Volume 3, No. 4, Art. 34 – November 2002
Rezension:
Gerald Kral
Klaus Boehnke & Nicola Döring (Hrsg.) (2001). Neue Medien im Alltag: Die Vielfalt individueller Nutzungsweisen. Lengerich: Pabst 2001, 237 Seiten, ISBN: 3-935357-45-1, EUR 15.-
Zusammenfassung: Ziel des Buches ist es, Beispiele für Anwendungen neuer Medien im Alltagsleben aufzuzeigen und wissenschaftlich zu erforschen. Es geschieht dies anhand der wichtigen Anwendungskontexte Information, Unterhaltung, Lernen, Arbeit und Sozialkontakte. Durch diesen recht weiten Bogen finden sich Themenbereiche, die den Lesenden teils mehr, teils weniger vertraut sein dürften, aber durch den von den Herausgebern angestrebten eher allgemeinverständlichen Stil bereiten auch die weniger vertrauten Bereiche keine Probleme.
Die Dynamik des Untersuchungsgegenstandes bringt es mit sich, dass in einem Band weder die erwähnten Bereiche erschöpfend abgehandelt werden können, noch kann erwartet werden, dass alle Bereiche, in denen neue Medien eine Rolle spielen, abgedeckt werden können. Verdienst und Stärke des Buches ist es, wichtige Bereiche in der Breite darzustellen; in die Tiefe zu gehen, ist gar nicht die Absicht. Die einheitliche Gliederung der einzelnen Beiträge trägt viel zur Lesbarkeit und Verständlichkeit bei. Teilweise gehen die Autor(inn)en auf die vor allem in der Öffentlichkeit häufig diskutierte Frage der Bewertung neuer Medien ein und können durch die berichteten Forschungsergebnisse zu einer Versachlichung dieser oft emotional und irrational geführten Diskussion beitragen. Insgesamt ist der Band ist ein gelungener Überblick über dieses wichtige Thema.
Keywords: Neue Medien, Information, Unterhaltung, Lernen, Arbeit, Sozialkontakte, Technikkritik, Mediennutzen
Inhaltsverzeichnis
1. Ziele des Buches
2. Anwendungskontext Information
3. Anwendungskontext Unterhaltung
4. Anwendungskontext Lernen
5. Anwendungskontext Arbeit
6. Anwendungskontext Sozialkontakte
7. Fazit
Neue Medien durchdringen zunehmend alle Bereiche unseres Lebens. Damit verbunden sind häufige Diskussionen – sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch auf wissenschaftlicher Ebene – darüber, wie dieses Phänomen zu bewerten ist. Es stehen einander dabei zumeist "technikpositive" und "techniknegative" Meinungen gegenüber. Diese Auseinandersetzungen werden häufig in emotionalisierter Form geführt, zu kurz kommt dabei die sachliche Form des Diskurses. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes beschreiben in ihrem Vorwort als ihr Ziel, die allgegenwärtige Präsenz der neuen Medien in unserem Alltagsleben nicht nur zu beschreiben, sondern wissenschaftlich zu untersuchen. Die meisten Autorinnen und Autoren im besprochenen Buch gehören der Forschergruppe "Neue Medien im Alltag" an, die von der DFG unterstützt wird; die Beiträge sind bearbeitete Fassungen einer Ringvorlesung zum Thema, die im Sommersemester 2000 an der Universität Chemnitz gehalten wurde. [1]
Das Buch stellt die Eingebettetheit der neuen Medien in das Alltagsleben anhand von fünf exemplarischen Bereichen dar: Information, Unterhaltung, Lernen, Arbeiten und Sozialkontakt, zu denen jeweils zwei Beiträge enthalten sind. [2]
2. Anwendungskontext Information
Josef KREMS vom Institut für Psychologie der TU Chemnitz beschäftigt sich im ersten Beitrag zum Thema Information mit Gestaltung und Gestaltungsfehlern von Hypertext-Dokumenten. Er gibt zunächst eine kurze Einführung in Geschichte und Entwicklung von Internet und WWW und eine kurze Erläuterung der Rezeption von Hypertexten im Unterschied zur Rezeption von linear aufgebauten Texten. Anschließend geht er auf Probleme des Designs von Hypertext-Dokumenten ein und referiert Forschungsergebnisse dazu, insbesondere die Diskussion über "Desorientierung" ("lost in cyberspace") und "kognitiver Überlastung". Er zitiert auch einen Webdesign-Experten, dessen Maxime etwa so lautet, dass zum Gestalten einer Website am besten ein Blick auf die zwanzig meistbesuchten Internetseiten geworfen werden sollte, deren Designelemente einfach zum Standard erhoben werden sollten. – Erfolg ist, was sich durchsetzt. [3]
Gegen diese Ansicht, die anmutet wie die Definition von Intelligenz als die den Erfolgreichen gemeinsame Eigenschaft, können natürlich jede Menge Einwände in Richtung Kreativitäts- und Innovationsfeindlichkeit erhoben werden und ein Thema wie dieses theoretisch-wissenschaftlich zu untersuchen, scheint nicht so einfach zu sein, da viele gestalterischen Elemente einfließen. KREMS führt auch eine Liste von "Design-Fehlern" an, bei denen sich die Frage erhebt, ob es sich dabei nicht eher um Programmier-Fehler handelt (z.B. Seiten, von denen kein Button zur Startseite oder überhaupt irgendwohin führt), woran auch die enge Verwobenheit der grafischen Arbeit und der Programmierarbeit deutlich wird. [4]
KREMS gibt in der Folge einen Überblick über Konzepte und Theorien zur Hypertext-Rezeption, die z.T. gestaltpsychologisch begründet sind (Kohärenzbildung), z.T. aus der sprachwissenschaftlichen Forschung stammen (Mentale Modellbildung) und stellt das eigene Forschungsprojekt zum Hypertext-Design vor, wobei nochmals darauf zu verweisen ist, dass der hier gemeinte Designbegriff weniger kreativ-gestalterisch als kognitionspsychologisch und textrezeptionstheoretisch gemeint ist. KREMS konnte Forschungsergebnisse replizieren, die ergaben, dass lineare Texte beim bloßen Lesen bessere Ergebnisse beim Wissenserwerb und geringere Orientierungsprobleme im Vergleich zu Hypertexten erbringen. Das interessante Zusatzergebnis war jedoch, dass unter einer Versuchsbedingung, bei der gezielt nach bestimmten Informationen gesucht werden sollte, hinsichtlich des allgemeinen Wissenserwerbes keine Unterschiede zwischen linearen Texten und Hypertexten gefunden werden konnten und im Gegensatz zum unspezifischen Rezeptionsziel Hypertexte die bessere Orientierung ermöglichten. Der Autor schließt daraus, dass besonders bei Texten, die mit unspezifischen Zielen rezipiert werden, erhöhter Gestaltungsbedarf gegeben ist. Als weiteren wesentlichen Punkt für Gestaltungscharakteristika erwähnt KREMS das Ausmaß der Expertise des Benutzers hinsichtlich Medium und Inhalt. – Punkte, die in der Usability-Forschung eine wesentliche Rolle spielen und die Bedeutung des Blickes auf die zu erreichende Zielgruppe unterstreichen. [5]
Der zweite Beitrag zum Thema "Information" stammt von Günter RAGER und Lars RINSDORF, beide arbeiten am Institut für Journalistik der Universität Dortmund. Sie handeln das Thema Information am Beispiel Print-Zeitungen versus Online-Journalismus ab, speziell im Spiegel des Nutzungsverhaltens von Jugendlichen. Sie zeigen in einem Überblick zunächst recht gut, dass es eigentlich nicht so sehr um die Frage geht, wann journalistische Online-Angebote Print-Zeitungen endlich verdrängt haben werden, sondern die Autoren beleuchten vor allem die ergänzenden Aspekte der beiden Publikationsformen. Parallel zum in den letzten Jahren geprägten Begriff "Online-Kompetenz" weisen die Autoren darauf hin, dass es neben der allgemeinen Lese-Kompetenz auch eine spezielle Zeitungslese-Kompetenz gibt, die unterteilbar ist in eine "Mikro-Kompetenz" (Wie ist der einzelne Zeitungsartikel aufgebaut?) und in eine "Makro-Kompetenz": Makro-Kompetenz besteht im Verständnis der "Navigation" in einer Print-Zeitung (Welche Ressorts gibt es? Welche Informationen sind in welchem Teil der Zeitung zu finden? Welche festen Rubriken gibt es? usw.). Diese Kenntnisse ermöglichen den Nutzer(inne)n einen recht selektiven Zugriff auf Texte in Print-Zeitungen. RAGER und RINSDORF zitieren Untersuchungen, aus denen hervorgeht, dass speziell bei Jugendlichen eine relativ starke "Print-Zeitungsnutzung" vorherrscht, vor allem was die regionalen Tageszeitungen betrifft (40% Reichweite bei den 14-19jährigen), wohingegen es nur zu einer relativ geringen informationsbezogenen Online-Nutzung kommt, ohne dass hier allerdings Zahlen genannt werden. [6]
Die Autoren stellen die These auf, dass "Jugendliche mit hoher Zeitungslese-Kompetenz es einfacher haben, informative Hypertexte in Internetumgebungen effektiv und effizient zu nutzen, denn sie können zumindest in Teilen auf Routinen zurückgreifen, die sie sich im Umgang mit Tageszeitungen erworben haben" (S.42). Sie stellen in der Folge ein von ihnen durchgeführtes Forschungsprojekt vor, bei dem im Wesentlichen zwei Fragestellungen untersucht worden sind: Welche Merkmale zeichnen die unterschiedlichen Leser(innen)-Typen aus (personenorientierter Forschungsstrang), und wie muss eine Zeitung aussehen, die bei Jugendlichen ankommt (produktorientierter Forschungsstrang)? Die erhobenen Daten stammen aus einer Sekundäranalyse mehrerer vorliegender Mediennutzungsstudien, aus einer Fragebogen-Pilotstudie mit ca. 800 Befragten und explorativen Leitfadeninterviews mit 30 Schüler(inne)n. Die Untersuchung wurde allerdings ausschließlich anhand von Printmedien durchgeführt, zur Nutzung informationsbezogener Online-Angebote wurden keine Daten erhoben, die Autoren regen lediglich an, dass die Ergebnisse aus den printbezogenen Daten noch durch zusätzliche Forschungsaktivitäten hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf den Online-Bereich überprüft werden müssten. [7]
Die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung über das Zeitungs-Nutzungsverhalten von Jugendlichen sind: Das Vorhandensein von Zeitungen im Haushalt, ein möglichst frühes In-Berührung-Kommen mit Zeitungen und gemeinsames Zeitungslesen in der Familie als wichtige Kriterien für das Entwickeln eigener Mediennutzung. Neben der Herkunftsfamilie orientieren sich Jugendliche auch sehr stark an der Clique, in der sie sich bewegen. Je häufiger dort Zeitungen gelesen werden, desto eher nutzen die einzelnen Jugendlichen das Medium auch für sich. Wenig Bedeutung haben Aufrufe von Lehrern und Lehrerinnen zur Zeitungsnutzung. [8]
Ein anderer Teil der Untersuchung bezog sich darauf, wie groß der Anteil von Artikeln ist, der von den Jugendlichen wahrgenommen wird und welchen Einfluss darauf Platzierung, Textgestaltung, etc. haben. Es gelten auch hier die bekannten Regeln: die größten Chancen, gelesen zu werden, haben Artikel auf der Titelseite, danach die auf der Rückseite einer Zeitung. Artikel mit Bildern werden öfter gelesen als solche ohne Bilder oder Fotos. Was zu diesen Fragen in Ergänzung interessieren würde, sind Vergleichsdaten zum Nutzungsverhalten von Erwachsenen, auf die allerdings von den Autoren nicht hingewiesen wird. [9]
3. Anwendungskontext Unterhaltung
Die nächsten beiden Kapitel beschäftigen sich mit dem Bereich der Unterhaltung, einem traditionell sehr wichtigen Nutzungsbereich der neuen Medien. Evelyne KEITEL, Randi GUNZENHÄUSER und Gunther SÜß, alle vom Institut für Amerikanistik der TU Chemnitz, befassen sich mit dem sehr populären Bereich der Computerspiele und dem weniger populären, aber sehr spannenden Bereich der Online-Literatur. Anhand der Publikationsstrategien eines der erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart, Stephen KING, wird deutlich, wie auch im Bereich der Literatur versucht wird, neue Medien einzusetzen: es gab von Stephen KING z.B. eine Publikation, die nur per Download aus dem Netz gegen Gebühr erhältlich war – zweifellos eine völlig neue Vertriebsform für Belletristik, die offenbar auch angenommen wurde, wie 200.000 (!) Downloads in den ersten 24 Stunden nach Online-Stellung zeigten (macht 500.000$ im gleichen Zeitraum, dann allerdings war die Seite gehackt und der Inhalt über eine andere Seite kostenlos verfügbar. – Eine schöne Internet-Geschichte). [10]
Die Autor(inn)en beschreiben auch eine völlig neue Äußerungsform von Literatur, die in dieser Variante eigentlich nur im Internet realisierbar ist, sozusagen die native Anwendung von Literatur im Internet, nämlich "kollaborative Hypertexte". Literarische Texte, die nicht nur einen Autor haben, nicht einer Einzelperson "gehören", sondern an deren Erstellung und Fortgang eine größere Anzahl von Personen via Internet beteiligt ist, ohne dass sie eine Autorengruppe im herkömmlichen Sinn darstellen. "Kollaborative" Internetseiten gibt es auch in anderem Zusammenhang (vgl. http://www.fear.gr/, eine Kunstprojekt-Seite mit einer Sammlung von persönlichen Ängsten; jeder Besucher dieser Seite kann seine eigenen Ängste hinzufügen) und führen zu einem anderen Bereich, den die Autor(inn)en kurz erwähnen, nämlich zu MUDs, die offenbar besondere Bedeutung für Identitätsarbeit haben können (zu MUDs führt in dem Band Nicola DÖRING aus). Der Beitrag von KEITEL et al. zeigt besonders deutlich, dass und wie Internet Einfluss auf kulturelle Entwicklungen nimmt. [11]
Der zweite Beitrag zum Bereich Unterhaltung beschäftigt sich mit der Bedeutung von Radio, Musikfernsehen und Internet in der Entwicklung Jugendlicher und stammt von Klaus BOEHNKE (Institut für Soziologie der TU Chemnitz) und Thomas MÜNCH (Institut für Musikpädagogik/Musikdidaktik der Hochschule für Musik, Würzburg). In der referierten Untersuchung wird die These überprüft, dass Jugendliche Medien aktiv zur Bewältigung aktuell anstehender Entwicklungsaufgaben nutzen. Die Stichprobe, an der die Untersuchung vorgenommen wurde, bestand aus sogenannten "Vielnutzern" der Medien Radio, Musikfernsehen und Internet im Alter zwischen 12 und 20 Jahren. Eine wesentliche Variable in der Untersuchung ist der "Entwicklungsdruck", der mittels Fragebogen erhoben wurde und als Diskrepanz zwischen dem Ist-Zustand in Bezug auf bestimmte Entwicklungsaufgaben und dem diesbezüglichen Wunsch-Zustand in einem Jahr definiert ist. Interessanterweise zeigte die Untersuchung, dass (bei den Intensivnutzern der erwähnten Medien) vor allem beim Radiohören intensiver Entwicklungsdruck besonders intensive Mediennutzung nach sich zieht – eine frohe Botschaft für alle Macher von Jugendradio. Leider bleiben die Autoren der Studie eine Interpretation dieses Ergebnisses schuldig. [12]
Nach der Unterhaltung folgt das Lernen. Josef SCHMIED von der TU Chemnitz beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen am Computer Englisch lernen. Er diskutiert zunächst den Sachverhalt, dass Internet-Aktivitäten in einem gewissen Ausmaß Englischkenntnisse erfordern – weil Englisch die Sprache des Internet ist – und geht auch auf das Phänomen englisch-deutscher Sprachvermischungen auf diversen Websites ein. In der Folge werden Möglichkeiten besprochen, mit dem Internet Englisch zu lernen – zunächst durch reine Textrezeption, dann durch Textproduktion und schließlich durch Kommunikation. SCHMIED erwähnt am Ende des Beitrags verschiedene Formen von Sprachlern-Software und stellt das an der TU Chemnitz entwickelte Projekt "Internet Grammar" (http://www.tu-chemnitz.de/phil/InternetGrammar) vor, das besonders benutzerspezifisch und interaktiv aufgebaut sei, verschiedene Niveaus von Vorkenntnissen berücksichtigt und zu Fehlern auch Kommentare abgibt; in weiteren Entwicklungsstufen soll mit "Internet Grammar" adressatengerechte Selbstanpassung des Systems erreicht werden. [13]
Das führt zum nächsten Thema, dem "lernenden Computer", das sich Werner DILGER (Institut für Künstliche Intelligenz der TU Chemnitz) widmet. Der Autor gibt einen Einblick in die Forschung über lernende Maschinen und stellt die kategoriellen Systeme dar, nach denen lernende Maschinen funktionieren. Es wird auch ein Projekt "Modellierung und Simulation" dargestellt, in dem der Versuch unternommen wird, sich zur Erforschung von Künstlicher Intelligenz an Modellen anzulehnen, die in Sprachwissenschaft und Psychologie, also Modellen zur Erforschung natürlicher Kognition und Intelligenz, verwendet werden. [14]
Der erste Beitrag zum Thema "Arbeiten" stammt von Ingo MATUSCHEK, Günter VOß und Frank KLEEMANN aus dem Institut für Soziologie der Universität Chemnitz. Sie berichten von einem Forschungsprojekt zu medienvermittelter Arbeit. Die Veränderungen der Arbeitswelt durch die neuen Medien zählen wahrscheinlich zu den spannendsten Auswirkungen dieser Technologien mit einschneidenden Folgen, gleichzeitig wahrscheinlich zu den noch zu wenig erforschten (für eine ausführliche Betrachtung siehe z.B. die Studie "Arbeits- und Lebensformen der Zukunft" vom Mai 2001 des Liberalen Instituts Zürich; die Studie war zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Rezension nicht mehr online verfügbar). MATUSCHEK et al. gehen zunächst auf diese Problematik ein und führen in der Folge ausführlich in die Methodik ihrer Untersuchung ein – dieser Teil der Arbeit hätte vielleicht etwas gestraffter ausfallen können, da viele der Leser mit den Grundprinzipien qualitativer und quantitativer Forschung vertraut sein dürften. Die Fragestellungen beziehen sich auf unterschiedliche Stile medienvermittelter Arbeit, wie z.B. ob die Medien nur als Arbeitsmittel oder auch als Kommunikationsmittel verwendet werden, wie die Selbstorganisation des Arbeitsalltages gestaltet wird, wie die Kooperation mit Kollegen aussieht und welche Auswirkungen medienvermittelte Arbeit für die gesamte Lebensführung hat. Eine systematische Auswertung der Untersuchung steht noch aus. Die Autoren beschreiben eher allgemein gehaltene Dimensionen, die zur Beschreibung von Arbeits- und Technikstilen herangezogen werden können und sich auf Technikumgang, -aneignung und -bewertung auswirken und präsentieren zwei prototypische, vielleicht etwas zu klischeehaft gezeichnete Darstellungen von unterschiedlichen Umgangsstilen mit medienvermittelter Arbeit: "Herr Jung", 34, ledig, keine Kinder, Webdesigner, selbstausbeuterischer Umgang mit seinen Ressourcen, Freizeit und Arbeitszeit fließen ineinander, Kunden sind Freunde und umgekehrt. Demgegenüber: "Herr Alt", 58, aus der DDR, verheiratet, zwei Kinder, als Gebietsverkaufsleiter zur Anwendung Neuer Medien auch von zu Hause aus gezwungen, was von ihm und seiner Familie als störend empfunden wird. [15]
Das Kapitel zeigt insgesamt auf, wie wichtig die Auseinandersetzung mit dem Bereich der durch neue Medien entstehenden neuen Arbeits- und Lebensformen ist, kann aber natürlich keine endgültigen Antworten geben, was nicht an der vorliegenden Arbeit liegt, sondern an der Komplexität und Aktualität des untersuchten Themas. [16]
Annette HENNINGER und Andrea SIEBER, beide vom Institut für Künstliche Intelligenz der Fakultät für Informatik der TU Chemnitz, beschäftigen sich mit der Frage der Mediennutzung von Mitarbeiter(inne)n in kleineren Software-Entwicklungsunternehmen. Sie berichten von einer Untersuchung, bei der Interviews und Arbeitsbeobachtungen in vier ostdeutschen und fünf westdeutschen Unternehmen mit maximal 20 Beschäftigten durchgeführt wurden. Die für manche womöglich überraschenden Ergebnisse waren, dass die Mediennutzung der befragten bzw. beobachteten Softwareentwickler(innen) – drei Frauen waren in der Stichprobe – insgesamt relativ gering war und sich vorwiegend auf E-Mail-Verkehr mit Kunden beschränkte; Newsgroup-Beteiligungen und Anwender-Software-Updates kamen nur bei "Internetfreaks" vor; ebenso kam es kaum zu privaten Internet-Nutzungen oder Online-Spielen. Die Autorinnen schlussfolgern daraus, dass sich bei den befragten Software-Entwickler(inne)n keine tiefgreifenden Umwälzungen des Arbeitsalltages durch die neuen Medien feststellen ließen. [17]
Es scheint jedoch nicht ganz eindeutig, inwieweit hier tatsächlich nur die Charakteristika der Arbeit der befragten Personen eingehen, oder ob vielmehr nicht auch das Arbeitsumfeld Klein- bzw. Mittelbetrieb einen Einfluss hat in dem Sinne, dass in kleinen Unternehmen stärker darauf geachtet werden kann (und wird), was der/die Einzelne während seiner Arbeitszeit macht und daher private oder auch nur mittelbar auf den aktuellen Arbeitsauftrag bezogene Nutzung neuer Medien erschwert wird. Darüber hinaus scheint in den untersuchten Unternehmen die Kultur der Mediennutzung teilweise (noch?) keinen umfassenden Platz einzunehmen, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass die meisten der Firmen zwar eine eigene Website betreiben, aber "die Selbstdarstellung der Unternehmen auf Homepages im WWW in der Regel zu wünschen übrig [lässt]" (S.170). [18]
6. Anwendungskontext Sozialkontakte
Der letzte der in dem vorliegenden Band diskutierten Bereiche befasst sich mit Sozialkontakten; einem in der öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussion um die Auswirkung neuer Medien besonders häufig und besonders kontrovers abgehandelten Thema. [19]
Stephan HABSCHEID und Werner HOLLY (Germanistische Sprachwissenschaft der TU Chemnitz) behandeln dabei ein Phänomen, das allen Nutzer(inne)n von Computern und neuen Medien aus eigener Erfahrung bekannt ist: das Sprechen vor dem Computer. Gemeint ist hierbei das Führen von Selbst-Gesprächen, das Sprechen mit dem Computer, mit anderen Anwesenden etc. während der Computerarbeit. Das Phänomen des Sprechens zum Computer in anthropomorphisierender Weise bzw. der Interaktion mit dem Computer wurde bereits mit anderen Herangehensweisen untersucht (vgl. z.B. eine psychologische Sichtweise bei SULER 2001); HABSCHEID und HOLLY untersuchen die Merkmale dieses "empraktischen Sprechens" (handlungsbegleitendes Sprechen) aus sprachwissenschaftlicher Sicht anhand von aufgezeichneten Beispielen aus acht verschiedenen sozialen Kontexten. Sie kommen zum Schluss, dass Computernutzung Sozialkontakte nicht unmittelbar zurückdrängt, sondern häufig auch Anlass direkter Kommunikation in teilweise fragmentarischen Formen des Sprechens ist. Diese Sprechformen sind für die Autoren jedoch nicht Anzeichen eines Sprachverfalles (wie vielleicht auch manchmal der durch die 160-Zeichen-Begrenzung entstandene Stil mancher SMS-Nachrichten gesehen wird), sondern hochfunktionale Formen empraktischen Sprechens, die zur Koordination und Selbststeuerung, Problemlösung oder Instruktion dienen. Sie schließen durchaus nachvollziehbar, dass daher aus den sprachlichen Äußerungen von Computerbenutzer(inne)n Anhaltspunkte für benutzergerechte Gestaltung von Schnittstellen gewonnen werden können. [20]
Der letzte Beitrag des Bandes stammt von Nicola DÖRING vom Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der TU Ilmenau, die zum Zeitpunkt des Entstehens der Buchbeiträge im Sommer 2000 Gastwissenschaftlerin an der TU Chemnitz war. DÖRING beschäftigt sich mit dem meiner Meinung nach besonders wichtigen Thema der "Selbstdarstellung mit dem Computer". Sie geht zunächst auf widersprüchliche Ansichten zur Kreation von Identität im Internet ein und stellt kurz zwei widersprüchliche Sichtweisen dieses Themas vor: die These der "Selbstmaskierung im Netz" (Menschen nehmen im Internet rein fiktive Identitäten an, die mit der Realität nichts zu tun haben, vorwiegend zum Zweck der Selbstidealisierung bis hin zu kriminellen Intentionen) versus der These der "Selbsterkundung im Netz" (virtuelle Identitäten repräsentieren durchaus authentische Persönlichkeitsanteile und bieten die Möglichkeit zur Selbstoffenbarung und Selbsterkundung, losgelöst von einschränkenden sozialen Kontexten). Das besonders spannende dabei scheint mir die Möglichkeit zu sein, neue Aufschlüsse zur psychologischen/psychoanalytischen Diskussion zum Bereich des "Selbst" und der "Identität" (Stichworte "multiples Selbst", "Kernidentität" usw.) zu gewinnen. [21]
Im Anschluss daran stellt DÖRING eine Untersuchung einer Stichprobe von 363 Homepages von Studenten vor, in der sie drei Fragestellungen verfolgt:
Die erste Hypothese besagt, dass ausgeprägte persönliche Selbstdarstellung und Befassung mit der eigenen Person zwar vorkommen, aber eher die Ausnahme als die Regel darstellen.
Für diejenigen persönlichen Homepages, die jedoch Merkmale der eigenen Person in den Mittelpunkt stellen, behauptet die zweite Forschungshypothese, dass dort Persönlichkeitsaspekte angesprochen werden, die eher im Sinne eines multiplen Selbst zu verstehen sind, als bei anderen schriftlichen Äußerungsformen über die eigene Person wie z.B. Bewerbungsunterlagen oder Kontaktanzeigen.
Die dritte Forschungshypothese behauptet, dass die mit dem Erstellen einer persönlichen Homepage verbundene Beschäftigung mit Fragen der Identität und Selbstdarstellung seinen Niederschlag auf den Homepages selbst, im Sinne von Meta-Reflexionen und Meta-Diskursen, findet. [22]
Aufgrund einer Auswertung von Häufigkeit und Inhaltskategorien studentischer Homepages kommt DÖRING zum Schluss, dass nur etwa 0,84% der Studierenden über eine Homepage verfügen, auf der sie explizit "virtuelle Selbstdarstellung" betreiben und findet somit die erste der oben erwähnten Hypothesen bestätigt. Was die zweite und dritte Forschungshypothese betrifft, ergeben sich aus den Daten ebenfalls bestätigende Ergebnisse, die jedoch z.B. für die zweite Hypothese mangels Vergleichsmöglichkeiten nicht exakt überprüft werden können. DÖRING lässt ihre Ausführungen mit Ausblicken auf weitere, zukünftige Forschungsfragen zu persönlichen Homepages schließen, die weiteren Aufschluss über den Umgang mit eigenen und fremden persönlichen Homepages geben können. Z.B: Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es zwischen einerseits persönlich vermitteltem, andererseits über die Homepage vermitteltem Ersteindruck von einer Person? [23]
Insgesamt bringt der Beitrag mit Fokus auf die persönlichen Homepages neue Forschungsperspektiven in das bei weitem nicht ausgereizte Thema der "Selbstdarstellung" (besser vielleicht: "Identitätsarbeit") und neue Medien ein. Nahe liegend erschiene in diesem Zusammenhang eine Nachfolgeuntersuchung von persönlichen Homepages einer Personengruppe, bei der die Identitätsarbeit eine insgesamt besonders vordringliche ist, nämlich bei Jugendlichen. [24]
Betrachtet man das Buch insgesamt, so kann das erwähnte Ziel, die wissenschaftliche Untersuchung der allgegenwärtigen Präsenz der neuen Medien in unserem Alltagsleben, als erreicht betrachtet werden. Dass einzelne Beiträge für verschiedenen Leserinnen und Leser unterschiedlich interessant sein werden, liegt an dem Bogen, der berechtigterweise gezogen wird. Der Lesbarkeit des Buches kommt auch die einheitliche Gliederung der unterschiedlichen Beiträge zu Gute – ein Verdienst, der wohl den Herausgebern zuzuschreiben ist. Wie für neue Forschungsgegenstände typisch, werden jedoch auch eine Reihe von neuen Fragen aufgeworfen, die die Richtung für weitere Forschungsaktivitäten aufzeigen. Zu erwähnen wäre hier insbesondere die Untersuchung allfälliger Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdbild im Zusammenhang mit persönlichen Homepages, wie von DÖRING vorgeschlagen oder auch eine weitere Untersuchung der Rolle von virtueller Selbstdarstellung für die Identitätsentwicklung, insbesondere bei Jugendlichen, wie vom Rezensenten erwähnt. [25]
Suler, John (2001). Mom, Dad, Computer: Transference Reactions to Computers. Verfügbar über: http://www.rider.edu/users/suler/psycyber/comptransf.html [Zugriff: 24.9.2002].
Gerald KRAL ist Klinischer Psychologe und Psychotherapeut in Wien. Tätigkeits- und Forschungsschwerpunkte sind Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen, psychologische Aspekte der neuen Medien und neue Medien in psychologischen Beratungs-, Behandlungs- und Selbsthilfekontexten.
Kontakt:
Dr. Gerald Kral
Kaltenleutgebnerstraße 13A/22
A-1230 Wien
E-Mail: g.kral@zentrum-rodaun.at
URL: http://www.zentrum-rodaun.at
Kral, Gerald (2002). Rezension zu: Klaus Boehnke & Nicola Döring (Hrsg.) (2001). Neue Medien im Alltag: Die Vielfalt individueller Nutzungsweisen [25 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(4), Art. 34, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0204348.
Revised 6/2008