Volume 3, No. 4, Art. 27 – November 2002

Rezension:

Andreas Klärner

Roland Girtler (2002). Methoden der Feldforschung (4., völlig neu bearb. Aufl.), Wien, Köln, Weimar (Böhlau), 198 Seiten, ISBN 3-8252-2257-8, EUR 19,90

Zusammenfassung: Roland GIRTLERs Buch "Methoden der Feldforschung" ist eine gut geschriebene, besonders für Studierende geeignete Einführung in die Methoden der qualitativen Feldforschung. Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der qualitativen Feldforschung werden ebenso ausführlich behandelt wie die wichtigsten Methoden, die teilnehmende Beobachtung und das freie Gespräch mit den Menschen im Feld. Einen wichtigen Raum nimmt die Diskussion der ethischen Verpflichtung des Sozialforschers ein.

Keywords: qualitative Feldforschung, teilnehmende Beobachtung, interpretative Sozialforschung, sozialwissenschaftliche Ethik

Inhaltsverzeichnis

1. Qualitative Sozialforschung und Feldforschung

2. Roland GIRTLERs "Methoden der Feldforschung"

2.1 "Wissenschaftstheoretische Überlegungen"

2.2 "Die freie Feldforschung" – Beobachtung und Gespräch

2.3 "Berichten und Ethik"

3. Kritische Einschätzung von Roland GIRTLERs "Methoden der Feldforschung"

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Qualitative Sozialforschung und Feldforschung

Mit der zunehmenden Akzeptanz qualitativer Methoden in der Sozialforschung (bis in die Marktforschung und Politikberatung hinein) zeichnet sich auch ein wachsendes Interesse an komplexen qualitativen Forschungsprogrammen, wie sie unter der Bezeichnung "Feldforschung" vereint sind, ab. Diesem wachsenden Interesse und dem Wunsch nach systematischen Einführungen in die Methoden der Feldforschung korrespondiert nun auch in der deutschsprachigen Literatur – neben einigen neu gegründeten Zeitschriften, z.B. das multilinguale Online-Journal "Forum Qualitative Sozialforschung" oder "Sozialer Sinn" – eine stetig zunehmende Zahl von Buchpublikationen mit Überblicks- und Einführungscharakter. Zu nennen sind hier vor allem Manfred LUEGERs Band "Grundlagen qualitativer Feldforschung" (LUEGER 2000; siehe dazu die Rezension von Martin SPETSMANN-KUNKEL 2002) und Roland GIRTLERs, vierte, neu bearbeitet Auflage der "Methoden der Feldforschung", welche Gegenstand der vorliegenden Rezension ist. [1]

Oftmals wird die Feldforschung in den allgemeinen Lehrbüchern zu qualitativen Forschungsmethoden unter dem Stichwort "Teilnehmende Beobachtung" abgehandelt, so etwa von Heiner LEGEWIE in dem von Uwe FLICK, Ernst VON KARDORFF, Heiner KEUPP, Lutz VON ROSENSTIEL und Stephan WOLFF (1995) herausgegebenen "Handbuch Qualitative Sozialforschung", oder bei Siegfried LAMNEK (1993, S.239-317). In dem von FLICK, VON KARDORFF und STEINKE 2000 herausgegebenen Sammelband "Qualitative Forschung" finden sich lediglich zwei, allerdings wegweisende, Artikel die sich mit den "Wege(n) ins Feld und ihre(n) Varianten" (Stephan WOLFF) und dem "Beobachten im Feld und [der] Ethnographie" (Christian LÜDERS) befassen. [2]

Diese bislang noch gegebene leicht stiefmütterliche Rolle der soziologischen Feldforschung mag zum einen daran liegen, dass diese lediglich als Kombination mehrerer qualitativer Forschungsverfahren angesehen wird, zum anderen daran, dass aufgrund des hohen Zeitaufwands (Feldphasen von mehreren Jahren sind nicht unüblich), nur wenige Studien durchgeführt werden, die als soziologische Feldforschung bezeichnet werden können.1) [3]

Auch werden erst langsam die methodologischen Reflexionen aus der Ethnologie/Ethnographie in die soziologische Diskussion einbezogen. Nur hingewiesen sei an dieser Stelle, dass die englischsprachige Diskussion (unter dem Stichwort "Ethnographic [field] research") wesentlich fortgeschrittener ist und mit dem von Jean J. SCHENSUL und Margaret D. LECOMPTE 1999 herausgegebenen 7-bändigen "Ethnographer's Toolkit" ein Standardwerk zum Thema vorliegt. [4]

2. Roland GIRTLERs "Methoden der Feldforschung"

Roland GIRTLERs "Methoden der Feldforschung" ist nicht nur eine Einführung in das Gebiet der komplexen qualitativen Forschungsmethoden, sondern auch als ein Plädoyer für eine Soziologie, die sich den Menschen zuwendet, zu lesen. Feldforschung ist für GIRTLER ein Abenteuer und der Feldforscher, der in fremde Lebenswelten eindringt, um sie zu erforschen, hat für ihn etwas von einem Abenteurer. Dementsprechend ermutigt er die Lehrenden und Lernenden der Soziologie, sich auf dieses Abenteuer einzulassen:

"Ich glaube, es ist auch im Sinne René Königs, wenn ich dazu auffordere, den Studentinnen und Studenten zu lehren, wie man mit Menschen spricht, wie man deren Geschichte erforscht, wie man mit Problemen der Forschung fertig wird und wie man Rückschläge dabei verdaut. Man muß sie in die Bierlokale, Parlamente, Schulen, Kliniken, Bordelle, Kirchen und andere Orte schicken, damit sie handelnde Menschen sehen und mit ihnen sprechen." (S.34) [5]

Und nicht nur die Forschung sollte sich den handelnden Menschen zuwenden, auch in der Vermittlung und Präsentation sollte der Mensch, auch und gerade der Nicht-Wissenschaftler, im Mittelpunkt stehen. GIRTLER besteht mit K.R. POPPER und Max WEBER darauf, dass jeder Intellektuelle in der Lage sein muss, "wissenschaftliche Probleme derart darzulegen, daß ein ungeschulter, aber aufnahmefähiger Kopf sie versteht und so zum selbständigen Denken darüber gelangt" (S.29). Eine Auffassung, die auch in den Sozialwissenschaften nicht unumstritten sein dürfte. [6]

Neben diesem Plädoyer für die Hinwendung zum Menschen und das Abenteuer Feldforschung in der Einleitung seines Buches (S.11-34) beschäftigt sich GIRTLER in den folgenden Kapiteln mit dem wissenschaftstheoretischen Hintergrund und der Diskussion über quantitative und qualitative Methoden in der Sozialforschung (S.35-58), im Hauptteil des Buches behandelt er die Methoden der "freien Feldforschung", die "unstrukturierte teilnehmende Beobachtung" und das "ero-epische Gespräch" (S.59-168), der abschließende Teil des Buches ist eine Diskussion der ethischen Fragen bezüglich der Feldforschung (S.169-182), die mit der Zusammenfassung des Buches in den "10 Geboten der Feldforschung" (S.183-190) endet. Im Folgenden werden die einzelnen Kapitel des Buches vorgestellt. [7]

2.1 "Wissenschaftstheoretische Überlegungen"

In seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen (S.35-58) richtet sich GIRTLER gegen eine positivistische Soziologie, die den Menschen als sinnvoll Handelnden nicht Ernst nimmt und die für GIRTLER wesentlich durch den Gebrauch quantitativer Methoden charakterisiert ist. Unter Berufung auf die "verstehende Kulturwissenschaft" von Max WEBER, den "Lebenswelt"-Ansatz von Alfred SCHÜTZ, den symbolischen Interaktionismus und die Ethnomethodologie skizziert GIRTLER die Grundzüge einer "qualitativen" Soziologie. Dieser "qualitativen" Soziologie gehe es im Gegensatz zur positivistischen Soziologie nicht darum, "menschliches Handeln unter irgendwelche Gesetze zu ordnen, sondern nach jenen typischen Regeln zu suchen, die das soziale Handeln bestimmen" (S.54). [8]

Den erwähnten Ansätzen, auf die GIRTLER sich bezieht, wirft er allerdings vor, dass sie "geschickt Einfaches kompliziert darzustellen wissen", denn es geht, so GIRTLER, "um nichts anderes als um das Alltagshandeln des Menschen, das in jeweiligen sozialen Situationen sich zeigt. Es geht also um die typischen Regeln des Handelns mit all seinen Symbolen, die die Handelnden wissen müssen, um entsprechend handeln zu können" (S.48). [9]

2.2 "Die freie Feldforschung" – Beobachtung und Gespräch

Die wichtigsten Methoden der freien Feldforschung sind für GIRTLER die "unstrukturierte teilnehmende Beobachtung" und das "ero-epische Gespräch". GIRTLER setzt sich intensiv mit allen Fragen bezüglich der teilnehmenden Beobachtung auseinander: dem wichtigsten Problem, dem "Zugang des Forschers in die ihn interessierende Gruppe" (S.69-106) wird ein großer Raum zugewiesen und die dabei auftretenden Schwierigkeiten und Besonderheiten gründlich diskutiert (Einfluss der Forschung auf die Privatsphäre des Forschers, Scheinproblem des "going native", Annäherung, Akzeptiertwerden des Forschers etc.). Auch die nachfolgenden Phasen der Feldforschung, "Stadium des Zurechtfindens", "Übernahme der Perspektiven", "Rückzug und Probleme nach Beendigung der Feldstudie", Protokollieren und Protokoll", "Aufarbeitung der Felddaten" werden besprochen (S.106-147). [10]

Neben der "freien teilnehmenden Beobachtung", der "Königin unter den Methoden der Feldforschung" (S.147), behandelt GIRTLER als weitere wichtige Methode der Feldforschung das von ihm so genannte "ero-epische Gespräch" (S.147-168). Den Begriff erläutert GIRTLER wie folgt:

"Im Eigenschaftswort 'ero-episch' stecken die altgriechischen Wörter 'Erotema' und 'Epos'. 'Erotema' heißt die 'Frage' beziehungsweise 'eromai' fragen, befragen und nachforschen. Und 'Epos' bedeutet 'Erzählung', 'Nachricht', 'Kunde', aber auch 'Götterspruch' beziehungsweise 'eipon' 'erzählen'. Die beiden Wörter 'eromai' und 'eipon' drücken in einer viel tiefgehenderen Weise das aus, was hier gemeint ist, als die entsprechenden deutschen Ausdrücke es vermögen, oder eben der nicht gerade ansprechende und langweilige (sit venia verbo) Terminus 'narratives Interview'." (S.150f.) [11]

Dieses ero-epische Gespräch bezeichnet er bewusst nicht als qualitatives Interview und grenzt es auch von Fritz SCHÜTZEs "narrativem Interview" deutlich ab: Entgegen den Ausführungen SCHÜTZEs vertritt GIRTLER die Auffassung, "daß in einem Forschungsgespräch ... der Gesprächspartner niemals in 'Zugzwang' geraten darf, er soll vielmehr von sich aus heraus zum Erzählen bereit sein" (S.148). Außerdem, und das stellt GIRTLER ebenso in Gegensatz zu den methodischen Ausführungen SCHÜTZEs, "wird es sich nicht umgehen lassen, gerade wenn ich in Randkulturen arbeite, die 'private Sphäre' der betreffenden Menschen in das Gespräch einzubeziehen" (a.a.O.). Das ero-epische Gespräch unterscheidet sich von den üblichen qualitativen Interviews dadurch, "daß die Beziehung zwischen beiden, Forscher und Forschungssubjekt, durch das Prinzip der Gleichheit bestimmt ist, während beim Interview der Interviewer geradezu als Verhörender erscheint" (S.147). Durch diese egalitäre Kommunikationssituation soll die künstliche Situation des Interviews aufgebrochen und ein Schritt näher zur Wirklichkeit der Befragten getan werden (S.164f.). [12]

In den folgenden Abschnitten geht GIRTLER ausführlich auf die mit dem ero-epischen Gespräch verbundenen Fragen ein: "Der persönliche Kontakt", "Das Problem des 'strukturierten' Interviews", "Zur Frage der Nützlichkeit eines 'Leitfadens' beim Gespräch", "Die Bedeutung von Suggestivfragen", "Herstellung der Kommunikationssituation", "Die Chance, die Wahrheit zu erfahren", "Das Erfragen von Lebensgeschichten", technische "Hilfsmittel" und "Gesprächsprotokolle". Die Hinweise, die GIRTLER hier gibt sind knapp aber durchweg hilfreich und in der Feldforschungspraxis von Nutzen. So legt GIRTLER dar, dass ein über das Feld bereits informierter Feldforscher durchaus mit Suggestivfragen arbeiten kann. Etwa wenn mit allgemein formulierten Unterstellungen bezüglich unangenehmer Themen oder mit unzutreffenden Behauptungen über das Feld, die Befragten zur Explizierung ihrer eigenen Ansichten bzw. zur Richtigstellung aufgefordert werden (S.158-161). Eine weitere "Taktik", die GIRTLER empfiehlt, ist, zwei oder drei Personen "zu Diskussionsgruppen zusammenzubringen" und dann kontroverse Themen oder Behauptungen einzubringen, da die Teilnehmenden in diesen Diskussionen "viel eher versuchen [werden], die für ihre soziale Gruppe charakteristischen bzw. 'typischen' Alltagsregeln und Alltagsideologien offenzulegen, als vielleicht der einzelne isoliert Befragte" (S.163). Einige weiterführende Verweise z.B. über das Verfassen von Protokollen (z.B. EMERSON, FRETZ & SHAW 1995) hätten diesem Kapitel aber hinzugefügt werden können. [13]

2.3 "Berichten und Ethik"

Im abschließenden Kapitel "Berichten und Ethik" (S.169-182), das zusammen mit dem Anhang "10 Gebote der Feldforschung" (S.183-190) gelesen werden kann, besteht GIRTLER zunächst darauf, dass ein guter Forschungsbericht auch gut und verständlich geschrieben sein muss und es keine Schande ist, wenn eine gute Arbeit auch von einem großen Publikum gelesen werden kann und auch gelesen wird. Neben dem Abenteurer müsse der Feldforscher in gewisser Hinsicht auch ein Künstler sein. [14]

Neben dieser Kunst der Darstellung, die der Forscher beherrschen sollte, sollte der Feldforscher sich auch mit den ethischen Problemen der Feldforschung auseinandersetzen. Forschung, die mit Menschen zu tun hat und die auf Vertrauensbeziehungen zu den Erforschten baut, hat eine große Verantwortung. Daher nehmen der Abschnitt über die Ethik und die, anstelle einer Zusammenfassung angehängten, "10 Gebote der Feldforschung" in GIRTLERs Buch, anders etwa als in LUEGERs "Grundlagen qualitativer Feldforschung", zu Recht eine prominente Stellung ein. Das Dilemma des Feldforschers besteht, so GIRTLER, nun darin, dass er seine Feldforschung nicht nur aus reiner Nächstenliebe betreibt, sondern eben auch Daten gewinnen will. GIRTLER besteht aber darauf, dass der Forscher "alles daransetzen [muss] – um sich auch in dieser Richtung laufend zu kontrollieren –, die Beobachteten als Menschen zu achten und sie nicht ausschließlich als Datenlieferanten zu sehen" (S.171). Damit verbindet sich, dass auch den Beobachteten die Beobachterrolle des Forschers dargelegt werden sollte. Eine "verdeckte Beobachtung" ist aus diesem Blickwinkel "unfair". Das Gebot, die Kontaktpersonen nicht als Datenlieferanten zu betrachten gilt sowohl für die Forschungsphase als auch für die Zeit nach der Feldforschungsphase (S.174). Das heißt auch, "daß der Forscher keineswegs gleich einem Sozialarbeiter oder Missionär ändernd auf das ihn interessierende soziale Leben einwirken darf" (S.174). Hinzufügen könnte man hier, auch wenn GIRTLER es nicht erwähnt und es eigentlich selbstverständlich sein sollte, dass der Forscher durch seine Forschung den Erforschten auch niemals schaden darf. [15]

Die abschließenden "10 Gebote der Feldforschung" fassen noch einmal thesenartig die GIRTLERsche Auffassung von Feldforschung zusammen und sollten zu den Grundlagen jeder Diskussion über soziologische Feldforschung gehören. Die 10 Gebote sind auch online verfügbar über die FQS-Beiratsseite von Roland GIRTLER. [16]

3. Kritische Einschätzung von Roland GIRTLERs "Methoden der Feldforschung"

Kritisch einwenden könnte man, dass hinter der freien Beobachtung und dem ero-epischen Gespräch andere Methoden der Feldforschung zurückbleiben. Schaut man sich einige klassische Studien der Feldforschung wie etwa "Die Arbeitslosen von Marienthal" von Marie JAHODA, Paul LAZARSFELD und Hans ZEISEL ([1933] 1980) oder die "Street Corner Society" von William F. WHYTE ([1943] 1996) an, so ist man überrascht, welch vielfältige Methoden etwa bei der Erfassung des Zeitgefühls von Arbeitslosen bei JAHODA et al. oder bei der Analyse von Beziehungsgeflechten in einer Gang bei WHYTE angewendet werden. Feldforschung lebt von kreativen Einfällen des Forschers und vielfältigen Erhebungsverfahren (durchaus auch quantitativer Art) und auch GIRTLER sieht das Potential eines "methodischen Anarchismus" (S.25), ohne allerdings näher darauf einzugehen. [17]

Fraglich scheint, ob der von GIRTLER postulierte scharfe Gegensatz zwischen positivistischer (i.e. quantitativer) und qualitativer Soziologie so heute noch zu halten ist. Qualitative Verfahren sind mittlerweile in großem Maße anerkannt. So kann man heute auch nicht mehr unbedingt davon ausgehen, dass die Entscheidung für ein qualitatives Vorgehen in den Sozialwissenschaften ein unüberwindliches Karrierehindernis darstellt. Man merkt es GIRTLERs Buch an, dass der Verfasser einen großen Teil seiner Lebenszeit dem Kampf um die Anerkennung der qualitativen Methoden in den Sozialwissenschaften gewidmet hat. Dass diese mittlerweile nicht mehr als unwissenschaftlich angesehen werden, geht auch auf GIRTLERs Werk und Wirken zurück. [18]

Der von GIRTLER vertretene Ansatz des Feldforschers als Abenteurers birgt allerdings, neben dem zweifellosen Verdienst, Interesse und Begeisterung für diese Form der Soziologie zu wecken, die Gefahr, den Feldforscher zu sehr zu mystifizieren. Stephan WOLFF bemerkt dazu, dass sich "[k]lassische Zugangsschilderungen ... wie Heldengeschichten [lesen], in denen nach einer Phase der Mühen, der Irritationen und des Suchens der Forscher letztendlich doch das angestrebte 'Herz der Finsternis' (Joseph Conrad) erreicht" (WOLFF 2000, S.336). WOLFF weist berechtigterweise daraufhin, dass die Veröffentlichung der Tagebücher des Feldforschungspioniers Bronislaw MALINOWSKI ([1967] 2000), in denen mehr von der Langeweile, Enttäuschung, Verzweiflung bei der Feldforschung bis hin zur Abscheu vor den "Eingeborenen" die Rede ist, "zu einer nachhaltigen Ernüchterung bezüglich der erreichbaren Substanzialität des 'Dort-Seins' des Feldforschers [führten]" (WOLFF 2000, S.337). Eine Diskussion, die aber gerade in der deutschsprachigen Literatur erst noch geführt werden muss. [19]

Nigel BARLEY hat für seine Disziplin, die Ethnologie, mit dem ihm eigenen englischen Humor, die Gefahren der Glorifizierung des Feldforschers aufgezeigt:

"In der Ethnologie wird traditionell angenommen, daß die körperlichen Strapazen, die der Feldforscher auf sich nimmt, ein Maß für den Wert seiner Erhebungen abgeben. Wie viele andere Vorurteile läßt sich auch dieses durch noch so viele Gegenbeweise nicht aus dem Feld schlagen." (BARLEY [1988] 1999, S.96) [20]

GIRTLER geht zwar auf die Gefahren der Feldforschung gerade in Randgruppen ein, neigt aber dazu, diese Gefahren herunterzuspielen. Gerade bei Gruppen, die zu den sogenannten "unloved groups" gehören, Gruppen mit denen der Forscher nicht sympathisiert, sind die Gefahren nicht zu unterschätzen. Diese Gefahren liegen nicht nur in eventuellen Bedrohungsszenarien, denen der Forscher ausgesetzt sein kann, sondern auch in der psychischen Belastung, die eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Gruppen mit sich bringt, die den eigenen Wertmaßstäben fundamental entgegengesetzt ist. GIRTLERs Hinweis, dass Verstehen nicht unbedingt auch Billigen heißt, dass Empathie und Sympathie also zu trennen sind, ist dennoch richtig. [21]

Welche gravierenden Auswirkungen die Forschung in solchen Feldern auf die Psyche und das Privatleben einer Forscherin haben können, beschreibt Christiane TRAMITZ (2001) in ihrem Buch "Unter Glatzen", in dem sie von ihren Erfahrungen bei der Durchführung einer wissenschaftlichen Studie über gewalttätige Skinheads berichtet.2) [22]

Von der gerade beginnenden Diskussion, ob der Cyberspace einen Raum für Feldforschung darstellen kann und welche methodischen und methodologischen Besonderheiten dieses Feld aufweist (vgl. HOLGE-HAZELTON 2002), findet sich bei GIRTLER, ebenso wie bei LUEGER, WOLFF u.a. noch kein Niederschlag. Es wird sich zeigen, welche Erfahrungen der traditionellen Feldforschung diese Cyberspaceforschung aufnehmen kann und welche neuen Verfahren sie entwickeln muss. [23]

Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist GIRTLERs Buch aufgrund seines lebendigen und teilweise äußerst amüsanten Stils als Einführung in die Methoden der Feldforschung vor allem aber nicht nur für Studierende der Sozialwissenschaften sehr zu empfehlen. GIRTLER bringt das Kunststück fertig, ein vermeintlich so trockenes Thema wie Methodologie und Methoden qualitativer Sozialforschung so darzustellen, dass Begeisterung und Interesse geweckt werden, ohne dabei einen Zweifel am explizit wissenschaftlichen Charakter der qualitativen Feldforschung aufkommen zu lassen. [24]

Anmerkungen

1) Ein (gelungenes) Beispiel für die neuere soziologische Feldforschung stellt die Studie "Waldleben – eine ostdeutsche Stadt im Wandel seit 1989" von Sighard NECKEL (1999) dar. <zurück>

2) Für eine ausführliche Erörterung der Besonderheiten der Feldforschung in gefährlichen Situationen vgl. JIPSON und LITTON (2000), die die physischen, ethischen und karrierebetreffenden Gefahren der Feldforschung mit "gefährlichen Gruppen" behandeln. Für eine weitere Erörterung der Gefahren in der Feldforschung empfehlen sich LEE-TREWEEK und LINKOGLE (2000), LEE (1995) sowie NORDSTROM und ROBBEN (1996). <zurück>

Literatur

Barley, Nigel ([1988] 1999). Hallo Mister Puttymann. Bei den Toraja in Indonesien. München: DTV.

Emerson, Robert M.; Fretz, Rachel I. & Shaw, Linda L. (1995). Writing Ethnographic Fieldnotes. Chicago: The University of Chicago Press.

Flick, Uwe; von Kardorff, Ernst & Steinke, Ines (Hrsg.) (2000). Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Vlg.

Flick, Uwe; von Kardorff, Ernst; Keupp, Heiner; von Rosenstiel, Lutz & Wolff, Stephan (1995). Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen (2. Aufl.). Weinheim: Beltz; PVU.

Holge-Hazelton, Bibi (2002, May). The Internet: A New Field for Qualitative Inquiry? Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 3(2), Art. 15. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-02/2-02holgehalzelton-e.htm.

Jahoda, Marie; Lazarsfeld, Paul F. & Zeisel, Hans ([1933] 1980). Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Jipson, Arthur J. & Litton, Chad E. (2000). Body, career and community – the implications of researching dangerous groups. In Geraldine Lee-Treweek & Stephanie Linkogle (Hrsg.), Danger in the Field. Risk and Ethics in Social Research (S.147-167). London: Routledge.

Lamnek, Siegfried (1993). Qualitative Sozialforschung. Band 2 - Methoden und Techniken (2.Aufl.). Weinheim: Beltz, PVU.

Lee, Raymond M. (1995). Dangerous Fieldwork. Tousand Oaks, London, New Delhi: Sage.

Lee-Treweek, Geraldine & Linkogle, Stephanie (Hrsg.) (2000). Danger in the Field. Risk and Ethics in Social Research. London, New York: Routledge.

Legewie, Heiner (1995). Feldforschung und teilnehmende Beobachtung. In: Flick, Uwe, von Kardorff, Ernst, Keupp, Heiner, von Rosenstiel, Lutz & Wolff, Stephan (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung (2. Aufl., S.189-193). Weinheim: Beltz; PVU.

Lüders, Christian (2000). Beobachten im Feld und Ethnographie. In Uwe Flick, Ernst von Kardorff & Ines Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung (S.384-401). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Vlg.

Lueger, Manfred (2000). Grundlagen qualitativer Feldforschung. Methodologie, Organisierung, Materialanalyse. Wien: WUV.

Malinowski, Bronislaw ([1967] 2000). Ein Tagebuch im strikten Sinn des Wortes. Neuguina 1914-1918 (2., unv. Aufl.). Frankfurt/M.: Vlg. Dietmar Klotz.

Neckel, Sighard (1999). Waldleben. Eine ostdeutsche Stadt im Wandel seit 1989. Frankfurt/M.; New York: Campus.

Nordstrom, Carolyn & Robben, Antonius C.G.M. (Hrsg.) (1996). Fieldwork Under Fire. Contemporary Studies of Violence and Culture. Berkeley: University of California Press.

Schensul, Jean J. & LeCompte, Margaret D. (Hrsg.) (1999). Ethnographer's Toolkit (7 Bd.). Walnut Creek, Cal.: AltaMira Press.

Spetsmann-Kunkel, Martin (2002, Januar). Rezension zu. Manfred Lueger (2000). Grundlagen qualitativer Feldforschung. Methodologie – Organisierung – Materialanalyse. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 3(1), Art. 25. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-02/1-02review-kunkel-d.htm.

Tramitz, Christiane (2001). Unter Glatzen. Meine Begegnungen mit Skinheads. München: Droemer.

Whyte, William Foote ([1943] 1996). Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels. Berlin; New York: Walter de Gruyter.

Wolff, Stephan (2000). Wege ins Feld und ihre Varianten. In Uwe Flick, Ernst von Kardorff & Ines Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung (S.334-349). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Zum Autor

Andreas KLÄRNER, Dipl.-Soz., Studium der Soziologie, Psychologie, Stadtplanung in Darmstadt, derzeit Promotion zum Dr. phil.

Kontakt:

Dipl.-Soz. Andreas Klärner

c/o TU Darmstadt
Institut für Soziologie
Sekretariat
Residenzschloß
D-64283 Darmstadt

E-Mail: andreas.klaerner@gmx.de

Zitation

Klärner, Andreas (2002). Rezension zu: Roland Girtler (2002). Methoden der Feldforschung [24 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(4), Art. 27, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0204271.

Revised 2/2007

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

Creative Common License

Creative Commons Attribution 4.0 International License