Volume 3, No. 4, Art. 9 – November 2002
Rezension:
Karl Kollmann
Christoph Köck (Hrsg.) (2001). Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung (Münchner Beiträge zur Volkskunde, Band 29). Münster: Waxmann, 242 Seiten, 28 Abbildungen und Fotos, ISBN 3-8309-1047-9, 16,90 EUR
Zusammenfassung: In diesem Sammelband geht es um ein Potpourri kulturwissenschaftlicher, oder im traditionellen Sprachgebrauch: volkskundlicher Aufsätze, die sich mit dem Thema Reisen beschäftigen. Auf den ersten Blick ohne einen konsistenten Zusammenhang oder eine strukturgebende Klammer, ergibt sich im zweiten Blick ein Aufriss der Mühen der Kulturwissenschaft, mit dem Themenbereich Reisen – Tourismus – Reisewahrnehmungen umzugehen. Von hierher wirken einige Aufsätze amüsant, einige sind interessant, da sie kohärentere Einsichten bieten.
Keywords: Tourismus, Kulturwissenschaft, Konsumsoziologie, Freizeitsoziologie, Freizeitökonomie
Inhaltsverzeichnis
1. Perspektiven
2. Kontraste
3. Gegenströme
4. Resümee
Die Aufsatzsammlung in diesem Buch ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen, da sich hier beobachten lässt, wie behäbig und etwas altbacken, aber dennoch bemüht, sich die deutsch(sprachig)e Kulturwissenschaft vulgo Völkerkunde mehrheitlich dem Thema Tourismus nähert. Da kommt eine neue Freizeitsoziologen-Generation hervor, die einen unverstellteren Blick mitbringt als die Altsoziologien, die sich ja heute praktisch nicht mehr um den Alltag, den Konsum und die Lebenswelt der Menschen kümmern, sondern lieber an theoretischen und autopoietischen Artefakten modellieren oder Ökonomie neu entdecken. [1]
Zum anderen zeigt sich aber bei der Lektüre der Beiträge auch, wieweit Kulturwissenschaft heute vom Alltag noch wegbleibt. Klar, dass ein historisches Verständnis für die Analysen der Gegenwart essentiell ist, aber der Sammelband ist insgesamt zu geschichts-, zu vergangenheitslastig: schöne Schreibtischarbeit in den Anfängen des Reisens gewissermaßen – und das als ein zentrales Thema. Da wird der Aussichtsturm zum "Medium zur Einübung neuer touristischer Sehweisen" (Friedemann SCHMOLL: Der Aussichtsturm, S.196), oder einfühlsamer konstatierend, etwa zu den Reisen bürgerlicher Frauen des neunzehnten Jahrhunderts in die fernen Länder: "Die Beschreibung des Gesehenen war eine schwierige Aufgabe" (Ulla SIEBERT: Reisetexte als "true fictions", S.159). Das was Klara LÖFFLER in ihrem Aufsatz (Wie das Reisen im Alltag kultiviert wird) als analytisches Prinzip anwendet: "werde ich mich eher in impressionistischer Art und Weise diesen Praxen ... nähern" (S.230) ist der rote Faden auch in manchen anderen Aufsätzen, – eine Methode des kulturwissenschaftlich/völkerkundlichen Impressionismus, die sich von Details und wohl auch persönlichen Vorlieben (ver-) leiten lässt. [2]
Woanders ist man da schon ein Stück weiter. Als inhaltliches und methodisches Gegenstück zu diesem immer wieder anklingenden völkerkundlichen Impressionismus empfiehlt sich beispielsweise Beverley MULLEYs Aufsatz "Fantasy Tours" (2000). Alltagsgesellschaft ist hier nicht mehr abgeblendet: die postmodernen Menschen gieren heftig nach einem individuellen Herausbrechen aus dem Alltag. Reisen, Urlaub, Abenteuer, Erholung, Fun, Ortswechsel, ein Jenseitskommen vom Tagtäglichen sind hier ein wesentliches Ziel. Da sind sozusagen die kleinen Exzesse im Alltag gemeint, ebenso wie die jährliche Reise, der Urlaub als temporärer Konsumausbruch aus den vermachteten Verhältnissen, denen der Einzelne immer relativ ohnmächtig gegenübersteht. [3]
Was kürzlich Michel HOULLEBECQ (2002) literarisch angesprochen hat, nämlich die Verkopplung von Sexualität, Reise und Urlaub, ist zwar in MULLEYs Aufsatz Thema, jedoch in dem vorliegenden Band gar nicht vorhanden: Diese Gier nach Vereinnahmung von etwas Fremden, Neuem, Unbekannten. Inbesitznahme des fremden Anderen konstituiert Macht für die eigene Identität, und ähnliche Ergebnisse zeigen sich dann auch bei der Analyse des internationalen Sextourismus: "there is power to be derived from the sexual consumption of a wide range of 'authentic' and pure third-world woman" (MULLEY 2000, S.242). Eine bestimmte und offensichtlich rasch größer werdende Gruppe von Touristen strebt deshalb sexuelle Begegnungen mit Einheimischen an, da erst dies die Erfahrung, ein Land kennengelernt und in Besitz genommen zu haben, abschließt, – Sextourismus als ultima ratio des Reisekonsums. Die moderne, globale Tourismusindustrie ermöglicht nun solche Erfahrungen auch weniger elitären Personen, und: die moderne Kommunikationstechnologie ermöglicht solche Erfahrungen in virtueller Form auch Nichttouristen bzw. virtuellen Touristen. [4]
Nun, zwischen dem was man (früher) als Reisen und (heute) als Tourismus versteht, gibt es offensichtlich eine qualitative Differenz. Tourismus heute, das ist mcdonaldisiertes Reisen (RITZER 1995): package-tours, die im Reisebüro, am Last Minute-Schalter oder via Internet gebucht werden, die besuchten Landschaften und Kulturen eher desinteressiert oder nur mäßig interessiert beiseite lassen, und vor allem auf Wettersicherheit, sowie einen entsprechenden Funfaktor durch standardisierte Servicequalität abstellen. Eigentlich alle Aufsätze suchen hier – als Gegenpol und Aufstandsfläche ausgehend von der warenförmigen touristischen Form der Gegenwart – nach alternativen Wahrnehmungen. [5]
Das Brave, Konventionelle, Biedere, wie die traditionellen Andenken von Ausflügen (Andreas SEIM: Souvenirtücher – Reisebilder im Quadrat), das Heidi-Bild des älpischen Tourismus, die Frauenreisen im 19. Jahrhundert, oder das Exzentrische, wie das nun die Forschungsreisen von interessierten Laien – nämlich von Malern, Ästheten, oder wenn man so mag: Humboldtschen Laienforschern – waren (Maike TRENTIN-MEYER: Die Indien- und Hochasienreise der Brüder Schlagintweit 1854 bis 1857), wird dabei in erster Linie mit den Aufsätzen und Beiträgen thematisiert. [6]
Der Herausgeber Christoph KÖCK versucht zwar in seinem Beitrag (Der Bilderbuchwinter und die Galtür-Katastrophe) den Blickwinkel herumzuwerfen, neu zu justieren. Ihm geht es um die Wahrnehmungsgestaltung von Tourismusanbietern, und letztlich um das, was übrigbleibt, wenn sie von den realen Katastrophen dann doch noch irgendwann eingeholt werden. Jedoch: auch mit einem hereingeholten Paul VIRILIO-Zitat bleibt der deskriptive Zugriff wenig berührt. Zuerst steht das Beschreiben, das Herausheben der Farben und zum kritischen und schmerzhafteren Zugriff kommt man dann gar nicht mehr. [7]
Und – das schmerzt den Leser möglicherweise – da bleiben klassisch irritierende Themen unangesprochen. Es gibt nichts zu SEUME (1802/1997) und seine aberwitzige Zufuß-Reise nach Sizilien, Anfang des 19. Jahrhunderts, da kommt auch in den Frauenreisen die Ida PFEIFFER (1997) nicht vor, die eigentlich der Archetyp des/der Reisenden heute sein könnte, mit ihrer mäßigen, verhaltenen, kontrollierten Abenteuerlust, der viel Verstand, auch Beherztheit und abgrundtiefe Naivität gegenübersteht. Das Potpourri ist weniger typisch und mehr zufällig verstreut, nach Autorenvorlieben, Seminararbeiten-Gestus und wohl mit der einen oder anderen Diplomarbeit unterfüttert. Sagt man, fragt man so einmal frisch weg und unverbindlich. Das Seminaristische – da haben sich ein paar einfallen lassen, über Reisen was Kluges, was Impressionistisches zu sagen – liegt nahe. Das aber wiederum macht den Band dann doch sympathisch: Nachdenken mit der Ausklammerung des Zeitgeists. [8]
Aber zum Positiven: Kritischere Ansätze, als die vergangenheitsverliebten Impressionen bietet der Band dann doch auch, etwa Helge GERNDTs Frage zu einer "Innovativen Wahrnehmung im Tourismus", die die ökonomisch zernierten Randbedingungen der Tourismus-Marktgesellschaft einzukreisen versucht. Karlheinz WÖHLERs Beitrag "Aufhebung von Raum und Zeit" spricht die Inhaltslosigkeit des Warensystems Tourismus an, und Peter T. LENHART kontrastiert Mallorca-Fernsehbilder mit Mallorca-Realität ("Mallorca in 'Mallorca – Suche nach dem Paradies'") um eine Differenzperspektive zwischen Urlaubstraum und Urlaubsraum herauszuarbeiten. [9]
Letztlich ist es – um hier auch mit einer persönlichen Impression aufzuwarten und abzuschließen – diese Mischung aus hellerer Analysefähigkeit und rückwärtsgewandter Verträumtheit: jene Vielfarbigkeit, was die Themen und kleinen Blicke anlangt, trotz der Blassheit, was eine durchgehende begriffliche Bewältigung der Reiseerfahrungen und der Motive der Reisenden anlangt, die den Band doch schlussendlich einigermaßen spannend und lesenswert macht. Kulturwissenschaft in ihren alltäglichen kleinen Mühen und manchmal recht interessant aufblitzenden Höhen ... [10]
Houellebecq, Michel (2002). Plattform. Köln: Dumont.
Mulley, Beverley (2000). Fantasy Tours: Exploring the Global Consumption of Carribbean Sex Tourism. In Mark Gottdiener (Hrsg.), New Forms of Consumption. Consumers, Culture and Commodification (S.227-250) Lanham: Rowman & Littlefield Publishers.
Pfeiffer, Ida (1997). Eine Frau fährt um die Welt. Wien: Promedia.
Ritzer, George (1995). The McDonaldization of Society (2. Auflage). Thousand Oaks: Sage.
Seume, Johann Gottfried (1997). Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (kommentiert von Albert Meier). München: DTV.
Karl KOLLMANN ist im Bereich Konsumentenpolitik tätig und beschäftigt sich mit Konsumökonomie und Konsumforschung sowie Neuen Kommunikationstechnologien u.a. an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Kontakt:
a.o. Univ. Prof. Dr. Karl Kollmann
AK-Wien
Prinz Eugen Straße 20
A-1040 Wien
E-Mail: kollmann@isis.wu-wien.ac.at
Kollmann, Karl (2002). Rezension zu: Christoph Köck (Hrsg.) (2001). Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung [10 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(4), Art. 9, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs020491.