Volume 3, No. 4, Art. 48 – November 2002
Paradigmenwechsel in der Forschung zu Sozialen Bewegungen
Katharina Gajdukowa
Review Essay:
Ingrid Miethe & Silke Roth (Hrsg.) (2000). Politische Biografien und sozialer Wandel. Gießen: Psychosozial-Verlag, 269 Seiten, ISBN: 3-89806-038-1, 24,90 EUR
Zusammenfassung: Die Bewegungsforschung ist durch die strikte Trennung von Biografie und Politik an ihre Grenzen gestoßen. Eine produktive Verbindung von Biografie und Politik, Privat und Öffentlichkeit lässt sich durch die biografische Perspektive in die Bewegungsforschung einbringen. Individueller und kollektiver Wandel sind immer in Bezug zueinander zu sehen. Nur so können Bedingungen politischen Handelns adäquat dargestellt werden. Die wissenschaftliche Vielfältigkeit und Notwendigkeit dieses Forschungsansatzes wird in diesem Band anhand von Fallstudien zu Transformationsprozessen in Deutschland, Polen, Russland, China und den USA dargestellt. Die Fallstudien umfassen Friedens-, Frauen-, Bürgerrechts-, Exil-, Gewerkschafts- und rechtsextreme Bewegungen. Thematisiert werden das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit im Kontext politischer Aktivität, Zusammenhänge von sozialem und familialem Wandel, politische Generationenverhältnisse sowie Motivationsprozesse für die Teilnahme an sozialen Bewegungen. Der Band will damit zu einem Paradigmenwechsel in der Bewegungsforschung beitragen. Ingrid MIETHE und Silke ROTH gelingt dies durch die gut ausgewählte Kombination theoretischer und empirischer Beiträge in diesem Band, mit denen die Grenzen bisheriger Bewegungsforschung überschritten werden.
Keywords: Biografieforschung, Bewegungsforschung, politische Sozialisation, hermeneutische Einzelfallrekonstruktion, dokumentarische Methode, narratives Interview
Inhaltsverzeichnis
1. Paradigmen der Bewegungsforschung
2. Konzeption des Bandes
3. Politik und Biografie
4. Soziale Kontinuität und sozialer Wandel
5. Das Politische ist persönlich
6. Das Private ist politisch
7. Prozesse von Anpassung und Widerstand
8. Resümee
1. Paradigmen der Bewegungsforschung
Um zu zeigen, auf welchem Terrain sich die Herausgeberinnen bewegen, sei kurz die aktuelle Bewegungsforschung skizziert: Die (hier verkürzt dargestellte) klassische Definition der sozialen Bewegung stammt von Joachim RASCHKE (1985): Eine soziale Bewegung ist ein mobilisierender kollektiver Akteur, der das Ziel verfolgt, sozialen Wandel herbeizuführen. Kai-Uwe HELLMANN (1999) benennt folgende fünf Paradigmen der bisherigen Bewegungsforschung: Der Structural Strains Ansatz widmet sich der Verbindung von Gesellschaftsstruktur und sozialen Bewegungen. Mit dem Collective Identity Ansatz wird der Identitätsaspekt sozialer (kollektiver) Bewegungen betrachtet. Der Framing-Ansatz beschäftigt sich mit der Konstruktion kollektiver Deutungsrahmen sozialer Bewegungen. Mit dem Resource Mobilization Ansatz werden notwendige Ressourcen beschrieben, von denen Bewegungen abhängig sind. Schließlich widmet sich der Political Opportunity Structures Ansatz den (staatlichen) Umweltbedingungen sozialer Bewegungen. [1]
In diesem Kontext entstand in den achtziger Jahren außerdem die Forschung zu den Neuen Sozialen Bewegungen (NSB). Damit sind politische Protestgruppen und Soziale Bewegungen gemeint, die seit den Sechzigern mit der Studentenbewegung aufkamen und mit der Bezeichnung "neu" von der "alten" Arbeiterbewegung abgegrenzt werden (siehe RUCHT 2000). [2]
Die NSB-Forschung stößt wie die allgemeine Bewegungsforschung an ihre "makrosoziologischen" Grenzen. Die Definition von den Neuen Sozialen Bewegungen als postindustrielle Bewegungen wird als eurozentristisch kritisiert (FERREE & ROTH 1999), da diese Forschung über Soziale Bewegungen eng an ihre Entstehungsbedingungen innerhalb der sich herausbildenden Wohlfahrtsstaaten in Westeuropa gebunden ist. Die Definition wird außerdem unglaubhaft, wenn z.B. die Frauenbewegung als NSB bezeichnet wird, obwohl es sie doch schon seit mehr als 150 Jahren gibt. [3]
Nicht desto trotz hatte das NSB-Konzept neben den genannten struktur-theoretischen Ansätzen auch seine historische Berechtigung, wenn wir den Prozess der deutschen Wiedervereinigung bzw. -annäherung betrachten. Als Hubertus KNABE 1988 als erster westdeutscher Wissenschaftler die DDR-Opposition als Neue Soziale Bewegungen beschrieb, leistete er damit einen Anschluss an in der Bundesrepublik Deutschland rezipierten Theorien, um die DDR-Opposition überhaupt erst einmal als politische Bewegung wahrnehmbar zu machen. Damals war der Hinweis auf Parallelen zu westdeutschen sozialen Bewegungen wichtig. Die Unterschiede machten jedoch auch sehr schnell deutlich, dass das NSB-Konzept nicht auf osteuropäische Verhältnisse übertragbar ist, da es z.B. deutliche Differenzen in der Realität von Öffentlichkeit und Privatheit gab und gibt (wie in den Beiträgen von MIETHE, VORONKOW und TCHOUKINA in diesem Band herausgehoben wird). Nicht von der Hand zu weisen ist außerdem die Kritik an der Übertragung des westdeutschen Methodenrepertoires auf die DDR, das wiederum zum großen Teil von ostdeutschen BewegungsforscherInnen übernommen und relativ unreflektiert ausgebaut worden ist (vgl. FEHR 1998). [4]
Die sich als makrosoziologisch bezeichnenden Ansätze beschreiben viel und erklären wenig. Die Beschreibung abstrakter statischer kollektiver Akteure, die sich in bestimmten Systemen bewegen, dient mehr oder weniger der Illustration von theoretischen Gedankenexperimenten. Die Darstellung von sozialem Wandel bleibt auf den Ebenen von Institution, Organisation und System beschränkt. Darüber hinausgehende Fragen nach politischer Sozialisation, Motivation und Veränderungen von Akteuren und sozialer Bewegungen in all ihrer Dynamik fristen ein eher unterbelichtetes Dasein. Dies ist ein hausgemachtes Problem, denn wenn die Bewegungsforschung sich nur auf das Politische und das Öffentliche beschränkt, und den privaten Raum quasi von sich weg definiert, kann auch nur die eine Seite der Medaille analysiert werden. MIETHE und ROTH sind angetreten, das makrosoziologische Dogma der Bewegungsforschung aufzubrechen und untermauern ihren Anspruch mit der Herausgabe dieses Buches, indem sie einen Einblick in die neuere internationale Soziale Bewegungsforschung bieten, welche auf empirischen Biografieforschungen basiert bzw. diese integriert. [5]
Ingrid MIETHE und Silke ROTH sind beide in der Biografie- und Bewegungsforschung beheimatet (siehe dazu MIETHE 1999 bzw. ROTH 1997). Der Paradigmenwechsel in der Sozialen Bewegungsforschung soll durch forschungspraktische Verbindungen zwischen Sozialwissenschaften und Politikwissenschaften gezeigt werden. Der aus einer Tagung in der Berliner Evangelischen Akademie hervorgegangene Band wendet sich an WissenschaftlerInnen aus beiden Disziplinen. Entsprechend der Vielschichtigkeit sozialer Bewegungen wurden unterschiedliche Forschungsansätze in diesem Buch versammelt, der Schwerpunkt liegt auf der biografischen Perspektive der Forschung. Stark vertreten ist die Methode der hermeneutischen Einzelfallrekonstruktion nach Gabriele ROSENTHAL (1995) sowie das lebensgeschichtlich-narrative Interview nach Fritz SCHÜTZE (1976). Wir begegnen der dokumentarischen Methode nach Ralf BOHNSACK (1993), die hier ebenfalls für die biografische Perspektive verwendet wurde. Andere Forschungsansätze wie ein gemeindesoziologischer oder das biografische Leitfadeninterview wurden direkt am Material zu einer Methodenkombination entwickelt. [6]
Die einzelnen Beiträge wurden unter drei übergeordneten Kapiteln zusammengestellt: (a) Biografie und Transformation, (b) Biografien im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit und (c) Biografien zwischen Anpassung und Widerstand. Zentrale Kapitel sind die Einleitung von Ingrid MIETHE und Silke ROTH sowie die Beiträge von Wolfram FISCHER-ROSENTHAL und Myra Marx FERREE. MIETHE und ROTH umreißen die aktuelle Forschungsproblematik, FISCHER-ROSENTHAL liefert einen Beitrag zu der Frage, inwiefern Transformationsforschung von Biografieforschung profitieren kann und FERREE analysiert den Einfluss der Biografieforschung auf Bewegungsforschung aus feministischer Sicht. Ingrid MIETHEs Einzel-Beitrag – etwa in der Mitte des Buches – übernimmt eine Brückenfunktion zwischen den unterschiedlichen Forschungsansätzen, da sie die zentralen Fragen des Forschungsfeldes noch mal detailliert aufnimmt, und zwar in Bezug auf die Paradigmen der Bewegungsforschung und deren grundlegende Definitionen von Privatheit und Öffentlichkeit, die sie konstruktiv kritisiert. [7]
Wie kann Forschung die beiden bisher getrennt verlaufenden Stränge Politik und Biografie zusammen bringen? Was bedeutet diese Unterscheidung für die Bewegungsforschung und wie kann sie überwunden werden? Grundlegende wissenschaftsstrukturelle Überlegungen dazu liefern MIETHE und ROTH sowie FISCHER-ROSENTHAL. [8]
MIETHE und ROTH plädieren in ihrem einführenden Beitrag dafür, dass biografische Methoden geradezu dafür prädestiniert sind, in der Bewegungsforschung solche zentralen Fragen wie die Entstehung und die Veränderung Sozialer Bewegungen sowie ihren Beitrag zum sozialen Wandel zu untersuchen. Aber auch Interessen und Motive von Akteuren und am sozialen Wandel Beteiligten könnten so genauer erfasst und beschrieben werden. Dazu gehören selbstverständlich auch strukturelle und organisatorische Analysen aus der bisher bekannten Bewegungsforschung. Ziel dieser erweiterten Form der Forschung ist es, "ein besseres Verständnis der sozialen Konstruktion von Geschichte, kollektiven Identitäten, der Ausrichtung an sozialen Bewegungen und der Konzeption sozialer Bewegungen ... zu entwickeln" (S.17), und zwar entlang der Sicht der sozialen Bewegungs-AkteurInnen. Eine wesentliche Ursache für die bisherige Einseitigkeit der Bewegungsforschung sei die Trennung der privaten von der politischen Ebene, so ROTH und MIETHE. [9]
Der Sozialwissenschaftler Wolfram FISCHER-ROSENTHAL hinterfragt in seinem Beitrag die Trennung von Mikro- und Makrosoziologie. Diese Trennung sei von Makrosoziologen vorgenommen worden, die ihr Gebiet von anderen soziologischen Analysen abgrenzen wollten. Die Trennung sei absurd, da es auf die Definition des Sozialen ankomme: Theoretiker wie SIMMEL, HABERMAS und LUHMANN definieren Gesellschaft als Kommunikation "– also gibt es kein mikro oder makro, allenfalls verschiedene empirische Einstiege in soziale Strukturierungen" (S.32). Erfahrungs- und Systemebene seien nicht nur vereinbar miteinander, sondern notwendig aufeinander bezogen. Damit hat auch FISCHER-ROSENTHAL wichtige Wegweiser für den Paradigmenwechsel in der Transformationsforschung vorgegeben. [10]
4. Soziale Kontinuität und sozialer Wandel
Der empirische Teil des Buches beginnt mit drei Studien, die sich mit Wandel- und Kontinuitätsprozessen befassen, und zwar für den Umbruch in der DDR (SCHLEGELMILCH), für Exilprozesse in China (SAUMISKAT) und für Rechtsextremismus bei ostdeutschen Frauen (KÖTTIG). [11]
Die Sozialwissenschaftlerin Cordia SCHLEGELMILCH stellt in ihrem Beitrag die Ergebnisse ihrer Langzeitstudie (1990-1996) im sächsischen Wurzen vor. Ihr geht es um langfristige Wandlungsprozesse, die den gesellschaftlichen Umbruch begleiten. SCHLEGELMILCH beschreibt differenzierte sozialstrukturelle Tradierungen, die u.a. aufgrund unterschiedlicher wirtschaftlicher Verhältnisse gesellschaftlichen Wandel überdauern. Sie geht nicht davon aus, dass die "Wende" einen Bruch darstellt, sondern sie stellt Kontinuitäten von Milieus fest, die den gesellschaftlichen Wandel über mehrere Generationen hinweg überdauern. Die DDR-Diktatur sei nicht nur unter Zwang, sondern eben auch engagiert mitgetragen worden, und zwar in Hinblick auf "Ordnungsprinzipien von Gemeinschaft" (S.56). Das Verlustgefühl von Gemeinschaft, den auch SCHLEGELMILCH beobachtet, kann genau in diesem Zusammenhang gesehen werden, und zwar als Verlust bestimmter Ordnungsprinzipien, die aber auch die Funktion hatten, die Diktatur am Leben zu halten. Diese Dimension bekommt SCHLEGELMILCH jedoch nicht in den Blick, denn sie untersucht nicht den mehrschichtig mitlaufenden Darstellungskontext der von ihr geführten Interviews. So ist ihrem Beitrag nicht zu entnehmen, wieweit die Wurzener Gemeindemitglieder Selbstdarstellungskontexte ihr gegenüber als westdeutsche Außenstehende produziert haben. Das mag dazu geführt haben, dass die Wurzener insgesamt in ihrer Studie als passive Rezipienten des jeweiligen politischen Systems und der sich darin vollziehenden Wandlungsprozesse erscheinen. Eine implizit vorgehende Analyse hätte z.B. den Blick darauf lenken können, in welcher Weise Einzelne in das System "verstrickt" waren. Somit wird der Anteil Einzelner an Repressionen nicht fassbar, die gerade innerhalb der "verloren" geglaubten Gemeinschaft ihre Funktion hatten. Was in SCHLEGELMILCHs Studie offen bleibt, ist in der von ihr verwendeten Methodik begründet. Sie versucht, den gemeindesoziologischen Ansatz mit der biografischen Perspektive zu verbinden und gleichzeitig die einzelbiografische Perspektive zu überschreiten. Vielleicht kann so dann eher doch von einer gemeindesoziologischen Studie mit biografischen Bezügen gesprochen werden, die durchaus bemerkenswerte Ergebnisse vorzuweisen hat. [12]
Der Kontext der Selbstdarstellung ist in der Studie der Sinologin Nora SAUMISKAT wichtiger Teil der Forschung – auch wenn sich seine Notwendigkeit erst im Laufe der Arbeit herausgestellt hat. SAUMISKAT stellt die Forschungsergebnisse ihrer Arbeit zur Verschränkung von individueller mit kollektiver Lebensgeschichte in China vor. Sie untersucht die Selbstwahrnehmung und Deutungsmuster der Vergangenheit ehemaliger Teilnehmerinnen der "Kulturrevolution", und zwar solcher, die z.T. zwangsweise aufs Land geschickt wurden und nun aus diesem Exil zurückgekehrt wieder in der Stadt lebend Anschluss an die Gegenwartsgesellschaft finden müssen. [13]
SAUMISKAT stellt fest, dass die Analyse der Konstitutionsbedingungen der biografischen Erzählungen besonders aufgrund der starken Tabuisierung der Zeit der Kulturrevolution wichtig ist. Ihre Analyse bewegt sich auf mehreren Ebenen: Die Generationenporträts zeichnen den Zusammenhang von staatlicher Geschichte mit der individuellen Geschichte nach. Zusätzlich werden die Konstitutionsbedingungen der Erzählungen der Forschungspartnerinnen im Spannungsfeld zwischen offiziellen Diskursen und der interkulturellen Interviewsituation beleuchtet. Dabei werden individuelle Sinngebungsprozesse der Biografiedarstellung sichtbar. Jede ihrer Interviewpartnerinnen war darum bemüht, ein positives Selbstbild zu produzieren, um sich damit von "den Anderen" abzusetzen. Um diese Prozesse transparent zu machen, arbeitet SAUMISKAT mit der hermeneutischen Einzelfallrekonstruktion nach ROSENTHAL. SAUMISKAT gelingt es damit, die Ansätze der Biografieforschung auch in die Sinologie einzubringen, ohne die Biografien lediglich als zusätzliche Informationen für die Geschichtsschreibung zu behandeln. [14]
Eine besonders aufschlussreiche Untersuchung legt Michaela KÖTTIG vor. Sie untersucht – ebenfalls unter Bezugnahme auf die Methode ROSENTHALs – rechtsextreme Handlungs- und Orientierungsmuster von ostdeutschen Mädchen und Frauen. Ausgehend von der Definition von Biografie als Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und lebensgeschichtlichen Prozessen rekonstruiert KÖTTIG Biografien in dieser Mehrdimensionalität. Dabei stellt sie fest, dass die rechtsextreme Ausrichtung der von ihr untersuchten Frauen mit unbearbeiteten biografisch relevanten Themen verbunden ist, welche mit politischen Ideologemen verknüpft werden und dadurch eine unbewusste Bearbeitung im Sinne von Wiederholungsszenarien erfahren. Es wird nachvollziehbar, welche familiären Auswirkungen die Tabuisierung von Verstrickung sowohl in das NS- wie in das DDR-System haben. Außerdem geraten so die sozialen Rahmenbedingungen, die die politische Ausrichtung gestalten, in den Blick. KÖTTIG legt mit ihrer Studie differenziertere Ergebnisse vor, als auf der Basis allgemeiner Gesellschaftsanalysen möglich wären. Die Studie zeigt nicht nur, wie eng Biografie mit gesellschaftlichen und politischen Strukturen zusammenhängt, sie hebt sich auch wohltuend ab von solchen "Töpfchen"-Theorien wie der des niedersächsischen Justizministers und Kriminologen Christian PFEIFFER (1999). [15]
5. Das Politische ist persönlich
Die feministische Perspektive darauf, dass das Persönliche politisch ist, wird in der Umkehrformulierung, nach der das Politische persönlich ist, von den Forscherinnen Myra Marx FERREE und Silke ROTH vertreten. Dabei greift ROTHs empirische Arbeit theoretische Ansätze von FERREE auf. [16]
Die US-amerikanische Soziologin und Kritikerin des NSB-Konzeptes Myra Marx FERREE kritisiert in ihrem theoretischen Beitrag die künstliche Trennung von Öffentlichkeit und Biografie. Erklärungsansätze wie die der Neuen Sozialen Bewegung arbeiten mit Idealmodellen von Menschen und deren Motiven, die nicht adäquat die Verbindung von Person und Politik darstellen. Kritisiert wird damit ebenfalls der Resource Mobilization Ansatz, nachdem Menschen ohne ihr Bindungsgefüge analysiert werden, quasi vom Himmel direkt in die NSB hinein fallen. Diese Forschungsansätze betrachten Familie als den Gegenpol zur NSB und somit als hinderlich für politisches Engagement. Demgegenüber steht nach FERREE die Praxis der politischen Sozialisation in der Familie. Politische Sozialisation ist ein Prozess, der lebenslang verläuft und in der Kindheit beginnt. [17]
"Politik am Küchentisch" verbindet öffentliches und privates Leben. Damit widerlegt FERREE die Theorie, dass der häusliche Bereich lediglich etwas Privates sei. Denn: "Im Unterschied zu klassischen Bewegungstheorien können in einer biografischen Perspektive alle Formen politischen Handelns, die für die Akteure wichtig sind, als kollektive politische Identitäten ausgedrückt und wahrgenommen werden." (S.120). Und weiter heißt es bei FERREE: "Wichtige Aspekte der Organisation sozialer Bewegungen geschehen in den zivilgesellschaftlichen Orten, die normalerweise als unpolitisch gelten." (S.121) [18]
FERREE führt aus, dass Personen und Familien langfristig sozialen Wandel herbeiführen, und zwar kollektiv. Gleichzeitig wird Repression nicht nur von staatlichen Institutionen ausgeübt, sondern ebenso häufig sind Familien daran beteiligt, geraten jedoch durch die einseitig institutionell ausgerichtete Repressionsforschung aus dem Blick. Mit ihrem Konzept des "familied self" bietet sie eine überzeugende Definition von Personen, die einer bestimmten Generation angehören, und zwar in Hinsicht auf die Gesellschaft und auf die Familie (durchaus im weitesten Sinne): "In einer biografischen Perspektive kann die Familie selbst als Politikum angesehen werden." (S.113) FERREE erweitert damit die feministische Forschung und Theorie um eine konstruktivistische Perspektive auf die Familie. [19]
Die von FERREE theoretisch beschriebene Interaktion von privater und öffentlicher Aktivität wird von Silke ROTH empirisch exemplifiziert. Ihr geht es um Prozesse politischer Sozialisation und Konstruktionen kollektiver Identität. In ihrer Fallstudie untersucht sie Akteurinnen der Coalition of Labor Union Women (CLUW) in den USA. Ausgehend von den empirischen Ergebnissen kommt sie zu einer Mitgliedertypologie und unterscheidet Gründermütter, Rebellische Töchter, political animals und kämpfende Opfer. Die vier Typen repräsentieren jeweils andere politische (wie auch familiäre und informelle) Sozialisations- und Bewusstseinsprozesse, die zu unterschiedlichen politischen Interessen in der CLUW führen. Mit dieser Mitgliedertypologie kommt ROTH zu differenzierten Aussagen über die verschiedenen Strömungen in dieser Frauengewerkschaft. Die einzelnen Typen bilden dann über die Interaktion die gemeinsame kollektive Identität dieser großen Frauengewerkschaft, wobei die unterschiedlichen Varianten von Arbeiterinnen-Feminismus bestehen bleiben. Mit ihrer Methodenkombination von narrativem Interview, Leitfadeninterview, teilnehmender Beobachtung und einer ergänzenden standardisierten Mitgliederbefragung präsentiert sie Forschungsergebnisse, die die CLUW als Organisation genauso darstellen wie die daran beteiligten Akteurinnen in ihrer Vielfalt. [20]
Gerade die mittelosteuropäische Forschung zeigt, dass der private Raum durchaus politisch besetzt sein kann, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Viele Akteure sozialer Bewegungen haben ihren privaten Raum politisch genutzt, gleichzeitig hielt der sozialistische Staat das Monopol für den privaten wie für den öffentlichen Raum besetzt. [21]
Der Petersburger Soziologe Victor VORONKOV stellt in seinem Artikel das theoretische Modell des sowjetischen Kommunikationsraumes vor. Dieses grenzt er von westlichen Öffentlichkeitsmodellen ab, welche für die Beschreibung der (post-) sowjetischen Situation nicht geeignet sind. Er unterscheidet die privat-öffentliche Sphäre von der offiziell-öffentlichen. Privat-öffentlich ist die z.B. "Küche der Intelligenzia", an dem Dissidenten Politik gemacht haben. Das Agieren und der Rückzug in die privat-öffentliche Sphäre waren hochpolitisch, da für das Regime gefährlich. Die Trennung der beiden Sphären ist so stark tradiert, dass SozialwissenschaftlerInnen bis heute damit rechnen müssen, nur an die offiziell-öffentliche Sphäre gelassen zu werden. VORONKOV bietet damit eine Differenzierung der theoretischen Definition von Öffentlichkeit und Privatheit. [22]
Ingrid MIETHE stellt die Ergebnisse ihrer Fallstudie zu Frauen aus der DDR-Friedensbewegung vor. Auch MIETHE kritisiert die NSB-Forschung, weil entgegen deren Impetus sich Privat- und Politikleben nicht voneinander trennen lassen und de facto auch nicht getrennt sind. Entsprechend seien mittelosteuropäische Dissidentenbewegungen auch nicht als NSB zu verstehen, sondern ganz eindeutig als Widerstandsbewegung. Privaträume ohne den Zugriff des Staates gab es nicht, und Öffentlichkeit war immer nur ein Rudiment und nicht mit westlicher Öffentlichkeit zu vergleichen. Ebenso wie VORONKOV stellt MIETHE fest, dass politisches Handeln oft genug mit einem Rückzug ins Private anfing, d.h. mit dem Abgrenzen gegenüber der offiziellen Politik. Dies geschah in der DDR genauso häufig in privaten wie in öffentlichen (z.B. kirchlichen) Räumen. Es bildete sich quasi ein halböffentlicher Privatraum, eine Form von "Gegenöffentlichkeit". [23]
MIETHE arbeitet – auf der Basis von lebensgeschichtlich-narrativen Interviews nach Fritz SCHÜTZE und unter Bezugnahme der Einzelfallrekonstruktion nach ROSENTHAL – für DDR-Frauen in der Opposition eine Typologie heraus. Das gesellschaftliche Tabu der NS-Vergangenheit politisierte familiär und gesellschaftlich den ersten Typus der Frauen. "Auch oder gerade weil diese Vergangenheit nicht Teil des öffentlichen Diskurses werden konnte, wirkte sie umso stärker im Privaten, um dann erst von der nächsten Generation thematisiert zu werden." (S.178). Der zweite Typus politisiert sich durch das gesellschaftliche Tabu des Stalinismus. Der dritte Typus gelangt in die Opposition aufgrund des gesellschaftlichen Tabus der familialen Gewalt. Dementsprechend bewältigen die Vertreterinnen der unterschiedlichen Typen den gesellschaftlichen Wandel jeweils anders. [24]
MIETHEs Beitrag zum Paradigmenwechsel in der Bewegungsforschung besteht darin, mit der Einbeziehung des Biografieforschungsansatzes den "informellen" Bereich als politischen Handlungsraum sowie als Raum der politischen Sozialisation von friedensbewegten Frauen in der DDR sichtbar zu machen. Motivationen und Veränderungen der Beteiligten werden aus den inneren Zusammenhängen der Akteurinnen der DDR-Opposition rekonstruiert. [25]
7. Prozesse von Anpassung und Widerstand
Die vier letzten Artikel des Bandes widmen sich aus polnischer (FLAM), russischer (TCHOUIKINA) und DDR-Sicht (FINDEIS, HEUER) der Komplexität von Anpassungs- und Widerstandsprozessen. Auch hier werden Berührungspunkte von Biografie und Politik herausgearbeitet. [26]
Die polnische Soziologin Helena FLAM untersucht Prozesse, wie es Menschen gelingt, sich aus einer kommunistischen Partei zu lösen. Außerdem untersucht sie Prozesse der Bindung an oppositionelle Bewegungen. Die Momente von Exit und Entry stellt sie in einer vergleichenden Studie dar, und zwar für die DDR und für Polen. Dazu hat FLAM zwischen 1991 und 1996 mit Kommunisten, Dissidenten und Zuschauern (wie sie es nennt) autobiografische, narrative Interviews geführt. Die Interviews wurden nach der Methode von Fritz SCHÜTZE ausgewertet. FLAM legt darauf Wert, die Gefühlsebene der Forschungspartner wahrzunehmen. Sie arbeitet heraus, dass die Loslösung von der kommunistischen Partei-Heimat langwierig und mit Angstgefühlen verbunden war. Wichtigste Begleiter dabei waren andere und vor allem neue Vorbilder. Dies ähnelt sich in der DDR und in Polen. [27]
Für den Moment des Entry stellt FLAM jedoch Unterschiede fest: Ostdeutsche sind oft durch ihr bloßes Anderssein in die Oppositionsrolle geraten, polnische Oppositionelle waren von Anfang an bewusst dabei. Sie haben eine bestimmte Form von Angstmanagement besser erlernen können. Für die Ostdeutschen war die fehlende soziale Anerkennung immer auch ein Problem und verstärkte den Individualismus vieler Oppositioneller. Für die DDR stellt FLAM somit eine geringere Anziehungskraft der oppositionellen Bewegung fest als in Polen. FLAM bietet allerdings keine Erklärung für dieses Phänomen. Eine weiterführende Hypothese könnte sein, dass Opposition und Widerstand in der DDR meistens mit einer Isolation von familiären Zusammenhängen verbunden war. Vielleicht lag das daran, dass die Bindung der älteren Generation an das DDR-System zu stark gewesen ist. Dagegen waren in Polen ähnlich wie in anderen mittelosteuropäischen Ländern ganze Familien mitunter jahrzehntelang in der Oppositionsarbeit aktiv bzw. unterstützen diese. Zur Klärung dieser Frage stehen noch empirische Untersuchungen aus, jedoch verweist auch schon der folgende Beitrag der russischen Soziologin Sofia TCHOUIKINA auf diese Problematik, indem sie zeigt, wie quasi ganze Familien in der ehemaligen UdSSR mit dissidenter Politik beschäftigt waren. [28]
TCHOUIKINA untersucht die antisowjetische Dissidentenbewegung. Viele wählten die Dissidentenbewegung als "Hauptberuf", da sie ihre professionelle Selbstverwirklichung aufgrund von Repressionen nicht verfolgen konnten oder nicht mehr wollten. Die aufreibende Oppositions-Arbeit wurde geschlechtsspezifisch verteilt: Frauen waren als Schreibkräfte tätig, sorgten für den Informationsfluss in den Netzwerken und öffneten ihre Privaträume für die Bewegung. Nicht selten wurden in Wohnungen ganze Seminare abgehalten. "Das Dissidententum konnte nicht das Privatinteresse von einzelnen Familienmitgliedern sein, sondern es war immer eine Familienbeschäftigung." (S.219) [29]
Viele von den Oppositions-Frauen lehnen für sich die Selbstbezeichnung als Dissidentin ab. Sie waren (oft wegen ihrer Kinder) nicht wie viele Männer im Lager eingesperrt, die eine bedeutende Rolle in der Festigung politischer Überzeugungen spielten und somit eine wichtige Voraussetzung für die Identität als Dissident darstellten. Diese Frauen sind heute weiterhin als "Zuarbeiterinnen" tätig, wie in Verlagen oder beim Radio. Auch TCHOUIKINA zeigt mit ihrer Untersuchung, dass die Trennung "privat versus öffentlich" nicht trägt. [30]
Der Theologe Hagen FINDEIS hat biografische Leitfadeninterviews mit ostdeutschen Bischöfen daraufhin untersucht, inwiefern in den Biografien Widerstandspotenzial angelegt ist. Nach FINDEIS treten bei den ostdeutschen Bischöfen generationsspezifische Unterschiede während der Diktatur in den Hintergrund, es kommt zu einem "Zusammenrücken der Generationen". Er beschreibt sie in ihrer Ohnmacht dem Staat gegenüber als Schicksalsgemeinschaft. FINDEIS stellt gleichzeitig eine Annäherung der Kircheneliten an die SED fest, die notwendig gewesen sei, um diese zu kritisieren und gleichzeitig mit ihr verhandeln zu können. Das Ergebnis seiner Studie zeigt, dass die DDR-Bischöfe eine "konfliktträchtige Symbiose mit den Mächtigen" (S.242) eingegangen sind, die herrschaftsstabilisierend und gleichzeitig aber auch systemzersetzend war. Damit meint FINDEIS, dass neben der Anpassung an das System "DDR-Sozialismus" ebenso intensiv die Demontage dieses Systems durch die Bereitstellung kirchlicher Räume und Netzwerke verfolgt wurde. [31]
Interessant wäre es, mehr darüber zu erfahren, was das beschriebene Zusammenrücken der Generationen für die gesellschaftliche Verfasstheit vor und nach 1989 bedeutet. Vielleicht ist das – eventuell auch scheinbare – Verschwinden von generationellen Unterschieden damit verbunden, dass sich das Widerstandspotenzial der Bischöfe verringert und im Phänomen "Kirche im Sozialismus" seinen Ausdruck gefunden hat. [32]
Wolfgang HEUERs ambitionierte Studie zu den Entstehungsbedingungen von Zivilcourage zeigt ebenfalls Verbindungen zu persönlichen Hintergründen. Er lehnt sich an die dokumentarische Methode nach BOHNSACK an. Seine Fallstudien aus der Post-DDR zeigen, dass viele Menschen aus einer "inneren" Notwendigkeit heraus Zivilcourage gezeigt haben. Ihr Einsatz gilt immer auch der Herstellung des eigenen inneren Gleichgewichts, ihre Motivation ist mit einem persönlichen Betroffenheitsgefühl verbunden, das HEUER biografisch begründet. Diese Haltung hat sich im Laufe der Zeit habitualisiert. "Sie reiben sich mit diktatorischen Verhältnissen ebenso wie mit diktatorisch agierenden Individuen, durch die sie ihre Freiheit in der zivilen Gesellschaft eingeschränkt sehen." (S.255) Die Habitualisierung von Zivilcourage bringt es mit sich, dass die Anpassung an neue gesellschaftliche Zustände mitunter schwierig verläuft. Andere hingegen können dieses Potential in politischen und sozialen Zusammenhängen produktiv nutzen. HEUER unterscheidet hier zwischen "Tragikern" und "Komikern". Der Tragiker ist in ausweglose Situationen verstrickt, und begründet dies immer mit Macht und Machtmanipulation. Der Komiker dagegen hat ein distanziertes und souveränes Verhältnis zu Machtungleichheiten. [33]
HEUER hat damit eine Studie vorgelegt, die einen empirischen Zugang zum Phänomen Zivilcourage sucht, anstatt (wie bisher in den Politikwissenschaften durchaus üblich) auf der Basis normativer Kategorien moralische Aussagen zu treffen. Damit wird Zivilcourage als etwas "Normales" betrachtet, als Konsequenz bestimmter biografischer Prozesse. Menschen mit Zivilcourage werden so von dem "Selbstlosigkeits"-Sockel geholt, auf den man sie gerne stellt. [34]
Öffentliche und private Zusammenhänge in ihrer Interaktion in die Bewegungsforschung zu integrieren, dass ist der überfällige Paradigmenwechsel, den MIETHE und ROTH meinen. Ein solcher maßen ausgearbeiteter Forschungsansatz könnte zu neuen Einsichten beispielsweise in der Forschung zu Links- und Rechtsextremismus verhelfen. Insofern kann der Titel des Buches "Politische Biografien und sozialer Wandel" als Programm für eine neue Bewegungsforschung gelten. [35]
MIETHE und ROTH bringen ihre Kritik an der Bewegungsforschung auf den entscheidenden Punkt der Selbstdefinition als "Makro"-Soziologie und stellen mit den in diesem Band versammelten theoretischen Beiträgen und empirischen Studien detailliert dar, dass diese Sichtweise einiger grundlegender Korrekturen bedarf. Insbesondere die Depersönlichung der AkteurInnen Sozialer Bewegungen durch die Bewegungsforschung führt dazu, dass die AkteurInnen lediglich als schmückendes "Beiwerk" großer Theorien untersucht und dargestellt werden. Die Ignorierung familiärer und persönlicher Prozesse führt zu einer unterkomplexen Betrachtungsweise. Langfristige Prozesse und Strukturen von politischer Sozialisation bleiben so merkwürdig blass. Das Gleiche betrifft die Forschung zum ebenfalls langfristigen Wandel von Gesellschaften, der bekannterweise allzu oft auf Soziale Bewegungen zurückgeht. Ebenso wenig reicht es aus, Repressionen in Gesellschaften allein institutionell zu untersuchen. Anpassungsdruck wird meist in der unmittelbaren und familiären Umgebung erfahren. Auch sind Widerstand und Zivilcourage nicht allein systemisch zu fassen. [36]
Sich bewegen und damit etwas bewegen, sich von etwas bewegen lassen, das ist und bleibt der Ursprung von Sozialen Bewegungen. Menschen bewegen Systeme und Systeme bewegen Menschen. Systeme ohne Menschen sind Luftballons. Transformationsprozesse sind deshalb notwendigerweise auf der persönlichen wie auf der gesellschaftlichen Ebene zu analysieren. Um diese Vielfalt erfassen zu können, sind Rekonstruktionen des Biografischen unerlässlich. Es sind Personen, die die gesellschaftlichen Bedingungen, auf die sie treffen, in politisches Handeln umsetzen. Das Leben von AkteurInnen Sozialer Bewegungen verändert sich mitunter ganz grundlegend. Dieses "umgekrempelte" Leben ist ein politischer Faktor, der lebendige Bestandteil des sogenannten kollektiven Akteurs, der sozialen Wandel bewirkt. [37]
Politisches Handeln findet in öffentlichen, halböffentlichen und privaten Räumen statt. Politische Überzeugungen entstehen nicht im abstrakten Raum, sie haben immer auch biografische Bezüge ganz unterschiedlicher Arten. Sonst wäre das politische Geschäft doch eher wohl nur ein moderater Diskussions-Club – dass dem nicht so ist, wissen wir alle! [38]
Bisherige normative und "makrosoziologische" Forschungsansätze der politikwissenschaftlichen Bewegungsforschung bekommen durch die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Methoden eine empirische Basis, mit der es gelingen kann, aus der biografischen Perspektive heraus ein facettenreiches Bild sozialer Bewegungen nachzuzeichnen. Die Analyse von gesellschaftlichen und organisationellen Strukturen bekommt so das ihr gemäße "Unterfutter". Die beste Resonanz dafür ist sicherlich von den AkteurInnen sozialer Bewegungen selbst zu erwarten, wenn so entstandene wissenschaftliche Arbeiten von ihnen tatsächlich auch rezipiert und diskutiert werden. Dass diese Form des Dialoges von Gesellschaft und Wissenschaft in Deutschland nicht besonders hohes Ansehen genießt, wird z.B. von FEHR (1998) kritisiert, der dies innerhalb von Ostmitteleuropa als deutsche Besonderheit bezeichnet. [39]
Eine praxisnähere Forschung könnte somit einerseits die Distanz zwischen akademischer Welt und Sozialen Bewegungen auflockern, andererseits kann die Wissenschaft ihren Beitrag zu Sozialen Bewegungen und somit auch gesellschaftlichen Entwicklungen wahrnehmbarer leisten. Nicht zu vergessen sei hierbei der Anteil von Bewegungsakteuren, die in die Wissenschaft "wechseln" und damit dann selbstverständlich ihre eigenen Perspektiven in die Forschung hinein bringen (wobei sie die Maßstäbe von "objektiver" und "subjektiver" wie von "Makro"- und "Mikro"-Forschung durcheinander bringen und auch sonst für mancherlei Wirbel sorgen können). Aus diesen Gründen ist MIETHEs und ROTHs Buch auch als ein Beitrag für eine Forschung im Dialog zu bewerten. [40]
Bohnsack, Ralf (1993). Rekonstruktive Sozialforschung – Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. Opladen: Leske und Budrich.
Fehr, Helmut (1998). Bewegungen für Bürgerrechte und Öffentlichkeit – ein Thema der Vergangenheit? Forschungsjournal NSB, 11(1), S.103-112.
Ferree, Myra Marx & Roth, Silke (1999). Kollektive Identität und Organisationskulturen. In Ansgar Klein, Hans-Josef Legrand & Thomas Leif (Hrsg.), Neue Soziale Bewegungen. Impulse, Bilanzen und Perspektiven (S.131-143). Opladen: Westdeutscher Verlag.
Hellmann, Kai-Uwe (1999). Paradigmen der Bewegungsforschung. In Ansgar Klein, Hans-Josef Legrand & Thomas Leif (Hrsg.), Neue Soziale Bewegungen. Impulse, Bilanzen und Perspektiven (S.91-113). Opladen: Westdeutscher Verlag.
Knabe, Hubertus (1988). Neue Soziale Bewegungen im Sozialismus. Zur Genesis alternativer politischer Orientierungen in der DDR. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 40(3), S. 551-569.
Miethe, Ingrid (1999). Frauen in der DDR-Opposition. Lebens- und kollektivgeschichtliche Verläufe in einer Frauenfriedensgruppe. Opladen, Leske und Budrich.
Pfeiffer, Christian (1999). Anleitung zum Haß. DER SPIEGEL Nr.12/99, S.60-63.
Raschke, Joachim (1985). Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß. Frankfurt/Main: Campus.
Rosenthal, Gabriele (1995). Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/M.: Campus.
Roth, Silke (1997). Political Socialization, Bridging Organization, Social Movement Interaction: The Coaltion of Labor Union Woman, 1974-1996. Connecticut: University of Connecticut.
Rucht, Dieter (2000). Neue Soziale Bewegungen. In Uwe Andersen & Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik (S.404-409). Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.
Schütze, Fritz (1976). Zur linguistischen und soziologischen Analyse von Erzählungen. In Internationales Jahrbuch für Wissens- und Religionssoziologie (Bd. 10, S.7-41). Opladen: Leske + Budrich.
Katharina GAJDUKOWA (geb. 1967) ist Erziehungswissenschaftlerin. Sie promoviert zum Thema "Begegnungsprojekte von Opfern und Tätern des Staatssicherheitssystems". Die Promotion ist in die Forschungswerkstatt von Prof. Ralf BOHNSACK an der FU Berlin eingebunden. Die Autorin ist in der Politischen Bildung tätig mit den Schwerpunkten EU-Osterweiterung, Berliner Stadtentwicklung und DDR.
Kontakt:
Katharina Gajdukowa
Nordkapstr. 8
D-10439 Berlin
Tel.: 030 – 447 363 12
E-Mail: gajdukowa@hotmail.com
Gajdukowa, Katharina (2002). Paradigmenwechsel in der Forschung zu Sozialen Bewegungen. Review Essay: Ingrid Miethe & Silke Roth (Hrsg.) (2000). Politische Biografien und sozialer Wandel [40 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(4), Art. 48, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0204488.
Revised 2/2007