vergangenheit, der sentimentalische beschwört die Sehnsucht nach einer entschwundenen Frühzeit: "Die Kindheit wird als ein verlorenes Paradies in Erinnerung gebracht, und zwar so, dass jeder Gedanke an eine Rückkehr von vornherein ausgeschlossen ist." (S.58f) [15]

Unter der Überschrift "Kritische Kindheitsdichtung" fasst EWERS jene modernen Autoren, die sich als Anwalt des Kindes begreifen. Sie sind Beobachter. Für sie ist die Kindheit nicht Ausgangspunkt von Erziehung, sondern Teil einer sozialen Wirklichkeit, in die der Autor mit moralisch-politischem Impetus mit seinem Werk als Anwalt des Kindes eingreift. Er unterstellt die Fähigkeit des Kindes zur Partizipation, zur Reflexion und zu Eigenverantwortlichkeit. Wenn hier von Erziehung gesprochen werden kann, dann werden Erwachsene als zu Verändernde in den Blick genommen. EWERS charakterisiert so die "emanzipatorische Kinderliteratur" der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Auch sie, so seine Kritik, war nicht an der Erkundung von Kindheit interessiert, auch sie handelte von "der großen Welt und ihren Machenschaften" über die es die Kinder aufzuklären gelte. Erst in der Folge – so EWERS – sei deutlich geworden, dass das Aufklärungsbedürfnis sich auf die Probleme und Strukturen der Lebenswelt von Kindern zu beziehen habe. Diese "neue Kinderliteratur", so EWERS, sei zu einem "... vorzüglichen Organ der Exploration realer kindlicher Lebensverhältnisse... " (S.61) geworden und zwar durch unvoreingenommene und gewissenhafte Beobachter. Dies betreffe die sozialen Dimensionen kindlicher Lebenswelt, wie deren Psyche. Diese Autoren nennt EWERS "Halbbrüder des modernen Kindheitsforschers" (S.60) und schreibt, dass sie in der Lage seien

"... mittels einer psychologisch vertieften Figurenzeichnung die gegenwärtige lebensweltliche Situation wie die aktuelle psychische Befindlichkeit, das Lebens- und Zeitgefühl von Kindern mittels der Gestaltung unverwechselbarer literarischer Kindergestalten einzufangen, mittels der Erfindung kindlicher Charaktere, die sich ins kulturelle Gedächtnis einschreiben" (S.62). [15]

Ich habe den Beitrag von EWERS ausführlich vorgestellt, weil er systematische Unterscheidungen ermöglicht. Setzt man einmal die Trennung von Kindern und Erwachsenen voraus, dann kann die Literatur diese Trennung ignorieren oder akzeptieren, sie kann sie als jeweils eigenständig oder aufeinander bezogen verstehen; Kindheit lässt sich als das eigentlich Wertvolle begreifen oder als zu vernachlässigende Phase und damit Erwachsenwerden als das alleinige Ziel von Kindheit. Die Bücher können sich an das Kind im Kinde wenden oder an den Erwachsenen im Kinde oder auch an das Kind im Erwachsenen usw. All dies sind Möglichkeiten von Erwachsenen, sich Kinder vorzustellen. Von daher wäre zu präzisieren, was ein "Halbbruder" ist. Aus meiner Sicht gehört zu der wissenschaftlichen empirischen Kindheitsforschung die Reflexion der eigenen Beobachtungen, die Reflexion der Beziehung von Forscher und erforschten Kindern. Forschern ist es deshalb m.E. nicht möglich zu leisten, was EWERS für die Autoren der neuen Kinderliteratur behauptet, nämlich die lebensweltliche Situation von Kindern einzufangen. Der in der Neuen Kindheitsforschung zentrale Begriff der "Perspektive des Kindes" kann nur eine veränderte Perspektive des Forschers sein. Jede Aussage über das Kind bleibt eine Aussage eines Erwachsenen, der sich nicht aus der Notwendigkeit der Konstruktion von Kindheit als Grundannahme seiner Forschung befreien kann. Es gibt keine Möglichkeit, Aussagen über die Welt aus der Sicht von Kindern zu machen, die nicht Projektionen sind. Von daher stellt sich allerdings die Frage, ob nicht Dichtung als Kunst eben das vermag, was die Wissenschaft nicht leisten kann, nämlich kindliche Charaktere zu erfinden, wie EWERS schreibt, die sich ins kulturelle Gedächtnis einschreiben. Weil ich diesen Gedanken teile, teile ich auch EWERS' Kritik daran, dass sich die Pädagogik weitgehend von der Beschäftigung mit Kinderliteratur verabschiedet hat. Sie müsste es, darin stimme ich mit dem Autor überein, unbedingt tun; einmal, um diese Erfindungen zu besichtigen, die die Erziehungswissenschaft selbst nicht machen kann; zum anderen aber auch deshalb, weil sich auch die neuere Kinderliteratur nicht nur als Beschreibung der Lebenswelt von Kindern lesen lässt, sondern auch als Beschreibung der Lebenssituation der Erwachsenen. Das Bild des "kompetenten Kindes" ist ebenso eine Beschreibung von Kindern, wie eine Wunschprojektion von Erwachsenen unserer Zeit. Anders als die Kinderliteratur und die Forschung über Kinderliteratur ist sich allerdings die Erziehungswissenschaft bewusst über den Zusammenhang von Konstruktion und Handlung. Das Bild, das sich der Erwachsene vom Kind macht, bestimmt auch, was er von dem Kind will – um einen Ausdruck von SCHLEIERMACHER in einer anderen Formulierung zu benutzen. Die neue Kinderliteratur leistet m.E. beides: Sie erzählt Kindern, wie sich andere Kinder etwas über ihre Lebenssituation erzählen. Sie belastet damit Kinder mit Verantwortung und entlastet damit gleichzeitig Erwachsene von Verantwortung. [16]

6. Lebensgeschichte in der Selbstdeutung

Die empirische Neue Kindheitsforschung, die mit dem Begriff der "Perspektive des Kindes" arbeitet, steht unter anderem methodisch vor zwei Problemen: Worüber können Kinder Aussagen machen und inwiefern sind Aussagen von Erwachsenen über ihre Kindheit Hinweise auf die als Kind eingenommene Perspektive.1) Mit diesen beiden Fragen betrachte ich Beiträge in den Kapiteln II "Lebensgeschichte in der Selbstdeutung von Kindern" und III "Erinnerungen Erwachsener als Königsweg zum Kind". [17]

Das II. Kapitel beginnt mit dem zentralen Aufsatz von Lotte KÖHLER "Zur Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses". KÖHLER zeichnet ein Modell des Gedächtnisses, das zu zwei für die angesprochenen Fragen wesentlichen Aussagen führt. Erstens: Jedes Erinnern ist eine Neukonstruktion des Gehirns. Zweitens: "Erst im Alter von fünf bis sieben Jahren ist die Gehirnreifung so weit fortgeschritten, dass ein autobiographisches Gedächtnis möglich wird." (S.66) [18]

Im Gegensatz zu der Auffassung, dass Gedächtnisinhalte einen Ort haben, geht KÖHLER davon aus, dass eine Erinnerung die Aktivierung bestimmter neuronaler Netzwerke zur Grundlage hat. Sie spricht dabei von einer "Konstruktion einer Erinnerung", wohl deshalb, weil Erinnern selbst als aktiver Akt Ein- und Ausschließungen vornimmt. Die neuronalen Netzwerke bilden sich als häufiger erregte Synapsen, die aufgrund ihrer Erregung erhalten bleiben, während nicht erregte Verbindungen absterben. Die Netzwerke bilden sich also als Ergebnis einer Auslese. Dies gilt aber nur für jenen Teil des Gehirns, der – wie KÖHLER schreibt – nicht "vorverdrahtet", also erfahrungsunabhängig ist. KÖHLER unterteilt das Gedächtnis zunächst in zwei Aspekte. Der eine ist prozedural/implizit, der andere explizit/deklarativ. Das prozedurale Gedächtnis ist nach KÖHLER dem Bewusstsein nicht zugänglich, beeinflusse aber Verhalten und Stimmungen. Sie nennt das "Urvertrauen" als Beispiel für früh erlebte Affektmuster, die einen affektiven Kern bilden. Auch automatisierte Fähigkeiten werden dem prozeduralen Gedächtnis zugewiesen. In Bezug auf das explizite Gedächtnis unterscheidet KÖHLER zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis: "Im semantischen Gedächtnis werden allgemeines 'Weltwissen' und Faktenkenntnisse aufgewahrt, im episodischen hingegen Erinnerungen an persönliche Erlebnisse." (S.68) Eine dritte Form spielt eine entscheidende Rolle für die Frage nach dem autobiographischen Gedächtnis. KÖHLER nennt sie "generisch-episodisch", weil darin wiederkehrende Gattungen von Ereignissen gespeichert werden. Es ist Voraussetzung dafür, dass ein einzelnes Ereignis zu der Kette von Ereignissen in Beziehung gesetzt werden kann. Man könnte sagen, dass es sich um Wissen um die Zeitdimension von Ereignissen handelt. KÖHLER sieht als Voraussetzung die Fähigkeit, Ereignisse als "selbst erlebt" repräsentieren zu können und geht davon aus, dass dies erst ab dem 4. Lebensjahr möglich sei. Dieses "autobiographische Gedächtnis" basiert auf einem kognitiven Selbstkonzept und enthält Erinnerungen, die in enger Beziehung zum Selbst stehen. Diese Fähigkeit zur Repräsentation wird als Voraussetzung dafür angesehen, dass man sich später als älterer Mensch an Ereignisse aus der Kindheit erinnern kann. Anders formuliert: an die Zeit, in der diese Fähigkeit noch nicht entwickelt ist, kann man sich nicht erinnern. Mit diesem Gedächtnismodell versucht KÖHLER auch eine neurobiologische Erklärung für das Phänomen der "infantilen Amnesie". [19]

Die Repräsentationsfähigkeit ist mit Sprache oder allgemeiner mit Symbolbildung verbunden, mit der Fähigkeit, zwischen Symbol und Symbolisiertem zu unterscheiden. Für die empirische Erforschung von Kindern scheint mir der Hinweis zentral, dass für jüngere Kinder die Unterscheidung von Bezeichnung und Bezeichnetem nicht stabil sei, dass Worte nicht nur eine Bedeutung haben, sondern sie sind. Aus meiner Erfahrung ist die These stärker generalisierbar. Sie gilt auch für ältere Kinder und auch für Erwachsene. Auch für Erwachsene haben Wörter eine magische Bedeutung und sei es deren sinnliche Gestalt, und für ältere Kinder wird jede Forschung analysieren müssen, ob der Forscher dem Irrtum anheim gefallen ist zu unterstellen, dass der Wortgebrauch eines Kindes oder Jugendlichen dem Wortgebrauch eines Erwachsenen entspricht. Eher kann – zumindest methodisch – davon ausgegangen werden, dass forschender Erwachsener und erforschtes Kind zwar gleiche Wörter benutzen mögen, aber unterschiedliche Sprachen sprechen. [20]

Einen ebenso fruchtbaren Ansatz für die Kindheitsforschung sehe ich in KÖHLERs Versuch, die Bedeutung von Erzählungen herauszustellen. Erzählungen bieten – im Unterschied zu Aufzählungen – die Möglichkeit, durch Formung und Dramatisierung dem Erlebten einen Sinn zu verleihen und diesen anderen mitzuteilen. Die Erzählfähigkeit, angebahnt durch die im Spiel erworbene Fähigkeit des Perspektivenwechsels, gibt dem Kind die Möglichkeit, seine realen Erfahrungen zu überschreiten. Es kann sich, in meinen Worten, durch Erzählungen eine eigene Welt schaffen und diese geschaffene Welt auch in Beziehung zur Realität setzen. [21]

Wenn Tilmann HABERMAS und Christine PAHA in ihrem Beitrag "Frühe Kindheitserinnerungen und die Entwicklung biographischen Verstehens in der Adoleszenz" schreiben, dass biographisches Verstehen sich erst im Laufe der Adoleszenz herausbilde, so sehe ich darin keinen Widerspruch zu dem Aufsatz von KÖHLER. Denn biographisches Verstehen meint hier das Zusammenspiel von Veränderung und Identität einerseits als Prozess und andererseits in der Strukturlogik des Prozesses darstellen zu können; oder wie die Autoren schreiben: "einen Zusammenhang zwischen der Person und ihrer bisherigen Entwicklung herzustellen" (S.85). Aus dieser Sicht lässt sich ebenfalls eine Warnung an die Kindheitsforschung formulieren. Es muss bei jeder von einem Kind erzählten Episode unklar bleiben, ob die Episode als Erlebnis erzählt wird oder ob die Erzählung des Erlebnisses von dem Kind als Beispiel für einen allgemeinen Zusammenhang gemeint ist. Der Forscher muss sich fragen, ob nicht selbst die Kinder, die in der Lage zu sein scheinen, in der Darstellung ihrer Biographie einem roten Faden zu folgen, eigentlich aufzählen oder ein roter Faden deshalb in ihre Erzählung projiziert wird, weil die Aufzählung Mustern folgt, die Erwachsenen vertraut sind. Ich teile zumindest in Hinsicht auf eine methodische Vergewisserung die Eingangsthese der beiden Autoren, dass jede autobiographische Perspektive auf Kinder und Kindheit immer eine Fremdperspektive Erwachsener sei. [22]

Die möglichen Grenzen dieser These werden im Folgenden diskutiert. Zunächst spitze ich sie aber noch einmal zu. Charlotte HEINRITZ kommt in Auseinandersetzung mit der Autobiographie "Aus meinem Jugendland" von Isolde KURZ in ihrem Beitrag "Das Kind in der autobiographischen Kindheitserinnerung" zu dem Schluss, dass sich Isolde KURZ in ihrer Schilderung eines Ereignisses der frühen Kindheit nicht erinnert, sondern, dass alle Elemente dieser Geschichte Rekonstruktionen seien. Das Ereignis ist die Begegnung des kleinen Kindes mit einer Wassermühle in Begleitung ihrer Erzieherin. Die Begriffe, in denen KURZ das Ereignis beschreibt, seien Begriffe von Erwachsenen. HEINRITZ spitzt zu:

"Nimmt man alle kritischen Einwände zusammen, dann müssen wir die Hoffnung aufgeben, in den autobiographischen Kindheitserinnerungen Antworten zu finden auf Fragen, wie Kinder sich selbst und die Welt erfahren, Kenntnisse über die Prozesse des Heranwachsens und der Identitätsentwicklung 'von innen her' zu erlangen, authentische Berichte aus der Perspektive des Kindes zu bekommen." (S.197) [23]

Die Begründung für die Erinnerungsversuche sieht HEINRITZ in der Unerträglichkeit, weder das Ende des Lebens noch den Beginn des Lebens zu fassen bekommen zu können. Im Sinne einer historischen Anthropologie plädiert sie dafür, den Versuch aufzugeben, bestimmen zu wollen, was ein Kind sei, zugunsten einer Analyse der kulturellen Traditionen und Muster von Kindheitserinnerungen. [24]

Sowohl Theodor SCHULZE ("Rekonstruktion der Kindheit in autobiographischen Texten") als auch Wilfried LIPPITZ ("Die biographische Perspektive auf das Kind – aus phänomenologisch-erziehungswissenschaftlicher Sicht") argumentieren in ihren Beiträgen gegen diese Auffassung. SCHULZE argumentiert gegen eine bloß kognitivistische Theorie des Erinnerns. Die erzählten Episoden seien nicht als kognitive, sondern als emotionale Prozesse zu begreifen. Im Erleben werden Vorgänge affektiv besetzt und damit bedeutsam. Die Begegnung von Kind und Mühlrad wird von der erwachsenen Autorin in Worte gefasst, mit denen sie versucht, auf die damaligen Erfahrungen zu verweisen. SCHULZE sieht in der Erzählung von Isolde KURZ Topoi, die durch den Text hindurch zu erschließen seien und nennt zum Beispiel die Erfahrung, unfähig zu sein Größen- und Kräfteverhältnisse zu durchschauen, die Erfahrung der Kränkung, die Erfahrung der Ambivalenz des Wassers, wie der Erfahrung der Ambivalenz von Begehren und Gefahr. [25]

Wenn ich SCHULZE recht verstehe, so argumentiert auch er nicht anthropologisch, sondern historisch-genetisch. Kindheit wird danach intergenerationell verstanden:

"Kindheit ist die Umwelt, in der das Kind heranwächst. Diese Umwelt wird in der Neuzeit von den Erwachsenen so gestaltet, dass sie als eine relativ eigenständige Kinderwelt erscheint. Doch diese Kinderwelt ist Teil der umfassenderen Erwachsenenwelt, auf sie bezogen und nur relativ und in bestimmten Hinsichten von ihr unterschieden." (S.179) [26]

SCHULZE stellt die Ambivalenz dieser Doppelwelt für Kinder heraus, wenn er schreibt: "Es [das Kind – G.Sch.] weiß oder ahnt, dass hinter der Kinderwelt eine Erwachsenenwelt liegt, vor der es sich fürchtet und auf die es zugleich neugierig ist" (S. 179). Die Umwelt des Kindes wird also von den Kindheitsvorstellungen der Erwachsenen der Neuzeit bestimmt. Erlebnisse, die in Kindheitserinnerungen aufbewahrt werden – so SCHULZE – sind vor dem Hintergrund der Beziehung von Kinder- und Erwachsenenwelt zu sehen, aus der Differenz zwischen dem Leben der Kinder und dem der Erwachsenen. SCHULZE nennt dazu vier Tendenzen der Gegenwart: (1) Die Abschirmung der Kinder, (2) die frühzeitige Formung des Verhaltens durch Erziehung, (3) die Aneignung der Kulturtechniken und die Erweiterung des Wissenshorizontes über den Umkreis der Erfahrung hinaus und (4) das wachsende Interesse der Erwachsenen an den Eigenarten und kreativen Kräften, aber auch den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder. Aus dieser Sicht kann die Auswertung von Kindheitserinnerungen biographisch, bildungstheoretisch und historisch-politisch von Bedeutung sein. Wenn sich dieses Programm gewissermaßen noch im Rahmen einer historischen Anthropologie verorten ließe, zielt SCHULZE auf die Unhintergehbarkeit sinnhafter Erfahrungen. Aus seiner Sicht wird es immer wichtiger "... in der eigenen Lebensgeschichte auf Erfahrungen zurückgreifen zu können, an denen sie [einzelne Menschen – G.Sch.] sich orientieren und in denen sie sich ihrer individuellen Besonderheit vergewissern können" (S.181). [27]

Aus meiner Sicht bleibt einerseits die oben formulierte Warnung an die Kindheitsforschung als berechtigt bestehen. Solange sie etwa in der Tradition PIAGETs kognitivistisch fragt, wie sich das Kind vom Erwachsenen unterscheide, darf sie die Repräsentationsformen des Kindes nicht mit denen der Erwachsenen gleichsetzen. Ich teile mit SCHULZE die Auffassung, dass zu fragen ist, was die von Kindern benutzten Repräsentationen bedeuten und dass diese Bedeutungen Ausdrücke einer Beziehungswelt sind, die im wesentlich sozial, emotional und sinnlich bestimmt ist. Dies bedeutet nicht zu unterstellen, dass Kinder nicht abstrahieren würden, dass sie nicht auch über Theorien verfügten, über Argumente und über Muster der Überprüfung der Zulässigkeit von Argumenten. Das bedeutet nur, sich den Prozess der Abstraktion nicht so vorzustellen, wie es die Erwachsenenkultur der Neuzeit seit der Erfindung des naturwissenschaftlichen Experimentes und des Buchdrucks zu tun pflegt. Das, was dann als Eigenständigkeit des Kindes in den Blick gerät, kann wiederum nur bestimmt werden im Blick auf die Andersartigkeit des Erwachsenen. Kindheitsforschung kann nicht anders bestimmt werden als intergenerationell, weil beide Begriffe, Kind, wie Erwachsener, Positionsbegriffe sind, die Relationen beschreiben. Dies bedeutet nun auch, dass die Position des Kindes dem Erwachsenen nicht uneingeschränkt verfügbar ist. Die Entwicklung einer eigenständigen Kindheit hat beides geschaffen: Die relative Unverfügbarkeit des Erwachsenen über Kinder und – damit zusammenhängend – die Ausdifferenzierung von Kontrollmechanismen. Die Topoi, von denen SCHULZE spricht, sind in meinem Verständnis sowohl Erinnerungen an Erlebnisse einer Kindheit in einer Erwachsenenwelt als auch den und dem Erwachsenen nicht vollständig verfügbare Momente eines Lebens. – Von hier aus bietet es sich an, sich mit dem Beitrag von Wilfried LIPPITZ zu beschäftigen. [28]

7. Kindheit in der Phänomenologie

Wilfried LIPPITZ' Beitrag "Die biographische Perspektive auf das Kind – aus phänomenologisch-erziehungswissenschaftlicher Sicht" gibt eine knappe Einführung in die Grundzüge einer nach-HUSSERLschen Phänomenologie, wie sie vor allem von MERLEAU-PONTY entwickelt wurde. Die Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem ist in einer gewissen Weise konstitutiv für die Phänomenologie, denn sie versucht Entwicklung aus dem Anfang heraus zu erklären. Folglich formuliert LIPPITZ als Programm die systematische Verbindung von genetischer Perspektive der Phänomenologie mit der Erforschung des Kindes: "Denn das philosophische Reflexionsbewusstsein des Erwachsenen hat nicht nur im metaphorischen Sinne einen faktischen Leib, eine biographische und überindividuelle Geschichte und ist somit in der Welt sozial verankert." (S.143) Oder in einer anderen Formulierung: "Zwischenleibliche, präreflexive Strukturen der Intersubjektivität fundieren das menschliche Selbst- und Weltverhältnis und dezentrieren es." (S.146) Für das Programm und die Bedeutung von Kindheit heißt dies, das eine Begründung für die Entwicklung von Reflexivität gefunden werden muss, die – anders als die von der Phänomenologie kritisierten Theorien, vor allem die PIAGETs – die Entwicklung von Reflexivität aus der Präreflexivität heraus erklären muss. LIPPITZ betont, unter Berufung auf WALDENFELS das Moment der Medialität. Kein Mensch ist allein. Handlungen, Erfahrungen, Sprachen sind im "Zwischenreich der Interaktionen" angesiedelt. Sinn artikuliert sich als "Differenzgeschehen". Dies gelte auch für den Leib. Er ist "... ein vieldimensionales Geflecht von Natur, Kultur-, Fremd- und Selbstartikulation, das sich der in sich zentrierten Selbstbeobachtung entzieht" (S.147). Erfahrungen der Kindheit, deren "andere Art der Rationalität", bilden den Bodensatz seiner rationalisierten Welt- und Selbstsichten. Hier bleibt LIPPITZ der HUSSERLschen Erkenntnis der Lebenswelt als Fundierung aller Wissenschaft verbunden. Als Beispiele für die kindliche Weltsicht nennt LIPPITZ "Animismus" und "Synkretismus" und damit Begriffe der Entwicklungspsychologie. Er versucht, wenn ich es recht verstehe, damit eine Balance zu halten. Die Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie sollen Projektionen verhindern. Andererseits liest LIPPITZ diese Erkenntnisse anders, nicht bloß als Defizite, sondern auch als Reichtum eigener Formen und Gestalten. Die Bedeutung der Kindheitsforschung für die Phänomenologie ist wohl darin zu sehen, dass die für die Phänomenologie methodisch entscheidende Einklammerung der Alltagswelt als Mittel der Beschreibung der Lebenswelt in den frühen Formen von Alltagswelt einen unmittelbareren oder zumindest anderen Zugang zu den Strukturen des Erlebens bietet. Am Beispiel von Max van MANEN schreibt LIPPITZ, dass der Akzent auf Phänomenen liegt, "... die nicht in schon bestehenden konventionellen Ordnungen in Erscheinung treten, sondern prototypische Strukturen allererst generieren" (S.152). Zu den bevorzugten Textsorten der Phänomenologie gehören Erzählungen, Befragungen und autobiographische Erinnerungen von Erwachsenen. [29]

LIPPITZ wendet sich gegen den Dualismus von Ereignis und Erlebnis einerseits und erzählter Lebensgeschichte andererseits. Unter Rückgriff auf Gabriele ROSENTHAL wird die These aufgestellt, dass erlebte und erzählte Lebensgeschichte in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. Die Erzählung selber kann als ein Moment eines offenen Deutungsprozesses verstanden werden. Grundlegend für diesen Gedanken ist u.a. die auf HUSSERL zurückgehende Einsicht, dass Erinnerung nicht die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart sieht, sondern vielmehr Vergangenes im Kontext der Gegenwart und im Hinblick auf eine antizipierte Zukunft konstituiert wird. Erzählungen, so könnte man sagen, sind Sinndeutungen, die als solche einen Zukunftshorizont aufweisen. Es sind Versuche einer Perspektivenbestimmung in einer Situation, die dem Individuum nicht völlig zugänglich ist. "Hier formieren sich im Gang der Erzählungen", schreibt LIPPITZ, "vielfältige unthematische Verweisungszusammenhänge, untergründig von den Erzählenden nicht bewusste Verflechtungen und wechselweise Überschüsse des Gemeinten und Gesagten" (S.159). Erzählen wird angesichts der Differenz zwischen Erlebnis und Erzählung zu einer Kompetenz, die von den Lebensereignissen bestimmt wird, wie von der Erzählfähigkeit. Den Wert der Biographieforschung für die Phänomenologie sieht er in der schon dargestellten genetischen Komponente, den Wert der Phänomenologie für die Biographieforschung in der Verankerung der Biographieforschung in einer philosophischen Tradition der Erkenntnistheorie und betont schließlich für die Pädagogik die Nähe zur pädagogischen Handlungspraxis. [30]

Man kann diesen Schluss als vorsichtig und deshalb als angemessen lesen. Man kann ihn auch lesen als Zweifel an der These, die die Lebenswelt als Fundierung aller Reflexivität betrachtet. Der Leib als Nullpunkt aller Erfahrung scheint zugunsten eines Modells der Responsivität und Medialität komplexer als in früheren Texten verstanden zu werden. Den Gewinn würde ich darin sehen, dass die aus meiner Sicht idealistische Annahme eines präreflexiven ungeteilten Bewusstseins aufgegeben wird zugunsten eines hochkomplexen Denkens, dem dann von Beginn an zugestanden werden muss, dass es ein Geflecht von Natur, Kultur, Fremd- und Selbstartikulation ist. [31]

Die Frage am Anfang dieses Teiles aufgreifend kann man sagen, dass aus LIPPITZ' Sicht die autobiographische Erzählung des Erwachsenen durchaus etwas über die Kindheit mitzuteilen vermag, weil dies nicht nur ein kommunikativer Akt zwischen Erzähler und Befragten ist, wie dies DU BOIS-REYMOND in ihrem Beitrag sieht, sondern weil ein Erwachsener erzählt, der nicht vollständig über sich verfügt, in dessen Erzählungen Erlebnisse des Kindes enthalten sind, die in der Erinnerung über sich hinausweisen, weil bei aller Differenz zwischen Kind und Erwachsenem beiden etwas gemeinsam ist, was sich – bei aller Schwierigkeit seiner Beschreibung – als Intersubjektivität bezeichnen lässt. LIPPITZ macht ein Problem deutlich ohne es ausdrücklich zu formulieren. Dies ist die Frage nach den Möglichkeiten der Versprachlichung von Nicht-Sprachlichem. [32]

8. Es geht um die Deutung von Bedeutungen

Heinz-Hermann KRÜGER und Cathleen GRUNERT schreiben am Schluss ihres Beitrages "Biographische Interviews mit Kindern": "Die Kindheitsforschung nimmt damit im Kontext der qualitativen Forschung eine gewisse Schrittmacherfunktion ein, von der vielleicht auch Impulse für die Weiterentwicklung der qualitativen Forschung generell erwartet werden können." (S.142) [33]

Ich nehme diesen Gedanken auf und frage angesichts einer Diskussion, in der es zu den Stammtischwahrheiten zu gehören scheint, dass der Streit um die Differenz von qualitativen und quantitativen Methoden ad acta zu legen sei, ob es nicht doch einen wesentlichen Unterschied gibt. Dazu muss man aber die Frage anders stellen. Es geht nicht um qualitative oder quantitative Methoden, sondern um Fragen, die nur qualitativ bzw. nur quantitativ zu beantworten sind. Qualitative Fragen – nicht nur in Bezug auf Kinder – haben mit Bedeutungen zu tun; quantitative mit Deutungen. Damit ist nicht gesagt, dass nicht in Bedeutungen Deutungen enthalten sind oder in Deutungen Bedeutungen. Entscheidend ist, was man wissen möchte. Ich versuche diesen Zusammenhang zunächst an dem Beitrag von KRÜGER und GRUNERT zu diskutieren und anschließend an dem Beitrag von Horst RUMPF ("Persönliches Wissen und Erlebnisgeschichte von Natur in autobiographischen Textstücken"). [34]

KRÜGER und GRUNERT führen eine Reihe von Methoden biographischer Interviews mit Kindern auf, die sich in den letzten Jahren in der Biographieforschung und in der Kindheitsforschung entwickelt haben. Für Kinder unter fünf Jahren halten sie es für wenig erfolgversprechend Interviews einzusetzen; für Kinder im Grundschulalter sehen sie die Möglichkeit, qualitative Interviews durchzuführen; für biographisch-narrative Interviews sehen sie ein Mindestalter von zehn Jahren, weil Kinder noch nicht in der Lage sind, "... ihre Lebensgeschichte als Ganzes zu erfassen und aus ihrer Sicht zu erzählen" (S.136). Implizit plädieren die Autoren für ein triangulierendes Vorgehen, also die Kombination verschiedener Methoden der Datenerhebung und der Datenauswertung. [35]

Triangulation setzt voraus, dass etwas miteinander in Beziehung gesetzt wird, was sich auch miteinander in Beziehung setzen lässt. Helga KELLE (2001) hat auf die Problematik der Triangulation verwiesen. Ich erläutere dies an einem Beispiel. In einer auch von KRÜGER und GRUNERT zitierten Studie von Hans PETILLON wurden Grundschulkinder befragt, ob sie mit Kindern des jeweils anderen Geschlechtes spielten. Dies haben sie durchweg verneint. In einer von Gertrud BECK und mir durchgeführten Studie "Soziales Lernen. Kinder in der Grundschule" (1995), die auf teilnehmender Beobachtung beruhte, kamen wir zu dem entgegengesetzten Ergebnis. Daraus ist meines Erachtens der Schluss zu ziehen, dass sich eine qualitative Methode von dem Paradigma der mechanischen Naturwissenschaft lösen muss, nach der es ein erkennendes Subjekt und ein erkennbares Objekt gibt. Vielmehr wird man die Verwicklung von Beobachter und Beobachtetem auch auf die Methodenfrage beziehen müssen. Die Methode strukturiert den Gegenstand mit, den sie beobachtet. Eine andere Methode führt zu einem anderen Gegenstand. Bedeutungen lassen sich nicht mit Methoden erfassen, die methodisch Deutungen konstruieren. Diese Frage ist besonders für die Kindheitserforschung relevant, aber nicht nur für sie. Man könnte etwa fragen, wie man denn Kinder im Alter unter fünf Jahren erforschen könnte, wenn Interviews nicht möglich sind. Die in letzter Zeit zunehmende Nennung der "dichten Beschreibung" als eine Forschungsmethode scheint mir eher Hinweis auf eine Hoffnung zu sein, als auf eine Lösung, weil die in dem von Clifford GEERTZ popularisierten Begriff enthaltenen Fragen kaum diskutiert werden. Wenn man "dichte Beschreibung" als den Versuch betrachtet, durch Erzählen statt Beschreiben jenes vermitteln zu können, was sich diskursiv nicht sagen lässt, dann verweist die häufige Nennung dieser Methode auf das Gefühl einer Grenze der Sprache. Es verweist auf die Frage, wie denn das, was weder der Befragte noch der Fragende formulieren können, erfasst werden kann. Die Frage stellt sich, weil spürbar ist, dass es einen nicht-sprachlichen Bereich gibt, der wesentlich zu sein scheint für das Verständnis dessen, was gesagt wird. Der aus der Phänomenologie stammende Vorwurf der "Sprachvergessenheit" der kognitiv orientierten Forschung meint, dass die Beziehung zwischen Bedeutung und Deutung nicht unterschlagen werden dürfe. [36]

Was mit der Beziehung von Bedeutung und Deutung gemeint sein kann, darauf gibt Horst RUMPF einige Hinweise. Er schreibt: "Infolgedessen ist von jeder Biographie in der westlichen Zivilisation zu erwarten, dass in ihr irgendeine Auseinandersetzung zwischen sinnlich vielartiger und schwach domestizierter Weltberührung einerseits und distanzierter Weltbeherrschung statthat." (S.308f) Er betrachtet in seinem Beitrag typische Muster solcher Konfrontationen in Autobiographien. RUMPF geht ähnlich wie SCHULZE davon aus, dass der Zivilisationsprozess westlicher Prägung allgemeine strukturelle Anforderungen an Kinder stellt. In den Erinnerungen müssen sich dennoch Momente jenes Naturwissens und Naturerlebens von Kindern identifizieren lassen, die in der Auseinandersetzung mit der Erwachsenenkultur aufscheinen, die widerständig sind gegen Verpanzerung, Kontrolle, Standardisierung, Distanzierung etc. [37]

An einem Textstück aus Albert CAMUS' Buch "Der erste Mensch", in dem CAMUS schildert, wie Jungen im Meer baden, erklärt RUMPF den Unterschied zwischen "empfinden" und "wahrnehmen". In der Badelust erkennt RUMPF die Orientierung am Hier und Jetzt, die Abwesenheit von Zukunft, Distanz, von Nützlichkeit und Ordnung und stattdessen die pure Anwesenheit von Lust und Erleben, von taktil-kinästhetischen Empfindungen. An einem anderen Textstück veranschaulicht RUMPF die auf CASSIRER zurückgehende Unterscheidung von "Ausdruckswahrnehmung" und "Dingwahrnehmung". Das sechsjährige Kind, das mit Hilfe von Steinen rechnen lernen soll, interessiert sich nicht für die Quantität, nicht dafür, wie viele Steine auf dem Tisch liegen, sondern für die Qualität, warum der eine Stein rot ist und der zweite grau, dass sie beide schön sind, und warum der lehrende Großvater von dem grauen Stein sagt, er sei der zweite usw. Der Textausschnitt aus "Memorabilien. Erinnerungen und Begegnungen" von C.J. BURKHARDT zeigt sehr schön, wie sich der Junge weigert, der DESCARTschen Aufforderung zu folgen, sich von allem Sinnlichen zu lösen, die Qualität zugunsten der Quantität zu ignorieren, oder wie RUMPF schreibt, "sich vom erlebten Ausdruck zu lösen" (S.311). An dem Beispiel wird auch sichtbar gemacht, dass das Ausdruckserleben nicht naiv zu interpretieren ist. Das Kind stellt Vergleiche an (mit Fischen), es assoziiert – ich würde sagen: es sucht nach begründbaren Ordnungen. Die Begegnung mit den Steinen ist nicht unmittelbar, sie ist von dem Wissen des Kindes geprägt. Das Erleben wird in eine Erzählung eingebracht, die sinnstiftend, ordnend ist: Der blassgraue Stein muss dorther stammen, wo die Forellen wohnen, weil auch die Forellen blassgrau sind. Diese Erzählung ist nicht distanziert, damit versucht das Kind sich seiner Bedeutung in der Welt zu vergewissern. Eine andere Textstelle aus dem gleichen Buch macht dies sehr schön sichtbar:

"Und er [der Großvater – G.Sch.] zählte selbst an den Fingern: 'Eins, zwei, drei, sags mir nach.' Ich wiederholte erwartungsvoll: 'Eins, zwei, drei' und fragte gleich: 'Warum geschieht nichts? Wenn der Vetter Hans zu seinem Hund eins, zwei, drei sagt, springt dieser über den Stock.'" (S.311) [38]

Das Kind ist an der Situation orientiert, es lebt – in meinen Worten – in einer Beziehungswelt, in der grundsätzlich gefragt wird, wer was mit wem zusammen tun darf und in der das, was die Systemtheorie als "Umwelt" definiert unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, welche Bedeutung es für einen selbst hat. Die spannende Frage ist dann, ob der Hund auch dann springt, wenn ich zähle. Das Verhältnis zur Welt ist für Kinder nicht "diskursiv", sondern "präsentativ" um eine andere, auf Susanne LANGER zurückgehende Unterscheidung zu verwenden. [39]

Wenn man davon ausgehen kann, dass ein Kind in unserer Kultur grundsätzlich die diskursive Welthaltung erlernen muss, so stellt sich für die Kindheitsforschung die Frage, wie sie diskursiv – denn anders kann sie nicht beschreiben – ein Weltverhältnis beschreiben kann, das einer präsentativen Logik unterliegt. Entlang der Unterscheidung von "Deutung" und "Bedeutung" kann man von diesem kleinen Beispiel aus sagen, dass eine Kindheitsforschung, die an der Perspektive des Kindes orientiert ist, eine Rahmentheorie benötigt, die in der Lage ist, die präsentative Logik darzustellen, d.h. die Bedeutung, die zum Beispiel die Farben von Steinen für ein Kind haben können. Die Methode dieser Rahmentheorie müsste beschreiben können, was Kinder, die miteinander sprechen und handeln als selbstverständlich voraussetzen, als etwas, was die undiskutierbare Grundlage ihres Sprechens und Handelns ausmacht. Sie selbst können es erzählen, aber sie können nicht ihre Erzählung als diskursiven Beitrag auffassen. Man kann sie nicht dazu interviewen. Es braucht den Erwachsenen als stellvertretenden Deuter dieser Erzählungen. Damit hätte die Kindheitsforschung einen Einblick in die Kultur der Kinder, eben als jenes, was die für sie undiskutierbar Grundlage der Normen und Werte, der Regeln des Miteinander und der Regeln der Erklärung von Kind und Welt bestimmt. Auch davon wäre noch einmal zu unterscheiden, dass sich das einzelne Kind sehr wohl zu dieser Kindheitskultur individuell verhalten kann, so wie sich Erwachsene auch zu ihrer Kultur individuell verhalten können. Man könnte also unterscheiden zwischen Kinderkultur als miteinander geteilte Kultur der Kinder und konkreten Kindern, als Position des individuellen Kindes zu der Kinderkultur, in der es lebt. Diese Kindheitsforschung müsste in der Lage sein, die kindspezifische Methodologie der Theorie von Weltverhältnissen und Welterklärungen zu beschreiben. Dabei macht auch RUMPFs Zugang deutlich, dass es sich hier nicht um ontische Differenzen handelt, sondern um Weltverständnisse, die Menschen auch möglich sind und die sie – auch als Erwachsene – zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen auch gelebt haben oder in Zukunft leben könnten. Solange die Kindheitsforschung mit der Methodologie der Neuzeit arbeitet, kann sie ein nicht-neuzeitliches Verständnis von Welt nicht in den Blick bekommen. Da die Methodologie der Theorie von Kindern qualitativ bestimmt ist, kann meines Erachtens eine Kindheitsforschung nur eine qualitative Forschung sein, denn das Mindeste, was man von einer Methode verlangen kann ist, dass sie ihrem Gegenstand angemessen ist. Aus dieser Sicht bilden quantitative und qualitative Methoden auch nicht eine Art Kontinuum, sondern einen Gegensatz. Natürlich könnte man in einem Interview von dem sechsjährigen Knaben eine Deutung über Steine erhalten oder über den Unterricht mit seinem Großvater, wenn man ihn interviewte. Was man von ihm in einem Interview nicht erfahren kann, ist eine Deutung der Bedeutung der Farben der Steine für ihn selbst. Was man als Forscher erfahren kann ist eine Erzählung, wobei deren Elemente und die Art ihrer Verknüpfung im Sinne ihrer Bedeutung für das Kind interpretiert werden kann. Das gilt gleichermaßen für beobachtete Kinder wie für Autobiographien. Das setzt allerdings bei dem Forscher die Einsicht voraus, dass unsere eigenen Erkenntnisweisen kontingent sind, dass sie auch anders möglich wären. [40]

RUMPF beschreibt deshalb zu recht die von ihm zitierten Auseinandersetzungen als Beispiel für historische Prozesse. In dem Zivilisierungsprozess müssen Kinder in gedrängter Form den Prozess der Zivilisation nachvollziehen. In jeder empirisch beobachtbaren Situation wird deshalb auch immer beides vorhanden sein: die Anstrengung der Zivilisierung durch die Erwachsenen, der Widerstand der Kinder und die bereits vorhandene Durchsetzung der Kultur der Erwachsenen. Die Kinderkultur ist ein Komplex von herrschender Kultur und den Versuchen, sich dieser Herrschaft entgegen zu stellen. Jedes Kind weiß, dass die Erde eine Scheibe ist, weil die Gefahr besteht, von ihr runter zu fallen und jedes Kind weiß auch, dass die Erwachsenen etwas anderes wissen. Um also Kinder verstehen zu können, werden die Kindheitsforscher beginnen müssen, sich selbst zu verstehen. Damit meine ich, zu verstehen, auf welchen Grundlagen unsere Wahrnehmungen und Empfindungen beruhen, wie wir den Zusammenhang von Deutung und Bedeutung herstellen. Für den Kindheitsforscher als Wissenschaftler meint dies, nachvollziehen zu können, mit welcher Wissenschaftstheorie wir Farben beschreiben, warum sich unsere Zivilisation auf NEWTON und nicht auf GOETHE stützt und worin sich NEWTON irrt. Für den Kindheitsforscher wird zudem wichtig zu verstehen, wie diese Wissenschaftstheorie seine Alltagswahrnehmung und Alltagsempfindungen bestimmt und wo seine Auseinandersetzungen mit diesen Bestimmungen liegen. [41]

Von daher würde ich "kontemplative Naturbetrachtung" wie sie RUMPF im Anschluss an SEEL beschreibt, etwas anders formulieren. Auch die kontemplative Naturbetrachtung ist aus meiner Sicht eine Haltung, die es Menschen möglich ist, einzunehmen. Dem geht ein Bewusstsein über die Möglichkeiten voraus, Haltungen einnehmen zu können. Erst auf dieser Grundlage kann man eine Haltung einnehmen, die nichts begreift, alles so aufnimmt, wie es gerade ist (vgl. S.315). Ich argumentiere damit gegen ein Kindheitskonzept, dass in der Kindheitserfahrung die eigentliche und in der Erfahrung des Erwachsenen die zivilisatorisch verstellte oder entfremdete Erfahrung sieht. Auch das an den Farben der Steine interessierte Kind hätte die Möglichkeit gehabt, sich auf das Zählen einzulassen. Vielleicht kann man sagen, dass Kinder über andere Möglichkeiten als Erwachsene verfügen, bestimmte Haltungen einzunehmen. Sie können wohl auch eher als Erwachsene unterschiedliche Logiken gleichzeitig leben, zum Beispiel, Seeräuber zu sein (und nicht zu spielen) und zu wissen, dass sie Seeräuber spielen. Auch Kinder sind in der Lage – um eine Formulierung von RUMPF aufzugreifen – "Zusammenhänge zu finden oder zu erfinden" (S.317). [42]

9. Fazit

Ich sehe zwei miteinander zusammenhängende Aufgaben einer Kindheitsforschung, die nach der Perspektive von Kindern fragt. Die eine Aufgabe besteht darin, die Beobachtung von Kindern zur Selbstaufklärung der Kultur der Erwachsenen zu betreiben. In empirisch beobachtbaren Situationen von Kindern ist unsere Kultur enthalten und zugleich eine, die wir nicht sind. Diese Kindheitsforschung kann uns also einerseits verdeutlichen, dass wir auch in einer anderen Kultur bzw. eine andere Kultur leben könnten und worin konkret dasjenige besteht, was sich im historischen Prozess als gegenwärtige Kultur entwickelt hat. Dies könnte der erkenntnistheoretische Beitrag der Neuen Kindheitsforschung sein. Die zweite Aufgabe ist dann eher eine pädagogische: Im Wissen um die notwendige Enkulturation der nachkommenden Generationen, um deren notwendige Anpassung an unsere Kulturen, könnte diese Anpassung in einer Weise geleistet werden, die deutlich macht, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, sein Leben zu leben, als wir es tun. Man kann dies auch so formulieren: Die Inszenierungen von Erziehung und Unterricht sollten dem heutigen Stand unserer wissenschaftlichen Erkenntnis folgen, wonach wissenschaftliche Erkenntnisse dazu führen, dass die eine oder andere Tür geschlossen werden kann und sich dabei aber Räume eröffnen mit einer neuen, größeren Zahl von Türen. Die pädagogischen Inszenierungen sollten das Gegebene als das vermitteln, was es ist, nämlich als Ergebnis einer komplexen historischen Entwicklung, die eben auch anders hätte verlaufen können. [43]

Die Bedeutung der Aufmerksamkeit auf die Biographie und das Biographische für die Kindheitsforschung sehe ich ebenfalls in zweifacher Hinsicht. Biographien sind individuell. Als "Fall" formuliert, sind sie nie bloß ein "Fall von". Biographien machen immer deutlich, dass es einen kleinen oder großen ausgeblendeten "Rest" gibt, wenn man beginnt zu verallgemeinern. Biographien sperren sich gegen Verallgemeinerungen und Typologien. Was ein Fall ist, das wird an den Biographien sichtbar, wird von den Konstruktionen bestimmt, die einen Fall konstruieren. Das Ganze ist nicht zu haben. Biographien, das ist die zweite Hinsicht, machen deshalb darauf aufmerksam, dass es nicht "das andere der Vernunft" gibt, sondern dass Vernunft gar nicht anders als mit dem zusammen gesehen werden kann, was sie auszuschließen versucht. Die Biographie kann auf die Grenzen der Möglichkeiten der wissenschaftlichen Selbstaufklärung verweisen. [44]

Betrachtet man aus dieser Sicht den vorliegenden Sammelband, so ist er mehr als ein Atlas. Durch die Möglichkeit, einzelne Beiträge aufeinander zu beziehen, werden einerseits die Grenzen der jeweiligen Rahmentheorien sichtbar, andererseits aber auch neue Möglichkeiten von Verbindungen. Es gibt Themen, die sich geradezu für eine Zusammenarbeit von Biographie- und Kindheitsforschern eignen. Ich nenne zwei: "Warum schaukeln Kinder?" Und "Warum lachen Kinder anders als Erwachsene?" [45]

Anhang: Übersicht zu dem Buch

1. Zur Konzeption des Handbuches

Der Titel "Kinder – Kindheit – Lebensgeschichte" macht deutlich, dass das Buch eine Vielzahl von Themen und Zugängen versammelt, denn alle drei Begriffe sind fachübergreifende Konstrukte. Folglich kommen Vertreter eine Reihe unterschiedlicher Wissenschaften zu Wort: Soziologen, Pädagogen, Psychologen, Kulturhistoriker, Biographieforscher etc. Fast alle Beiträge zeichnen sich allerdings dadurch aus, dass sie ein Verständnis von Kindern im Sinne eines "sozialen Akteurs" zu Grunde legen. Eine andere erkennbare Eingrenzung besteht in der Akzentuierung der Biographieforschung auf Kinder und Kindheit. Diese beiden Akzentsetzungen sind auch die Voraussetzung für das Anliegen der Herausgeber, nämlich eine Verbindung zwischen Kindheits- und Biographieforschung herzustellen.

Alle drei Themen lassen sich heute auch nur noch im Rahmen bestimmter methodologischer und methodischer Annahmen bearbeiten. Das Buch integriert Methoden der Biographieforschung mit Methoden der Kindheitsforschung. Für die Kindheitsforschung liegt ein Schwerpunkt auf qualitativen Forschungsmethoden – für biographische Methoden gilt dies generell. Die Diskussion qualitativer Methoden bildet einen Strang der Beiträge.

Aus einer anderen Sicht lassen sich die Beiträge in jene teilen, die eher strukturell argumentieren und in jene, die eher an den Perspektiven von Kindern interessiert sind. Man könnte auch unterscheiden zwischen Lebenslagen und Lebenswelt.

Eine dritte Ebene bildet die Frage nach dem Verhältnis von Kind und Kindheit. Dies wird sowohl strukturell (vor allem historisch) aber auch lebensweltlich im Sinne der aktiven Konstruktion von Kindheit durch Kinder und sich an ihre Kindheit erinnernde Erwachsene betrachtet.

Schließlich durchzieht wie ein roter Faden eine Reihe von Beiträgen die Frage nach den Möglichkeiten des Erinnerns, den Möglichkeiten, seine Erinnerungen zu erzählen und die damit zusammenhängenden forschungsmethodischen Probleme.

2. Alle Beiträge in der Übersicht

In dem Einführungskapitel stellt BUCHER die Frage, warum Erwachsene ihre eigene Kindheit als glücklicher bewerten als die der heutigen Kinder. EWERS strukturiert mit seinem Beitrag die in der Kinderliteratur anzutreffenden Konstruktionen von Kindern vom Beginn der Literatur, die sich an Kinder wendet, bis zur Gegenwart.

Das II. Kapitel versammelt unter der Überschrift "Lebensgeschichte in der Selbstdeutung von Kindern" eher heterogene Beiträge. Sowohl KÖHLER wie HABERMAS und PAHA gehen der Frage nach der Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses nach. HEINRITZ, KIRCHHÖFER, KRÜGER und GRUNERT geben Beispiele für Methoden der Erforschung des Alltages von Kindern. Die letztgenannten beschäftigen sich vor allem mit Interviews; HEINRITZ mit freien Aufsätzen von Kindern und KIRCHHÖFER versucht an einem Beispiel zu zeigen, dass der Tageslauf eines Kindes einem für dieses Kind typischen Muster folgt. LIPPITZ diskutiert grundsätzlich die Beziehung von Phänomenologie und biographischer Perspektive auf das Kind.

Das III. Kapitel beschäftigt sich mit dem Erzählen ihrer eigenen Kindheit durch Erwachsene. DU BOIS-REYMOND diskutiert die Möglichkeiten und Grenzen der "Oral-History". RENNER verweist auf eine Reihe von Autobiographien in der Kulturanthropologie. SCHULZE und HEINRITZ widersprechen sich grundsätzlich in der Auffassung, ob sich aus Erzählungen Erwachsener etwas über die Erlebnisse von Kindern erfahren lässt. HEINRITZ verweist auf den Konstruktionscharakter von Autobiographien; SCHULZE sieht in den von Erwachsenen verwendeten Wörtern allgemeine Topoi, die gewissermaßen durch die Erzählung hindurchscheinen.

Das IV. Kapitel ist eher therapeutisch orientiert. GRODDECK erläutert an Beispielen die drei wichtigen Kindertherapieansätze (psychoanalytisch, humanistisch, system-konstruktivistisch). FOOKEN zeigt die Bedeutung von Erinnerungen an die eigene Kindheit in Umbruchsituationen und Krisen im Leben von Erwachsenen. VON WERDER versucht den Leser zum Schreiben seiner Kindheitsautobiographie zu bewegen.

Das V. Kapitel "Pädagogische und psychologische Deutungen" ist heterogen. BRINKMANN und BRÜGELMANN stellen an einem Beispiel den Stand der Erwerbsforschung zum Schriftspracherwerb vor. RUMPF macht auf die Differenz zwischen Weltberührung und Weltbeherrschung aufmerksam. SCHMIDT erzählt die Geschichte des Beginns der Tagebücher über Kinder und DEUTSCH setzt dies mit einer Beschreibung des Wirkens von Clara STERN fort. WENGLORZ plädiert am Beispiel eines autistischen Kindes für den Einsatz von Video und Foto als Dokumentationsmethode.

PASQUALE kommt auf der Grundlage eines empirischen Projektes zu unterschiedlichen Typen von Mutterperspektiven. BAMBACH zeigt, wie das Vertrauen in kindliche Entwicklungsmöglichkeiten und die Unterstützung der Kinder durch Lehrerinnen quer liegen kann zu Datenerhebungsmethoden von Schulleistungen. SPEICHERT schildert in einem Werkstattbericht aus seiner Sicht die Geschichte der Buchreihe "Elternrat", die er herausgibt.

Das VI. Kapitel enthält Beiträge zu dem Thema "Zeitverläufe und Lebenseinschnitte". SCHORCH und STEINHERR beschäftigen sich mit Zeitbewusstsein und Zeitvorstellungen von Kindern. Helga ZEIHER deutet auf der Basis empirischer Studien zur Lebensführung von Kindern aus unterschiedlichen Zeiträumen eine moderne, die Gegenwart prägende Entwicklung an, die Kindern ein Vielfalt an Zeitmustern und Zeitmodi zur Verfügung stelle und auch die Möglichkeit, sich einfach davon zu befreien. Der Schulanfang ist in dem Aufsatz von Dieter NITTEL die Zeit, in der Kinder sich die schulischen Sozialisationsformen aneignen (müssen). Während NITTEL den Schulanfang aus der Erzählung Erwachsener rekonstruiert, berichtet SCHNEIDER aus einer Langzeitstudie eines Kindes und schildert deren Perspektive auf Schule und Schulanfang. STECHER diskutiert die Frage der Abgrenzung von Kindheit und Jugend. KLUGE argumentiert entschieden gegen eine Sicht, nach der Kinder sich sexuell in einer Latenzphase befänden und belegt die Existenz kindlicher Sexualität an Beispielen.

Das VII. Kapitel enthält Beiträge zu kritischen Lebenssituationen von Kindern. Es handelt sich einmal um Kindheitserfahrungen chronisch kranker Jugendlicher (SEIFFGE-KRENKE) und in zwei Beiträgen um sog. Scheidungskinder. Während sich WALPER und GERHARD mit der Frage der Bedeutung der Scheidung für Kinder auseinander setzen, plädiert KALTENBORN in der Debatte, wem das Kind zugesprochen werden soll, für die Berücksichtigung des Wunsches des Kindes und verbindet dies mit einem grundsätzlichen Plädoyer für eine Forschung, die sich an den Akteuren orientiert und nicht an Strukturen.

Unter der Überschrift "Exponierte Lebensgeschichten" (VIII. Kapitel) beschreibt BASTIAN musikalisch hochbegabte Kinder und deren Kindheitserinnerungen. Wolfgang POPP diskutiert "Erfahrungen des Andersseins" homosexueller Kinder und Jugendlicher auf der Grundlage von Autobiographien. BÜHLER-NIEDERBERGER beschreibt am Beispiel der Legasthenie-Debatte die Durchsetzung von Marktstrategien mit den Mitteln wissenschaftlicher Zuschreibungsmethoden. Irene HERZBERG zeigt, dass Alleinsein für Kinder etwas sehr unterschiedlich sein kann.

Als "Medienbegleiter" (Kapitel IX) werden das Kinderbuch (GRAF/SCHÖN), Kinderfilme (ERLINGER) und Poesiealben (KIRCHHÖFER) betrachtet. ERLINGER geht es vor allem um die Differenz zwischen Buch und Verfilmung. KIRCHHÖFER betrachtet die Poesiealben im historischen Zusammenhang mit den Kategorien Selbstvergewisserung, Wertetransfer und Zeitdokument und befürchtet ein wenig die Auflösung des Mediums Poesiealbum, das traditionell alle drei Aspekte versammelte, im Zuge der Kommerzialisierung der Alben.

Das X. Kapitel kreist um "Bilder von Kindheit". Hans-Günther RICHTER ist darin mit zwei Beiträgen vertreten. Unter der Überschrift "Kinder als Künstler, Künstler als Kinder" wird ein theoretischer Zugang zu Kinderzeichnungen vorgestellt, der Ansätze aus der Emotionsforschung, der Kognitionsforschung und der Psychoanalyse miteinander verbindet. Dies ist ein Beitrag zu einer Ikonologie/Ikonographie der Kinderzeichnung. In seinem zweiten Beitrag "Lebensgeschichte und Kinderzeichnung" diskutiert er am Beispiel einiger moderner Künstler die Bedeutung der künstlerischen Produkte in ihrer Kindheit für die Kunstauffassung und den Stil der erwachsenen Künstler. Klaus-Ove KAHRMANN bietet ähnlich wie Lutz von WERDER Methoden zur Rückerinnerung an die eigene Kindheit an. In seinem Beitrag betrifft dies die Möglichkeit, sich ästhetische Erfahrungen in das Bewusstsein zu rufen. Ulrike MIETZNER fragt, was Bilder von Kindern über Kinder auszusagen vermögen und was über den (erwachsenen Fotografen), den Betrachter und die Zeit, in der das Bild entstanden ist.

Der erste Beitrag in Kapitel XI "Kindheiten in der Familie" von Heidi ROSENBAUM geht der Bedeutung von Kindheitsbiographien und Kindheitsautobiographien für eine Sozialgeschichte von Familie und Kindheit nach. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sie vor allem für regionale Studien bedeutsame Quellen sein können. Dorle KLIKA plädiert für eine Familienforschung, die das Kind als aktiven Mitgestalter der familialen Dynamik betrachtet und entwickelt dafür in ihrem Beitrag Ansätze einer Topographie von Familienkindheit. Jutta ECARIUS beschreibt die Familie als Ort der Tradierung und des Wandels von Kindheitsmustern in drei Generationen – vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur jüngsten Generation, den zwischen 1967 und 1975 geborenen Kindern. Burkhard FUHS geht einem Thema nach, dass er zutreffend als weitgehend vernachlässigt sieht. Es geht um Formen kindlicher Verantwortung in Deutschland. Als generellen Trend stellt er eine Verschiebung kindlicher Verantwortung in den außerhäuslichen Bereich fest. Christiane SCHURIAN-BREMECKER beschreibt Einschlafrituale heutiger Familien zur Beruhigung ihrer kleinen Kinder.

Das XII. Kapitel soll "Institutionelle Orte" versammeln. Der erste Beitrag von Stefanie THEIS und Ulrich SCHWAB untersucht die Funktion religiöser Erinnerungen an die Kindheit in Biographien. Michael CHARLTON und Christiane ROESLER beschäftigen sich mit der Frage, wie Medien und Medieninhalte von Kindern und Jugendlichen als Ressource zur Konstruktion einer Lebensbeschreibung benutzt werden. Heinz HENGST untersucht die Kindheitsbiographie als gesellschaftliche Institution. Aus dieser Sicht wird ein grundsätzlicher historischer Wandel konstatiert. Während sich um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert die von den Erwachsenen für Kinder bereitgestellten Produkte an Kinder als spätere Erwachsene wandten, ist in der Gegenwart die für Kinder produzierende Kulturindustrie auf Kinder als Konsumenten ausgerichtet. HENGST interpretiert diese Entwicklung als Wandel von industrieller Arbeitsgesellschaft zu einer postindustriellen Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft. Zwei Beiträge in diesem Kapitel beschäftigen sich mit Sport und Bewegung von Kindern und Jugendlichen. Reiner HILDEBRANDT-STRAMANN beschreibt angesichts einer Vielfalt von Produkten, die zu Bewegungen animieren, das Verhältnis von sportlicher Betätigung von Kindern und Jugendlichen zu nicht in Vereinen organisierten Bewegungsaktivitäten. Peter BÜCHNER untersucht an Fallbeispielen die Bedeutung der Kindersportkultur für die Kinder wie für die Familie. Er plädiert für eine Analyse des heimlichen Lehrplans der Kindersportkultur.

Kapitel XIII: Gesellschaftliche Lagen und Räume. Christa BERG vergleicht Autobiographien von Arbeiterkindern und Kindern aus großbürgerlichen Haushalten in Bezug auf die Bedeutung des Raumes für die Gestaltung der eigenen Biographie. Dietmar GÖRLITZ gibt in dem Beitrag "Stadtkindheiten" einen knappen Überblick über die Bedeutung des Wandels der Städte von einem Aufenthalts- zu einem Durchgangsort und stellt einige Studien aus diesem Kontext vor. Uwe DÜCKER beschreibt die Lebensbedingungen von Straßenkindern in Südamerika als Kindheit ohne Spiel, in Armut und Gewalt und beobachtet die Herausbildung einer eigenen Kinderkultur in den Cliquen und Banden. Andreas LANGE diskutiert die Frage, ob sich in der Moderne noch zwischen Kindheit auf dem Land und in der Stadt unterscheiden lässt und kommt u.a. zu dem Ergebnis großer Pluralisierung und Individualisierung. Er zieht daraus den Schluss, die Forschungsfragen nicht mehr entlang der Unterscheidung von Stadt und Land zu stellen, sondern zu fragen, welche Komponenten der Lebensumwelt ein gelingendes Aufwachsen ermöglichen. Dieter KIRCHHÖFER analysiert in seinem Beitrag "Kinderbiographien in der DDR" in einem ersten Teil biographische Ansätze in der DDR-Kindheitsforschung. Es gab auch in der DDR einige Fallstudien und auch Langzeitstudien, deren Bedeutung allerdings marginalisiert war, weil das Wissenschaftsverständnis grundsätzlich nicht an der individuellen Perspektive interessiert war, sondern am Individuum als Träger sozialer Funktionen und Rollen. Der zweite Teil widmet sich dem Normalitätsentwurf kindlicher Biographien in der DDR und in der Umbruchphase. Sabine ANDRESEN diskutiert anhand von Texten von Walter BENJAMIN, Edwin HOERNLE und Hanna AHREND drei unterschiedliche Konzepte, den Kindheitsraum vor politischer Einflussnahme zu schützen und konkretisiert dies an Erinnerungen an die Jungen Pioniere ihrer InterviewpartnerInnen. Wolfgang SEITTER beschreibt am Beispiel eines spanischen Vereins die Spannung zwischen den Generationen spanischer Migranten in Bezug auf die Tendenzen zur Integration in die deutsche Kultur bzw. auf Remigration nach Spanien. Er arbeitet dabei heraus, dass Diffusität, also das Offenhalten von Entscheidungen, anders als häufig dargestellt, eine positiv zu bewertende Strategie der Aufrechterhaltung von Optionen ist und damit eine kreative Form der Konfliktbewältigung. Der letzte Beitrag des Bandes enthält den Aufsatz von Ingrid GOGOLIN: "Migration als biographische Ressource". GOGOLIN wendet sich gegen das Defizitmodell, mit dem Migranten häufig betrachtet werden und setzt sich dafür ein, intensiver bei den Kindern und Jugendlichen der Einwanderer nach den Potenzialen, Fähigkeiten und Wissensbeständen zu forschen.

3. Anmerkungen

Es besteht ein deutliches Übergewicht an Beiträgen, in denen es um Rückerinnerung geht, gegenüber Beiträgen, in denen Kinder "beobachtet" werden. Auch bei den Beiträgen, die sich auf Kinder in der Gegenwart beziehen, dominieren Interviewmethoden, vor allem das narrative Interview. Langzeitstudien und teilnehmende Beobachtung sind unterrepräsentiert. Eine Reihe von Beiträgen weisen auf Forschungslücken hin. Insgesamt wird damit auch deutlich, dass eine Forschung, die Kinder als Akteure ihrer Kindheit betrachtet, sich noch in den sich in Anfängen befindet.

Die wenig strukturell argumentierenden Beiträgen, wie die von LANGE und von HENGST machen auf einen grundsätzlichen Mangel aufmerksam. Eine Sozialforschung, die gewissermaßen das "Kind entdeckt", muss sich auch damit auseinandersetzen, dass sie dies gerade in einem Moment unternimmt, in dem "Kindheit" als gesellschaftliche Unterscheidungskategorie zu verschwimmen droht. Zu fragen wäre nach der Tauglichkeit des Kindheitsbegriffes angesichts einer allgemeinen Pluralisierung und Individualisierung von Lebensformen. Als Forschungslücke formuliert heißt dies: Dieser akteursorientierte Ansatz muss seine Methode selbst als Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Situation reflektieren.

Anmerkung

1) Siehe dazu auch die kritische Würdigung zu den Bänden "Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung" und "Methoden der Kindheitsforschung" von MEY 2001. <zurück>

Literatur

Beck, Gertrud & Scholz, Gerold (1995). Soziales Lernen. Kinder in der Grundschule. Reinbek: Rowohlt.

Geertz, Clifford (1994). Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Heinzel, Friederike (2001). Kinder im Kreis. Kreisgespräche in der Grundschule als Sozialisationssituation. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Habilitationsschrift.

Honig, Michael-Sebastian (1999). Entwurf einer Theorie der Kindheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Kelle, Helga (2001). Ethnographische Methodologie und Probleme der Triangulation. Am Beispiel der peer culture Forschung bei Kindern. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 2, 192-208.

Langer, Susanne K. (1984). Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt/M.: Fischer.

Lenzen, Dieter (1989). Kindheit. In Dieter Lenzen (Hrsg.), Pädagogische Grundbegriffe. 2. Bd. (S.854-859). Reinbek: Rowohlt.

Mey, Günter (2001, Mai). Den Kindern eine Stimme geben! Aber können wir sie hören? Zu den methodologischen Ansprüchen der neueren Kindheitsforschung [48 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 2(2), Art. 16. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-01/2-01review-mey-d.htm.

Petillon, Hanns (1993). Soziales Lernen in der Grundschule. Anspruch und Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Diesterweg.

Zum Autor

Gerold SCHOLZ ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main. Ein Arbeitsgebiet ist die "Erforschung kindlicher Perspektiven".

Kontakt:

Prof. Dr. Gerold Scholz

Tromm 3
D-69483 Wald-Michelbach

E-Mail: gerold.scholz@t-online.de
URL: http://www.grundschulforschung.de

Zitation

Scholz, Gerold (2002). Versuch einer Integration von Kindheits- und Biographieforschung. Review Essay: Imbke Behnken & Jürgen Zinnecker (Hrsg.) (2001). Kinder – Kindheit – Lebensgeschichte. Ein Handbuch [45 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(4), Art. 15, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0204158.

Revised 6/2008

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