Volume 3, No. 4, Art. 12 – November 2002
Medien, schwarz auf weiß
Achim Seiffarth
Review Essay:
Heinz Bonfadelli (1999). Medienwirkungsforschung I: Grundlagen und theoretische Perspektiven. Konstanz: UVK Medien, 276 Seiten, ISBN 3-89669-273-9, Euro 19,90
Heinz Bonfadelli (2000). Medienwirkungsforschung II: Anwendungen in Politik, Wirtschaft und Kultur. Konstanz: UVK Medien, 301 Seiten, ISBN 3-89669-274-7, Euro 19,90
Zusammenfassung: Ein Lehrbuch ist nicht notwendiger Weise etwas zum Lesen. Band I von BONFADELLIs "Medienwirkungsforschung" wird immer dann hilfreich sein, wenn wir uns mit einzelnen Theorien aus dem Lager der empirisch (quantitativ) verfahrenden Medien-Theorie vertraut machen wollen. Als Gesamtdarstellung hingegen verweigert das Werk Leserinnen und Lesern linearen Fortgang und Einheit der Erzählung. Kapitel nach Kapitel führt aus dem Nichts heraus, ins Nichts zurück. Vielleicht stellt gerade diese Erzählweise eine Gestalt erwünschter Wissenschaft dar. Band II behandelt verschiedene Bereiche bezahlter Auftragsforschung. Begrifflich auf wissenschaftsexterne Vorgaben festgelegt, gäben die zitierten Arbeiten Anlass zur Kritik. Zugleich ist es aufschlussreich, wie die Medien selbst bei der Wirkungsforschung aus dem Blick geraten, zugunsten einer bilderlosen Wahrheit, die weder Zeit noch Raum kennt.
Keywords: Theorie der Massenmedien, Medienwirkung, Wissenschaftsutopie, Wissenschaftsdarstellung, Bilderlosigkeit
Inhaltsverzeichnis
1. Theoriegeschichte und das Ende der Erzählungen
1.1 Das Lehrbuch ein Traum
1.2 Auch eine Geschichte der Medienwirkungsforschung zur Bildung der Menschheit
1.3 Das tätige Nichts
1.4 Aufzählung und Verwirrung
2. Eine andere Geschichte: Die Anwendung
2.1 Von der Verwirrung zur Anwendung
2.2 Tot ist tot, nackt ist nackt
3. Das Bild zum Text
Anhang I: Zusammenfassung Band I
Anhang II: Zusammenfassung Band II
Anhang III: Zwei schwierige Begriffe
1. Theoriegeschichte und das Ende der Erzählungen
Im Lehrbuch könnte geglättet erscheinen, was am wirklichen Fortgang der Forschung uns ungeordnet und holprig erschiene. Die Wahrheit nähme dann eine andere Gestalt an; sie zeigte sich, endlich vernünftig geworden, von ihrer besten Seite. Aber wie die aussieht, muss vom Material abhängen und von der Kraft, mit der wir diesem Form geben. Erst das Lehrbuch selbst kann uns hier Auskunft geben. [1]
Wenn Heinz BONFADELLI in seinem zweibändigen Werk über "Medienwirkung" darstellt, wie Medienwirkungen analysiert worden sind, gibt er seinen Wünschen Gestalt; er macht sich einen Reim, er gibt der Wissenschaft einen Körper. Wie stellt sich dieser Körper dar, und wie sieht dann Wahrheit aus? [2]
Sollte die Frage unzulässig sein? Wir wissen doch – von wem eigentlich? –, dass Wahrheit in unerreichbarer Ferne liegt, ein Ideal und deshalb körper- und geruchlos ist. Aber auf dem Weg, der uns führen soll, und nicht hinführen kann, weshalb am Ende vielleicht doch alles einerlei ist, haben wir es immerhin mit etwas zu tun, was es gibt, was man anfassen und sehen kann: mit Gebäuden, mit Werken, mit Händen, Köpfen und mit verliehenen oder verweigerten Urkunden. So riecht oder stinkt Wahrheit auch, oder sie schmeckt nach etwas: Philosophen ließen mitunter frische Luft herein und jagten den Mief heraus, während sich pragmatischere Bewusstheit auch mit dem Gestank des Augiasstalls abfände, als der Wahrheit aller Fleischfresserei. Wahrheit, bitter wie Medizin, mag versüßt werden; auch ihre Farbe ändert sich, in Grenzen: weder grün noch orange, selten lila, manchmal rot, ist sie am Ende doch schwarz, und schwarz auf weiß steht sie dann da, ein Geheimnis. [3]
So darf sich im Recht fühlen, wer beim Durchblättern eines wissenschaftlichen Werkes hin und wieder aufsieht und fragt, ob denn und warum denn die Wahrheit ausgerechnet so aussehen müsse, könne oder dürfe. Wir stoßen einmal auf unzumutbar lange, ein andermal auf unerträglich kurze Sätze, sollen uns auf weit ausholende Erzählungen einlassen oder Sprachbrocken in Kreuztabellen und zwischen Pfeilen und Linien auflesen; all das könnte, weil es zum Beispiel mühsam ist, unser Erstaunen wecken oder unseren Ärger. Wie aber erklären sich solche Unterschiede, wenn der Gegenstand derselbe sein soll? Bleibt ein Gegenstand übrig? [4]
Tatsächlich haben wir schon im Rahmen von BONFADELLIs Darstellung der "Medienwirkungsforschung", statt mit einem, mit vielen Gegenständen es zu tun. Zudem teilt der Autor selbst sein Werk in zwei Bände, die recht unverbunden nebeneinander stehen. Band I behandelt "Grundlagen und theoretische Perspektiven", Band II "Anwendungen". Das scheint zunächst, als wolle da wieder einmal jemand erst schwimmen lernen, um dann ins Wasser zu steigen – und ist deshalb irreführend. Denn im ersten Band geht es um Theorien im Sinne empirisch gestützter allgemeiner Aussagen, im zweiten Band geht es, grob gesagt, um Auftragsforschung zu wissenschaftsextern bestimmten Themen. Den Traum, die Utopie einer Wissenschaft wird daher der erste Band darstellen. Band I ist zudem mit anderen Lehrbüchern zum Thema vergleichbar, etwa "Theories of Mass Communication" von DE FLEUR und BALL-ROKEACH. [5]
1.2 Auch eine Geschichte der Medienwirkungsforschung zur Bildung der Menschheit
Die Theorie der Medienwirkung fängt nicht bei sich selber an, sondern bei dem, was sie alles gewesen ist. Sie kommt offenbar ohne Erzählung ihrer eigenen Geschichte nicht aus. So scheint man uns durchaus nicht verschweigen zu wollen, dass die ersten systematischen Versuche auf einem einfachen Stimulus-Response-Modell beruhten und dass zehn Jahre später jemand die Idee hatte, zwischen S und R ein O einzufügen, O wie Organismus (Triebe, Bedürfnisse). Das Modell ist also komplexer geworden; etwas wie Fortschritt zeichnet sich ab und unsere Erzählung könnte sich dem Bildungsroman nähern. Aber der Schein trügt. Denn die gegenwärtige Forschungs- und Theoriesituation fügt sich kaum dem Bild einer reifen Wissenschaft, welche demnächst in akademischen Pyramiden besserem Leben sich zuwenden dürfte. BONFADELLI weist vor allem auf die anhaltende Außensteuerung der Forschung hin (BONFADELLI 1999, S.13ff.), auf welche das Fehlen einer systematischen Behandlung des Gegenstands zurückzuführen sei. DE FLEUR und BALL-ROKEACH (1995) kommen in ihrem Werk zur "Theorie der Massenkommunikation" immer wieder zu dem Schluss, dass systematische Aufarbeitung begrifflicher und empirischer Art noch ausstehe. Wenn das so ist, gerät das Erzählen ins Stocken. Es kommt kein Bildungsroman heraus. Wir wissen nicht, welche Erzählstränge wir am Ende zur Vision des gelungenen Lebens, der ausgereiften Disziplin verknoten sollen. [6]
DE FLEUR und BALL-ROKEACH finden in ihrem "Theorien der Massenkommunikation" den erstaunlichen Ausweg, die neoklassische Erzählung noch zu überbieten: es wird ein Epos daraus. Die Einführung in Theoriekapitel fängt jeweils bei PLATON an, lässt HOBBES und LOCKE nicht aus, guckt bei TÖNNIES rein und kommt erst dann zu (relativ) aktuellen Forschungsansätzen. Schrieben die Autoren in Hexametern, man würde sich kaum darüber wundern. Daher erstaunt es auch nicht, wenn selbst die Frage kaum klarer wird, was Medien nun eigentlich tun. Wer uns Fernsehzuschauer und -zuschauerinnen direkt mit PLATONs Höhlenbewohnern vergleicht, hat es immer schon mit ewigen Problemen zu tun. Das ist natürlich nicht falsch; es ist nur überraschend, weil diese Form der Wahrheit sich schlecht in eine Spezialdisziplin einfügt. [7]
BONFADELLI ist der modernere Erzähler. Er verweigert alle erzählerische Einheit in einem Werk, das sich zum Bildungsroman verhält wie Kurt VONNEGUT zu Johann Wolfgang GOETHE, dem Minister. BONFADELLI erzählt wissenschaftliche Anstrengungen nach. Hofft er noch, es werde eine Anstrengung daraus, eine Wissenschaft, also eine Erzählung? Vorderhand tilgt er alle lebenden Subjekte. Wo überhaupt ein Subjekt herausschaut, das nicht ein unpersönliches "Es" wäre, handelt es sich um Dinge: um ein Problem, eine Wirkung oder um eine Erklärung. Eine Frage "ist vordringlich", etwas "wird betrachtet", etwas anderes "wurde festgehalten", "wird konstatiert" und schließlich "kam es zu einem Paradigmenwechsel" (BONFADELLI 1999, S.29). [8]
BONFADELLI widmet den verschiedenen Gruppen theoretischer Ansätze fünf große Kapitel (Kapitel 3-7) seines ersten Bandes. Während am Anfang des Kapitels zu "klassischen sozialpsychologischen Ansätzen" immerhin noch eine Erläuterung des Einstellungsbegriffs steht, kommen die folgenden Kapitel ohne solche Einführung aus. Wo kommt dann zum Beispiel das her, was BONFADELLI "soziologische Ansätze" nennt? "Untersuchungen ... erschütterten die lerntheoretische Konzeption" (S.134). Jahre später führt hingegen die "verstärkt auftretende Diskussion um die Wirkungen der Massenmedien ... zur Entwicklung neuer Fragestellungen" (S.159) und nun geht es um "Medienzuwendung" als soziales Handeln (Kapitel 5). Dabei scheint man freilich vergessen zu haben, dass "Mediennutzung" "auch ein kognitives und affektives Geschehen" (S.197) ist (Kapitel 6). Schließlich: "In der Erforschung der postkommunikativen Medienwirkungen hat sich seit 1970 eine Verlagerung ergeben" (S.220), und da ergibt sich doch zwanglos ein siebtes Kapitel. [9]
Ein jedes dieser Kapitel kommt aus dem Nichts und kehrt ganz biblisch dahin zurück. Denn am Ende steht immer wieder dieselbe Ratlosigkeit. Im letzten Abschnitt des sechsten Kapitels werden etwa Arbeiten Hertha STURMs zitiert, um ihr (und uns) dann gleich wieder den Boden unter den Füßen wegzuziehen. STURM meint, Fernsehzuschauerinnen und Zuschauer müssten die Fähigkeit besitzen, schnellen Bild- und Tonsequenzen zu folgen. Die These, fügt BONFADELLI eilig hinzu, sei bisher "kaum getestet", zudem behaupteten REEVES und NASS das Gegenteil: wir verhielten uns gegenüber den Medien so, wie wir uns unseren Mitmenschen gegenüber verhalten (S.211f). Ganz legitim ist die Gegenüberstellung nicht. STURM geht es ums Fernsehen, REEVES und NASS um den Computer. Worum geht es BONFADELLI, dem abwesenden Erzähler? Er kennt alles, nennt alles, und dann lässt er es liegen. Diesem Schema folgen auch die einzelnen Unterkapitel. Der Agenda-Setting-Theorie, also dem Gedanken, die Massenmedien bestimmten, was wir jeweils für aktuell hielten, ist Abschnitt 7.1 gewidmet. Ob die These richtig ist? BONFADELLIs Fazit: "Die empirische Forschung zeigt, dass die Antworten auf diese Frage je nach Thema und Kontext unterschiedlich ausfallen." Und wenn das nicht so wäre, könnten wir die Rolle der Medien immer noch ganz unterschiedlich bewerten (BONFADELLI 1999, S.233). [10]
So lagert sich Episode an Episode, aber es wird keine Geschichte daraus. Zugegeben, unser moderner "Text" könnte auf handelnde Personen verzichten und von Dingen etwas erzählen, was dann jeweils wieder verschwindet, sagen wir: von den Objekten einer Wissenschaft. Aber von Episode zu Episode ändern sich auch die Objekte. Denn einmal suchen wir die "Medienwirkung" im Verhalten der Menschen, dann in ihren Einstellungen oder durch den Filter der Einstellungen; Medien wirken auf das Weltbild oder durch es hindurch, auf soziales Handeln oder vermittelt durch soziales Handeln. Vom Begriff der "Medienwirkung" bleibt da nicht viel übrig. BONFADELLI selbst spricht denn auch zwischendurch von "Medienzuwendung" oder "Mediennutzung". Kausale Wirkung im engeren Sinne kann ja auch nicht gemeint sein, wenn wir den Umgang mit Medien als soziales Handeln beschreiben. "Das Publikum kann wollen, und zwar nicht nur negativ als Selektionsfilter" (BONFADELLI 1999, S.33). Vielleicht sollte es eher heißen: das Publikum muss wollen; es kann nicht anders – was ja nicht bedeutet, dass es das so gewollt habe, wie es es dann getan haben wird. [11]
Unser Erzähler kümmert sich kaum um begriffliche Fragen. Aufzählung scheint das Ziel seiner Darstellung. Das bestimmt nicht nur den Aufbau seiner Arbeit, es kommt auch in den einzelnen Sätzen zum Ausdruck. Alles soll mit hinein, aber wie?
"Vorübergehende Einstellungsänderungen sind aber auch ohne aktives Nachdenken bzw. aktive Informationsverarbeitung möglich: Eine Person ohne spezielle Motivation und/oder Fähigkeit zur intensiven Auseinandersetzung verarbeitet über die periphere Route, wobei sie sich hinsichtlich der Annahme oder Ablehnung der an sie heran getragenen Einstellungsposition nicht an der Argumentationsqualität wie bei der zentralen Verarbeitung, sondern an situationsgebundenen Reizen (engl.: "cues") als persuasivem Setting orientiert: a) situationsinduzierte Affekte (...) d) personenbezogene Faktoren der Verarbeitung wie Betroffenheit, Intelligenz, Vorwissen, Werthaltung, Selbstaufmerksamkeit u.a.m." (BONFADELLI 1999, S.113) [12]
Zu lang, könnte man meinen. Vermiede der Autor Doppelungen wie "aktives Nachdenken bzw. aktive Informationsverarbeitung", wären die Sätze kürzer. Vermutlich hätte er auch darauf verzichten können, im Ganzen dem Verb "verarbeiten" vorangehenden Text die Definition von "peripherer Route" noch einmal (und im Grunde doppelt) anzuführen. Aber der Textausschnitt besteht eigentlich aus zwei Sätzen, die im Originaltext insgesamt dreizehn Zeilen einnehmen, was für theoretische Texte, sofern sie nicht gerade aus angelsächsischen Gefilden stammen, wohl nicht ungewöhnlich lang ist. [13]
Das Verständnis scheint durch zwei andere Elemente erschwert:
Wer einen Nebensatz mit "wobei" einleitet, will oder kann den Zusammenhang mit dem Hauptsatz nicht eindeutig festlegen. "Wobei" kann rein temporal zu verstehen sein, wie in: "Er betrachtete das Gewehr, wobei er sich eifrig den Bauch kratzte." Wenn einer aber "mit dem Gewehr spielte, wobei er sich in den Bauch schoss", besteht auch eine, freilich nicht präzisierte, kausale Verbindung. In BONFADELLIs Text ist eher eine begriffliche Relation gemeint, statt "wobei sie sich" könnte etwa "das heißt, dass die Person sich ..." stehen und was folgt, wäre wiederum ein Element der Definition von "periphere Route". Das erschließt sich der Leserin oder dem Leser aber nur, wenn er oder sie schon weiß, was gemeint ist.
Es gibt keine Pause. Gleich zwei Doppelpunkte verweisen jeweils auf den folgenden Text. So erscheint schon der erste Satz als unabgeschlossene Proposition (was er nicht ist). Auf den zweiten Doppelpunkt folgt gar eine mit a)-d) gegliederte Aufzählung, deren letztes Glied wiederum eine Aufzählung ist – eine übrigens etwas uneinsichtige Folge, welche mit "u.a.m." abgeschlossen wird. Der Satz rutscht gleichsam weg; er ist nie zu Ende. [14]
Wird die logische Verbindung einsichtig, erweist sie sich als tautologisch. Der Rest sind Aufzählungen (von Aufzählungen). Das ist vielleicht unvermeidlich. Wo der begriffliche Zusammenhalt fehlt, wird die Auslassung zur Sünde: wir könnten irgendjemandem, und das ohne besonderen Grund, Unrecht tun. Da hat dann alles mindestens seine zwei Seiten, und "aktives Nachdenken" ist "bzw." auch "aktive Informationsverarbeitung". [15]
Warum könnte man es für einsichtig halten, den beschriebenen Text ein "Lehrbuch" zu nennen, wie der Verlag es tut? In den einzelnen Sätzen, der Folge der Abschnitte, der Folge der einzelnen Kapitel: Medienwirkungstheorie wird hier zur Traumerzählung. Eben noch schien sich eins aus dem anderen zu ergeben, dann gibt der Boden unter uns nach, wir fallen, der Sinn ist fort, das Leben vorbei und die Geschichte geht weiter, oder wir wachen auf. [16]
Was ist daran "lehrbuchhaft"? Die Bewegung des theoretischen Selbstverzehrs? Hier wird wohl vorausgesetzt, dass man ein Lehrbuch nicht liest, sondern sich nur ausgewählten Kapiteln zuwendet, die nun tatsächlich gut dokumentiert, mit meist mehreren, ausführlich erläuterten, Beispielen und einer Bibliographie versehen sind. [17]
2. Eine andere Geschichte: Die Anwendung
2.1 Von der Verwirrung zur Anwendung
Man weiß also nichts Genaues. Auch das achte und letzte Kapitel des ersten Bandes trägt zwar ganz forsch den Titel "Befunde", der Erzähler geht aber gleich wieder in Deckung. Die Befunde "sind unterschiedlich gut abgesichert und ihre Generalisierbarkeit muss hinterfragt werden" (BONFADELLI 1999, S.262). Mit empirischen Daten allein können wir nicht entscheiden, ob Ergebnisse übertragbar, also kumulierbar sind. [18]
Von dem, was bis hier als Theorie dargestellt wurde, führt daher kein Weg zur Anwendung. Mit Anwendung ist das gemeint, was Geldgeber/innen gern wissen wollen. Das schließt so unterschiedliche Fragen ein wie: Wie wirkt Fernsehgewalt? Werfe ich meinen Werbeetat zum Fenster hinaus? Verstehen die Leute überhaupt, was ich ihnen erkläre? Passen sie auf? Vergessen sie auch nichts? Was kann ich tun, damit die jungen Leute nachts nicht mehr zugedröhnt gegen den nächsten Laternenpfahl rasen? BONFADELLI stellt in Band II seines Werkes Forschungsarbeiten vor, mit denen solche Fragen zu beantworten versucht wurden. In neun Kapiteln geht es um Themen wie "Fernsehnachrichten" und "Mediengewalt", um "Risikokommunikation" und "Werbung". [19]
In der Regel fällt die Antwort eher unbestimmt aus. Unbezweifelbar scheint nur eins: was den Leuten gezeigt wird, ist nicht das, was sie sehen, und das, was sie zufälligerweise doch mitbekommen haben, vergessen sie gleich wieder. "Nachrichtenseher erinnern wiederum 22% der Berichte, diese wiederum werden zu nur 66% korrekt wiedergegeben" (BONFADELLI 2000, S.55). 80% der Zuschauer bewerteten die Filme als verständlich und "informativ", aber nur 20% hatten die entscheidenden Informationen einigermaßen verstanden. Immer wieder werden Auftraggeber/innen von Kampagnen unangenehm überrascht, denn sie haben mit einem "Segment von chronischen Nichtwissern" zu rechnen, das auch nach sechs Monaten noch 50% des Publikums umfassen kann. So könnte man etwa schließen, Zuschauer/innen dichteten sich eine eigene Realität zurecht, die ja nicht schon deshalb unangemessen sei, weil sie nicht den Intentionen des Senders entspricht. Fernseher/innen ähnelten insofern einem/einer inzwischen sehr bekannten Kannibalen/Kannibalin: Gesetzt, er oder sie habe einen Schweizer Medienforscher aufgefressen. Was tun mit dessen, vermutlich unverdaulicher, Armbanduhr? Unser/e Kannibale/Kannibalin, nie um eine Lösung verlegen, macht ein Amulett daraus und hängt sich's an den Hals. Hat diese/r Wilde nun falsch verstanden, was eine Armbanduhr sei, oder haben wir in ihm/ihr den Mann/die Frau zu begrüßen, der/die uns über den wirklichen Sinn dieser Dinger aufklärt? Was, wenn nicht Aberglaube, hatte unser Medienforscher bezeugt, als er mit Armbanduhr im Busch herumlief? (nach MARRONE 2001, S.47) Immerhin könnten wir, um dem Sinn der Armbanduhr auf die Schliche zu kommen, ein paar Kannibal/inn/en interviewen und herausarbeiten, wie sie warum aus der Uhr ein Amulett machen. Aber die Qualität der Armbanduhr ist vermutlich für die Vielfalt ihres Einsatzes nicht ganz unerheblich. Was, wenn sie nach ein paar Monaten nicht mehr tickte? Im Falle eines Films oder einer Nachrichtenmeldung ist nicht leicht geklärt, was denn drinstecke. Das Publikum konstruiert zwar, aber offenbar nicht völlig unabhängig von der Beschaffenheit der Produkte. Mitunter funktionieren Medienprodukte auch. Den Erfolg von Beautiful oder BERLUSCONI wird man ja schwerlich nur auf der Rezipientenseite zu erklären suchen. [20]
2.2 Tot ist tot, nackt ist nackt
Van DAMME befördert seinen Gegner mit einem Tritt durchs Fenster hinaus. Karl Koyote fällt zum einunddreißigsten Mal seiner eigenen Bombe zum Opfer. Der Deutsche Außenminister nimmt eine Truppenparade ab. – Recht eindeutig scheinen hier die ersten beiden Fälle zu "Fernsehgewalt" zu rechnen, der letzte nicht. Aber als Grundbegriff der soziologischen Theorie ist Gewalt die Grundlage von Macht; im Übrigen spricht man auch von verbaler, psychischer, struktureller Gewalt. BONFADELLI legt uns eine Reihe engerer und weiterer Definitionen vor und kommt am Ende zu einer Faktorenliste. Da zählt man dann, je nachdem, aggressive Akte, Folgen von Aggressionen, auch Naturkatastrophen, aber Boxkämpfe auch nicht, weil das nur zum Spaß ist. "Im Schnitt kommen im (deutschen) Gesamtprogramm pro Tag doch fast 70 Mordszenen vor!" (BONFADELLI 2000, S.233) Offenbar habe, so BONFADELLI, "Aggression als Stilmittel im Fernsehen einen hohen Attraktivitätsgehalt". Das Publikum will's aggressiv. "37% sehen lieber Serienkrimis als Fernsehfilme/Fernsehspiele im Allgemeinen." Freilich legte schon das den Verdacht nahe, unsere empirische Forschung bringe hier Verschiedenes durcheinander. Ein Toter im Krimi ist eben nicht tot und eine Aggression im Film ist keine Aggression, sondern eine Filmszene. "Zeichentrickfilme, in denen rein numerisch Gewalt dominiert, werden von Kindern nicht als violent, sondern vorab als lustig perzipiert." (S.241) So waren die Filme ja wohl auch gedacht. "Für die Zuschauerreaktion von Bedeutung sind Faktoren wie: Filmgenre, Handlungsumfeld der Fernsehgewalt, Realitätsnähe des Films ..." (S.239f.). Die Untersuchung dieser Elemente fällt aber, wie's scheint, nicht in den Bereich der Medienwirkungsforschung. Gleichwohl stellen sich Resultate ein. Es gebe "einen, wenn auch schwachen, kausalen Zusammenhang zwischen kontinuierlicher Nutzung von Fernsehgewalt und Aggressivität im Alltag". Trifft's BIN LADEN, trifft's Lara Croft? Davon weiß unsere Wirkungsforschung nichts, denn sie sieht gar nicht hin. Das ist auch da nicht anders, wo die methodische Neigung zu Laborstudien bewusste Manipulation des Materials nahelegt, etwa zum Thema "Wirkung von Erotik in der Werbung". Den Versuchspersonen werden zwei verschiedene Versionen eines Werbespots vorgespielt. "In der Experimentalversion" wurde "für wenige Sekunden das Bild einer unbekleideten Frau eingeblendet". Nun scheint das (nach BROSIUS und FAHR) funktioniert zu haben. Die Männer erinnerten sich anschließend nur noch an die nackte Frau, die Frauen bewerteten "die erotische Version ... deutlich schlechter" (BONFADELLI 2000, S.142). Wer das Ergebnis liest, wird allerdings nie erfahren, warum die "erotische Version" so und nicht anders gewirkt haben könnte. Weil die Frau gar so unbekleidet war? Was bedeutet "unbekleidet", was für eine Frau (warum nicht auch ein Mann?) war da wann, wo, wie zu sehen? Da macht der/die Medienforscher/in schnell die Augen zu. Bilder enthält unser Werk zur Medienwirkungsforschung tatsächlich nicht, außer einem Foto des Autors. Was als "Abbildung" den Text unterbricht, sind vereinzelte Kurven, zahlreiche Tabellen und einfache Aufzählungen. Es ist ganz so, als müsste, wer in erster Linie der Macht des Fernsehens auf die Schliche kommen will, sich erst von der Macht der Bilder freimachen. Blind aber gerecht, marschiert schwarz auf weiß Geschriebenes auf: schließlich behandeln wir alle Massenmedien, ohne Unterschied. Oder behandeln wir alle, als wären sie nur eins? [21]
Auch da, wo unsere Wirkungsforschung sich im Verborgenen die Bilder ansieht, herrscht die Buchstabenordnung. Programme sind Folgen von Sendungen, Sendungen Folgen von Szenen, und was man da zählt, sind alle großen und kleinen As oder alle Bs. Verschachtelungen und Verzweigungen deutet man an, wie beim Thema der "Fernsehgewalt", hat aber keine Begriffe dafür. Denn die sind alles andere als selbstverständlich: vielleicht sieht einer die Nachrichten nur deshalb, um mal wieder Blut zu sehen, Fernsehblut. [22]
Trostlos, wird schließlich auch unser Wünschen ins Jetzt und Hier gebannt. So orientiert sich Reklame entweder "am funktionalen oder am affektiven Wert" des Objekts (S.128). Da scheint nun gerade das, was BONFADELLI "ideologiekritisch-semiotische" Theorie nennt und bis BARTHES (Mythen des Alltags, Originalausgabe von 1957) zitiert, zumindest aufmunterndere Perspektiven zu öffnen. FLOCH (1992) unterscheidet vier Typen der Rationalität, je nachdem, ob eher kritische Abwägung, spielerische, praktische oder utopische Aspekte im Vordergrund stehen. [23]
BONFADELLIs Text kann auch als Reklame gelesen werden, und das vor allem als Utopie. Nun ist er kein Roman; er ist auch kein Märchen. Denn da brächte der Held am Ende einen Schatz mit nach Hause. BONFADELLIs Erzählung des weiten Wegs der Wissenschaft zerfällt in Episoden, die wir vielleicht Prüfungen nennen könnten. Aber es gibt keinen Helden, und der "Befunde" genannte Schatz würde auch kaum zureichen, ein langes Leben zu versüßen. "Medienwirkungsforschung", das ist die alles verzehrende Utopie einer bilderlosen Wahrheit, die ohne Raum und ohne Zeit auskommt. Soll Band II zeigen, wie wir auf Fragen antworten, welche die Welt bewegen, so gelangt er, Opfer der eigenen Utopie, nicht zur Antwort. Vermutlich bestünde die einfach in einer Reihe von Gegenfragen. Wenn das richtig sein sollte, hätten DE FLEUR und BALL-ROKEACH das bessere Lehrbuch geschrieben. [24]
Überraschend, ein Buch aufzuschlagen und noch vor dem Titelblatt ein Foto des Autors betrachten zu können – oder zu müssen. Nicht ganz zu Unrecht wird oft als Zwang kritisiert, als Kolonialisierung der Einbildungskraft, wenn Verleger Romane mit Bildern aus dem "Film zum Buch" dekorieren und es in ein "Buch zum Film" verwandeln. Wer die Bilder einmal gesehen hat, kann sich schlecht davon befreien; sie scheinen doch eine Wirklichkeit nur abzubilden, welche der Text erst erzeugen muss. Was hier für die Schöne Literatur eingeklagt wird, etwa ein Recht, erzählende und dargestellte Personen selbst zu bilden, wird im Falle wissenschaftlicher Texte nicht leicht zu verteidigen sein. Mit Einbildungskraft habe das alles doch nichts zu tun. Und doch vergleichen wir die Fotos mit dem, den wir hinter dem Text vermuten. Es gibt eine Beziehung zwischen dem Bild einer Person und dem Text, der von dieser Person stammt; denn wir suchen diese Beziehung. Doch solange sie leben, behalten die meisten Theoretiker/innen ihre Fotos in der Schublade, sofern sie ihnen nicht für Web-Sites abgefordert werden. Man sagt dann gern, der Autor verschwinde hinter seinem Text, oder gar darin. Diese rhetorische Formel schiene einmal mehr auf einen Autor wie BONFADELLI zu passen, der alles Persönliche nicht nur dem Inhalt nach tilgt, sondern auch stilistisch auszulöschen strebt. Das Bild im Buch belehrt uns eines Besseren. Das ist mein Buch, sagt es, und das bin ich; wir sind aber zweierlei. Nicht im Text und nicht dahinter, steht BONFADELLI daneben. Es ist kein Trick dabei, keine Transmigration der Seele in den Text, kein tragisches Geistesleid, keine Mystifikation. Tatsächlich erinnert am Foto BONFADELLIs nichts mehr an alteuropäische Intellektuellenfiguren. Der Abstand verrät sich in wenigen Elementen.
Hier ist selbst das Bücherregal aufgeräumt, die großen Bücher stehen unten, die kleinen oben im Regal, nicht einmal ein querliegendes Manuskript stört die Ordnung.
Die Stirn ist glatt. (Faltige Stirn: Querfalten, tragisch [WEBER]/Längsfalten, fragend [LUHMANN]). Ein Mann, der seine Freizeit hat und nicht in Medienwirkungswirkungsfragen gefangen bleibt.
Er öffnet den Mund beim Lächeln (vs. geschlossen, oft fast eckig [LUKÀCS]), das kann er sich leisten. Denn die Zähne sind weiß (raucht nicht), perfekt aufgereiht (auf LUHMANN-Fotos blitzt hinten ein Goldzahn). Die Augen sind weit geöffnet, schauen uns direkt an (nicht in die Ferne [HEIDEGGER] oder vor sich hin [HUSSERL]).
Andere Elemente sind nicht leicht interpretierbar. Viel Bier trinkt er nicht. Er scheint eine Krawatte zu tragen, aber das soll in Zürich so üblich sein. [25]
Schon den Text können wir als Reklame lesen. Diese ist erst im Zusammenhang der zwei Bände zu entziffern und wird erst durch das Foto vollständig, zum Entwurf einer Lebensform. Hier wird viel zu lernen sein, sagt der Text von Band I, ohne dass sich Zusammenhänge fänden, aber die Utopie der Beschränkung auf isolierte Daten wird ergänzt: zum Geldverdienen und zur Alltagskonversation lassen sich leicht Brücken schlagen (Band II). Utopie der Studierenden: "so kann ich werden", ist auch das Foto. Kein Asket (LUHMANN), kein muffliger Patriarch (WEBER), und doch eine Art Soziologe, in unangestrengter, netter Form. [26]
Anhang I: Zusammenfassung Band I
Band I ist in acht Kapitel unterteilt. Das achte Kapitel bietet eine Aufzählung von Einzelresultaten der Medienwirkungsforschung. Fragen der Übertragbarkeit und Akkumulierbarkeit empirischer Einzelstudien bleiben dabei außer Betracht.
Die ersten beiden Kapitel haben die Beschreibung zweier Forschungsbereiche zum Thema, der Medienwirkungsforschung und der Mediennutzungsforschung. Darauf folgt die Darstellung zweier "klassischer Positionen", nämlich sozialpsychologischer (Kapitel 3) und, nach BONFADELLI, soziologischer Ansätze (Kapitel 4). Kapitel 5 bis 7 beschäftigen sich mit "neueren Ansätzen", die zu unterscheiden und in Gruppen zusammenzufassen Lesern und Leserinnen durch die Kapitelgliederung nicht erleichtert wird.
Im ersten Kapitel setzt der Autor metatheoretisch ein und beschäftigt sich mit Fragen wie: Was erforscht Medienforschung mit welchen Begriffen und Methoden? Wissenschaft, stellt er zunächst allgemein fest, "reagiert auf soziale Probleme, zu deren Verständnis und Lösung sie beitragen will" (S.9; kursiv vom Autor). Das ist aber wohl nicht BONFADELLIs letztes Wort. Denn wer dergestalt auf von außen kommende Problemwahrnehmung reagieren wollte, bestritte die Autonomie der Wissenschaft. Tatsächlich scheint die historische Entwicklung der Medienwirkungsforschung kaum den Begriff der Wissenschaft zu rechtfertigen. Hier sind nämlich der Einfluss von Interessengruppen, von Moden, das Vorherrschen des Interesses am je neuesten Medium kaum zu übersehen. Das Forschungsinteresse richtet sich unsystematisch auf Einzelphänomene, und auch die "Theoriebildung ist schwankend, diskontinuierlich und schwankend geblieben" (S.25); und all dies hält auch BONFADELLI für bedauerlich.
BONFADELLI unterteilt die Entwicklung der Medienwirkungstheorie in drei Phasen, die jeweils verschiedenen Paradigmen entsprechen. Phase 1 ist in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verortet, beschreibt menschliches Verhalten nach dem Stimulus-Response-Modell und veranschlagt dementsprechend die Medienwirkung als hoch. Phase 2 entfaltet sich in den fünfziger und sechziger Jahren. Man erklärt menschliches Verhalten nach dem S-O-R-Modell, wobei O letzten Endes alles ist, was den Stimulus filtert: physische und psychische, aber auch soziale Faktoren, also etwa Einstellungen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Kleingruppen. In dieser Phase hält man die Medienwirkung für recht niedrig: Medien wirken "in Richtung einer Bestätigung und Verstärkung der bereits bestehenden Einstellungen und Meinungen" (S.30).
Phase 3 führt schließlich zu einer differenzierteren Betrachtung von Medienwirkungen, die jetzt auch unter dem Aspekt der "sinnhaften" Mediennutzung betrachtet werden, wobei "Lernen", Wissensstrukturierung und -vermittlung im Vordergrund stehen. In diesem Kontext steht die Analyse von Agenda-Setting- und Kultivierungsfunktionen sowie die Knowledge-Gap-Theorie. "Tendenziell wird den Wirkungen der Medien in ihrer Vielschichtigkeit wieder vermehrt Bedeutung zugesprochen." (S.31) An diese Darstellung verschiedener Paradigmen anschließend erläutert BONFADELLI zwei Ansätze empirischer Forschung: das Laborexperiment und die Feldstudie sowie die Grenzen dieser Methoden (S.41).
Kapitel 2 hat das Konkurrenzunternehmen der Mediennutzungsforschung zum Thema. In erster Linie handelt es sich hier um empirische Forschung, die von den Medienproduzenten in Auftrag gegeben wird. Doch geht es bei dieser Art der Forschung nicht nur um die Produktion von Werbung für Anzeigenkunden. Generell habe das Interesse am Publikum so weit zugenommen, dass inzwischen auch stärker theoriegeleitete und integrierende Ansätze vorlägen. Auch die "Auseinandersetzung mit der", wie BONFADELLI das nennt – "stärker qualitativ und ganzheitlich verfahrenden Tradition der qualitativen Rezeptionsforschung" hat "dem Forschungsbereich neue Impulse verliehen" (S.50). Freilich wird her der Begriff "qualitativ" recht vage gefasst. BONFADELLI unterscheidet zunächst "qualifizierende" von "quantifizierender" Forschung: "qualifizierende Forschung" (S.62) beschäftigt sich mit der Qualität des Medienkontakts, also mit "Lesezeit, Anzahl der beachteten Seiten" etc. und antwortet auf Fragen wie "wie oft? wie viel? wie lange? wo?" Dann unterscheidet der Autor auch zwischen "quantitativen Methoden" und "qualitativen Verfahren". Man ahnt schon: er traut der Sache nicht. Der Begriff "qualitative Verfahren" (nicht: Methoden!) schließt hier außer "Tiefeninterviews" auch Polaritätenprofile und Blickaufzeichnungen ein. Ergebnisse empirischer Untersuchungen zur Mediennutzung im deutschsprachigen Raum schließen das Kapitel ab. Von "Tiefeninterviews" ist da keine Rede mehr.
Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht allerdings weniger die Frage der richtigen Untersuchungsmethode, sondern vielmehr der Begriff des "Publikums". Je nach Ansatz wird man das Publikum eher als Masse, eher in Bezug auf eine Zielgruppe, als Sammelbegriff für Handlungsakteure oder als Kulturphänomen sehen, was BONFADELLI ausführlich erläutert. Sehr viel später in BONFADELLIs Buch erfahren wir (S.182), dass auch das Publikum das Publikum sieht und dabei dem Third-Person-Effekt (vielleicht) unterliegt: Jeder sieht alle anderen als "das Publikum", das er (oder sie) selbst ist, und das sind dann "die Leute". Ob die Medienwissenschaft (Publikum des Publikums des Publikums ...) selbst auf so etwas hereinfällt?
"Klassische Ansätze" stellt BONFADELLI im dritten und vierten Kapitel seines Werks vor. Damit sind zwei Forschungsrichtungen gemeint, die auf dem SOR-Modell beruhen. Im dritten Kapitel geht es um "sozialpsychologische Ansätze", die auf den Begriff der "Einstellung" (oder der "kognitiven Struktur") Bezug nehmen. Das vierte Kapitel soll hingegen mit "soziologischen Ansätzen" bekannt machen, welche – BONFADELLI zufolge – "auf dem Konzept der 'sozialen Gruppe'" basieren. In diesen Ansätzen werde die "soziale Verankerung" des Individuums betont, und zwar "sozialer Vergleich, Konformitätsdruck und Anerkennungsbedürfnis" (S.133). Das nimmt sich immer noch reichlich psychologisch aus und schließt die Rolle von Meinungsführern und -führerinnen (nach LAZARSFELD) ebenso ein wie "die soziale Natur des Menschen", welche den Menschen – laut NÖLLE-NEUMANN – dazu treibe "Isolation zu fürchten" (S.149). Warum auch nicht? Aber gehörte diese "Schweigespiralen"-Theorie zur Erklärung der CDU/CSU-Wahlniederlage von 1976 nicht vielleicht doch eher in den Bereich des gehobenen Journalismus?
Im Unterschied zum vierten Kapitel bietet das dritte Kapitel zahlreiche Einzeldarstellungen von Theorieansätzen, die in der Geschichte der Medienpsychologie eine Rolle gespielt haben. Nach einer Diskussion des Einstellungsbegriffs behandelt der Autor die Instrumentelle Lerntheorie, verschiedene Konsistenztheorien von Fritz HEIDERs Balancemodell bis zum "Elaboration-Likelihood-Modell" (unterscheidet eine "zentrale", dem Informationsgehalt angemessene, Informationsverarbeitung von einer "peripheren", eher situationsgebundenen) und Kognitive Ansätze von HEIDERs Attribuierungstheorie bis zur "Schema-Theorie" (Welche Frames benutzen Fernsehseher/innen, wenn sie Nachrichten sehen?).
Um "neue Perspektiven" geht es in den Kapiteln 5, 6 und 7. Kapitel 5 hat "Medienzuwendung als soziales Handeln" zum Thema. Zunächst meint BONFADELLI, eine Reihe verschiedener Ansätze in einer Kreuztabelle darstellen zu können, indem er die Ansätze danach ordnet, ob sie die Homogenisierung oder die Differenzierung des "Publikums" betonen und ob sie die gesellschaftliche Funktionalität oder Dysfunktionalität der Medien behaupten. Unter "funktional" scheint der Autor so etwas wie schön, fein oder angenehm zu verstehen, denn an sich wäre ja etwa die Tatsache, dass die Leute durch Fernsehen ihre persönlichen Bedürfnisse befriedigen, nicht unbedingt "gesamtgesellschaftlich" funktional, genauso wie der durch Mediennutzung zunehmende Abstand zwischen gut und schlecht Informierten ja äußerst funktional sein kann, weshalb, wie Umberto ECO schon in den siebziger Jahren bemerkt hat, italienische Tageszeitungen für normale Leser/innen oft einfach unverständlich sind. BONFADELLIs Tabelle ist bei der Orientierung also nicht besonders hilfreich. Dasselbe gilt für theoretische Grundbegriffe wie "Handeln". Wer Medienzuwendung als soziales (?) Handeln beschreibt, wird dann schlecht, und das ist nur ein Beispiel, auf die folgende Vorstellung zurückgreifen können: Die Bedürfnisse, die "soziale und psychische Ursprünge (sic!)" haben, "stellen Erwartungen an die Massenmedien" (S.161), wie BONFADELLI unter Verweis auf SCHENK meint. Hier erschweren begriffliche Unklarheiten die Lektüre. Andererseits wird in diesem fünften Kapitel die theoretische Darstellung durch die Schilderung verschiedener empirischer Untersuchungen ergänzt. Welche Bedürfnisse befriedigen Mediennutzer/innen durch welche Medien? In Israel sieht man offenbar fern, um Zeit totzuschlagen, und das in der Familie; Informationen werden aus der Zeitung bezogen. In Deutschland ist das anders.
Außer dem Uses-and-Gratifications-Ansatz und Theorien zu Informationssuche (ATKIN) oder Informationskonstruktion (DERVIN) stellt BONFADELLI im fünften Kapitel auch Theorien zum Zusammenhang zwischen interpersonellen Beziehungen und Mediennutzung (McLEOD u.a.) dar, also etwa die Untersuchung des Einflusses verschiedener Typen von Familienmilieus auf die Fernsehnutzung durch die Kinder. Ein sehr kurzer Abschnitt wird dem "Third-Person-Effect" gewidmet. Das Kapitel wird durch eine sehr allgemein gehaltene Diskussion von Studien abgeschlossen, die sich mit "der Bedeutung der Medien im Alltag" befassen und die BONFADELLI der Tradition der Cultural Studies zurechnet. Dieser Richtung werde oft "Revisionismus" vorgeworfen, bemerkt BONFADELLI, weil sie "dominant-ideologische Leseweisen zu wenig" berücksichtige – was immer das sei. Um die Interpretation von Filmen und Texten scheint sich, wenn wir BONFADELIs Darstellung folgen, im Rahmen der Medienwirkungsforschung niemand ernstlich bemüht zu haben.
"Mediennutzung ist nicht nur soziales Handeln als funktionsorientierte Zuwendung zur Massenkommunikation, sondern auch ein kognitives und affektives Geschehen" (S.197). Offenbar geht es hier, im sechsten Kapitel, wieder um Psychologie, nämlich um das, was im psychischen Leben des Einzelnen den Verlauf der Rezeption bestimmt. In der "Medien-Interaktion" kommt es zur Identifikation mit den Personen auf dem Bildschirm, toben sich "eskapistische" Bedürfnisse aus, kommt eine "parasoziale Interaktion" in Gang, wird Aufmerksamkeit erfordert oder nicht, müssen mindestens zwei Realitäten unterschieden werden, erregen sich Zuschauer/innen, weil sie Gewalt, "Sport, Pornographie etc." (208) sehen (Was sich wohl hinter diesem etc. verbirgt? Bericht aus Bonn?), sucht der Mensch Abwechslung, aber nicht zu viel Neues. – Für Abwechslung, aber nicht zu viel, scheint auch der Autor hier sorgen zu wollen. Ob wir im sechsten tatsächlich ein neues Kapitel vor uns haben? Wir wissen es nicht.
Doch auch das siebte Kapitel verwirrt. Plötzlich steht wieder die kognitive Medienwirkung im Vordergrund. Hatte der Autor das nicht schon fürs vorangegangene Kapitel versprochen? Nun geht es um die Untersuchung der Agenda-Setting-Funktion, der ungleichen Wissensvermittlung (siehe oben, Kapitel 5) und der Kultivierung durch Massenmedien. Medien bestimmen, was für wichtig oder interessant gehalten wird – aber nicht immer, und vielleicht ist das auch gut so. Fernsehseher/innen überschätzen im Allgemeinen die wirkliche Kriminalitätsrate, sehen die Welt demnach "verzerrt", was offenbar bedeutet: nicht so wie die Statistiker. Die Einleitung zu all dem haben erstaunte Leser/innen freilich schon in Kapitel 5 (S.180) gelesen. Da könnte es sozusagen logisch erscheinen, dass der Autor an den Beginn des siebten Kapitels noch einmal die merkwürdige Kreuztabelle aus dem fünften Kapitel hinkopiert. Gleichwohl bleibt die Frage offen, wie das alles nun zusammen passt. Schuld daran ist wohl nicht zuletzt ein etwas leichtfüßiger Umgang mit theoretischen Begriffen. Der Zusammenhalt eines Werkes über Medienwirkung ist wohl nicht ganz unabhängig davon. Begriffe wie "Medium", "Wirkung", "Nutzung", "Verhalten" und "Handeln" sowie, warum nicht, "Funktion" und "Gesellschaft" sollten mindestens durch Angabe von Rahmentheorien umrissen werden. Sonst rutschen eben auch Sätze heraus wie der folgende zu gesamtgesellschaftlichen Trends: "Die Gesellschaftsmitglieder haben immer weniger direkten Kontakt mit der Gesellschaft als Ganzem" (S.234), während sie früher bekanntlich nur vom Kirchturm zu gucken brauchten.
Anhang II: Zusammenfassung Band II
Von der theoretischen unterscheidet der Autor eine "angewandte Forschung", welche einzelne Problemfelder umfassend zu untersuchen sich vorsetzt. Diese "konkrete und ganzheitliche" Forschung hat, auf wissenschaftsexterne Anfragen von Auftraggebern hin entstanden, "zum Teil eigenständige Forschungstraditionen innerhalb der Medienwirkungsforschung begründet" (S.27). In Band II seines Werks will der Autor einen "vertieften Überblick" über einige dieser Traditionen geben. Dabei geht es um Angebot und Rezeption von Fernsehnachrichten, um Gestaltung und Erfolg von politischer Propaganda und von Informationskampagnen, um Werbewirkungen, um Fernsehnutzung und Fernsehsucht, um Online-Kommunikation, um das Thema der Risikokommunikation und natürlich auch um das Thema der Mediengewalt. Jedes der Kapitel ist in sich abgeschlossen, was zum Teil zu Wiederholungen führt. Den Einzeldarstellungen geht ein als Einführung konzipiertes erstes Kapitel voraus, in dem noch einmal wichtigsten Entwicklungen dessen zusammengefasst werden, was BONFADELLI "theoretische Medienwirkungsforschung" nennt. Auch die Schweigespiralen-Theorie ist dabei.
Kapitel 2: Fernsehnachrichten: BONFADELLI unterscheidet drei Gruppen von Fragestellungen: Fragen nach der Struktur der Nachrichtenproduktion und den typischen Inhalten, nach den Motiven der und den Präferenzen bei der Nachrichtennutzung und schließlich nach der Wirkung des Nachrichtensehens. Auf der Angebotsseite nennt der Autor eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen, in denen es etwa um die Häufigkeit guter und schlechter Nachrichten geht. Wer nicht mit empirischer Sozialforschung vertraut ist, könnte die Ergebnisse teilweise recht mager finden: "In den Fernsehnachrichten besteht ein Primat des Aktuellen" (S.41). Vermutlich will auch das erst empirisch überprüft sein, jedoch scheinen häufig einfach die begrifflichen Mittel zu einer ertragreichen Analyse von des Gehalts von Fernsehnachrichten zu fehlen. Eine Behauptung wie "der Anteil an bewegten Bildern" betrug "zu Beginn der neunziger Jahre 69%", ist ja vermutlich empirisch belegt. Aber was sind "bewegte Bilder"?
Kapitel 3: Politische Propaganda: Hier erzählt BONFADELLI zunächst nach, wie sich die Abfolge verschiedener Paradigmen der Medienwirkungsforschung die Einschätzung der Wirkung politischer Propaganda verändert hat. Dann fragt er, was Propaganda sei und zitiert verschiedene Definitionen. Resultat: Propaganda ist interessengeleitete, beabsichtigte, systematische Beeinflussung durch Kommunikation. Die persuasive unterschiede sich dann von "normaler" Kommunikation durch das "systematische" Interesse der Produzenten (Auftraggeber/innen, nicht Ausführende) an Beeinflussung. Brauchbar ist diese Definition nur im Rahmen angewandter Forschung, der die Intention der Auftraggeber/innen schon bekannt ist. Der Parteikandidat sortiert öffentlich seinen Müll, die Kandidatin tritt in einer Talkshow auf, oder sie führt ihren Dackel spazieren; eine der Oppositionspartei nahestehende Journalistin berichtet über einen seit dreiunddreißig Jahren arbeitslosen Mann. Das alles ist, mehr oder weniger, geplant; funktioniert es auch? Zunächst erläutert BONFADELLI Arbeiten zu Wahlspots im Fernsehen, und zwar Studien zur Wirkung von Negativ-Spots (Gegner/innen werden kritisiert) und dem Erfolg massiver Appelle an Emotionen, sodann zum Gebrauch (aber nicht zur Wirkung) der Synekdoche, von Symbolen und zur Rolle von "Pseudo-Ereignissen". Dann geht er, allerdings nur kurz, auf "Propaganda" im weiteren Sinne ein, das heißt auf die Art und Weise, wie durch Agenda-Setting und "Aufladung" von Themen der Wahlkampf im engeren Sinne vorbereitet werden kann. Die Antwort auf obige Frage ist übrigens: ja, es funktioniert, manchmal.
Kapitel 4: Informationskampagnen: Von Kampagnen politischen Charakters und Werbung unterscheidet BONFADELLI "Informationskampagnen", denen er ein eigenes Kapitel widmet, obwohl nicht recht klar wird, was Information von politischer Überzeugung unterscheidet. Auch bei Informationskampagnen geht es ja darum, Handeln oder Einstellungen zu beeinflussen. Informationen werden konstruiert, bemerkt der Autor selbst, und dienen "als Medium und Ressource zur Legitimation und sozialen Steuerung" (S.93).
Ein recht interessanter Abschnitt ist der Gegenüberstellung von erfolglosen (viele) und erfolgreichen Kampagnen gewidmet. Der Erfolg bemisst sich daran, ob die Kampagne anschließend in der Zielgruppe bekannt ist. BONFADELLI nennt einige Bedingungen für erfolgreiche Kampagnen (z.B. sollten interpersonale Kanäle berücksichtigt werden) und führt in Einzelschritten vor, wie eine Kampagne zu gestalten sei.
Kapitel 5: Werbewirkungen: Auch für das Thema "Werbung" gilt, dass es schlecht einzugrenzen ist. Aus Mangel an begrifflichen Mitteln erscheint dann auch die folgende Darstellung von Inhalten, Strategien und Werbeträgern als recht blass, zumal der Autor auch hier gern auf SOR-Modelle und etwas archaisch anmutende Tabellen zurückgreift (Verbrauchsgüter/Luxusgüter; rationale/emotionale Werbung). Bei der Darstellung von Kontaktchance und Kontaktqualität (Sehen die Leute während der Reklame weg? Sehen sie die großen oder die kleinen Anzeigen, rechts oder links? etc.) im Medienvergleich ist BONFADELLI dann wieder in seinem Element. Den Abschluss bildet die Wiedergabe einer Reihe von Studien zu Kultivierungseffekten (Selbstbild, Rollenwahrnehmung). Im Unterschied zum Kapitel zur politischen Werbung fehlen hier Hinweise auf allgemeine Firmen- und Markenkommunikation (Agenda-Setting etc.) und Kommunikationsstrategien völlig.
Kapitel 6: Fernsehen: Dieses Kapitel hat verschiedene allgemeine Aspekte des Fernsehens zum Gegenstand. Themen sind die Fernsehhäufigkeit und -dauer (Vielsehen, Fernsehabstinenz, Fernsehsucht), Fernsehgewohnheiten (Zapping, Zipping, Switching), Nutzung des Programms, Motive der Senderwahl. Hier werden wir also zum Beispiel über die soziale und geographische Verteilung von Vielsehern, psychische und soziale Probleme von Fernsehsüchtigen informiert. Die im sechsten Kapitel behandelten Themen sind vermutlich für ein breiteres Publikum interessant, nicht zuletzt für Studierende, denn 42% der befragten Studenten/Studentinnen kreuzen an: "Ich bleibe schon mal kleben vor dem TV-Schirm und ärgere mich dann darüber", und: Fernsehsucht korreliert "positiv mit Introversion (+0.26) und Neurotizismus (+.22)" sowie mit "Junk-Food"-Konsum. Probleme bereitet bei dieser Art von Untersuchungen naturgemäß wieder die Interpretation. Es könnte ja sein, dass wir durch Vielsehen Schlimmeres verhüten oder tatsächlich Spannungen und Probleme abbauen (S.162). Der Sachverhalt wird noch durch die heute üblichen Fernsehtechniken vom Zapping bis zum Grazing (die Programme werden auf der Suche nach Interessantem "abgegrast") kompliziert, die uns der Autor ausführlich erläutert. Typische Umschalter sind Männer und jüngere Leute.
Kapitel 7: Online-Kommunikation: BONFADELLI führt Internet als "Herausforderung für die Publizistikwissenschaft" ein. Durch Faktoren wie die Möglichkeit "globaler", multimedialer, interaktiver und horizontaler Kommunikation, die Verwischung der Grenze von privatem und öffentlichem Raum stellte Online-Kommunikation sich tatsächlich als qualitative Neuheit dar. Daher holt der Autor in diesem Kapitel weit aus, um dem Ziel der Analyse der Wirkung des Neuen Mediums näher zu kommen, und bezieht neben den üblichen Nutzungs- und Nutzungsdauerstatistiken sowie Überlegungen zur sogenannten Internetsucht auch Fragen und Studien in seine Ausführungen mit ein, auf die er sonst kaum je angespielt hat. So ist ein Abschnitt dem Einfluss der Internetnutzung (etwa von Chats und MUDs) auf die Identitätsbildung gewidmet, wobei neuere Arbeiten zum Begriff der Identität, selbst BAUDRILLARD, zitiert werden. Hier kommt einmal auch qualitative Sozialforschung (teilnehmende Beobachtung, Tiefeninterview) zu ihrem Recht (zitiert wird TURKLE). Nicht alle, wendet BONFADELLI allerdings gegen die zitierte Studie ein, vermöchten der Online-Kommunikation "nur positive Seiten abzugewinnen". SANDER "befürchtet bspw. einen Prozess der Auflösung einer umfassenden Moral" (S.211) durch Internet-Nutzung. Gut WEBERsch könnte hier gefragt werden, wer unsere Medienforscher denn um ihre persönlichen Bewertungen und Befürchtungen gebeten habe.
Übrigens taucht in der Befragung von Online-Nutzern ein Wort auf, das bei allen anderen Mediennutzern mit Hilfe sehr allgemeiner Begriffe aus der Psychologie vermieden worden war. Es handelt sich um "Ersatz für reale Versagungen", "Stimulation-Seeking" (S.162, 164) oder eben auch um: "Masturbation" (S.208). Erfreulich, dass so etwas auch genannt werden kann; bemerkenswert, dass es immer nur beim Internet geschieht.
Kapitel 8: Mediengewalt: Auch bei diesem typischen Medienthema führt der Autor eine ganze Reihe theoretischer Ansätze an, um die empirische Klärung der Wirkung von Mediengewalt vorzubereiten. Dem geht eine Diskussion verschiedener Gewaltbegriffe voraus, die aber ergebnislos bleibt. BONFADELLI spricht deshalb von "Multidimensionalität" und macht eine Tabelle daraus, die in der Dimension "Rollen" zum "physisch (Schläge) vs. psychisch (Drohung) vs. strukturell (Rollen)" vorsieht; weitaus mehr also, als eine quantitative Analyse von Fernsehprogrammen aufschlüsseln könnte. Tatsächlich scheint man sich hier auf das Abzählen von Szenen manifester Gewalt zu beschränken, mit wenigen Ausnahmen, etwa einer Arbeit von GROEBEL und GLEICH zur Gewalt in deutschen Fernsehprogrammen. Aber auch hier kommen offenbar Fragen der Filminterpretation nicht in Betracht: in welchem Moment tritt die Gewalt auf, wie wird sie in die dramatische und die filmische Entwicklung integriert usw. Übereinstimmung herrscht beim Ergebnis der meisten Studien: Die Fernsehwelt "ist eine von Männern, Action, Gewalt und Gefahr dominierte Welt." (235) Die Frage, welche Folgen das habe, beschäftigt den Autor in den Abschnitten am Schluss des Kapitels.
Kapitel 9: Risikokommunikation: Industrie, Wissenschafts- und Technologieverwendung bringen Risiken mit sich, die in Medien dargestellt werden. Medien bestimmen unsere Wahrnehmung dieser Risiken und das hat vermutlich Folgen für unsere Einstellung gegenüber Wissenschaft, Technik und Industrie. BONFADELLI erläutert in diesem Kapitel verschiedene Modelle der Aushandlung von Risikointerpretation, geht dann auf Kritik an journalistischer Risikodarstellung ein und zeigt dann am Beispiel der Gentechologiedebatte in der Schweiz, wie durch Kampagnen auf die Technikbewertung durch die Wahlbevölkerung Einfluss genommen werden kann. Besser als der direkte Einfluss scheint aber auch in diesem Bereich die indirekte, im Vorfeld agierende Lenkung durch Agenda-Setting und Priming zu funktionieren.
Anhang III: Zwei schwierige Begriffe
Neuerdings, so zitiert BONFADELLI eine Studie HEINDERYCKX, würden bei Fernsehnachrichten immer mehr "bewegte Bilder" gezeigt. Das scheint mit der Konkurrenz ums Publikum zusammen zu hängen, das "bewegte Bilder" lieber sieht (BONFADELLI 2000, S.41). Aber was besagt der Ausdruck "bewegte Bilder" im Zusammenhang von Fernsehnachrichten? Man zeigt uns "bewegte Bilder", die auf verschiedenste Weise in eine normalerweise statische Studiosituation eingebettet werden. Wird hier einfach "geschnitten", leiten Sprecher/innen über, integrieren sie den Beitrag anschließend durch "persönliche" Kommentare? Oder erscheinen die Bilder auf einem Monitor (oder auf der Wand) hinter dem oder der Moderator/in, der oder die sich zu Beginn des Beitrags umdreht, um mit uns zusammen die "bewegten Bilder" anzuschauen? Was für welche? Aufnahmen aus der Einkaufsstraße mit in die Kamera winkenden Großvätern? Nach der Katastrophe singende und springende verhüllte Hausfrauen, Stimme aus dem Off: "Die freuen sich aber"? Spionageprodukte? Immer mehr "bewegte Bilder" können eben, je nachdem, zur Modalisierung der Nachrichten dienen, zum Beispiel einen neuen Realismus erzeugen, aber auch zur Entspannung beitragen, können einfach die Studiosituation verräumlichen oder die Fiktion eines Bundes zwischen Sprecher/innen (Sender) und Zuschauer/innen erzeugen, weil es letztlich nur noch um diesen persönlichen Pakt geht usw. (vgl. MARRONE 2001). All dies entgeht einer quantitativ orientierten Forschung. Ob der Gehalt von Medienprodukten qualitativen Ansätzen eher zugänglich ist? Oder ist hier nicht vielmehr die Integration semiotischer Studien gefragt? [1]
Persuasive Kommunikation definiert BONFADELLI durch die systematische Intention der Beeinflussung anderer (2000, S.73). Zur persuasiven Kommunikation muss er dann allerdings auch alles das rechnen, was als Agenda-Setting und Priming zwar in PR- oder Strategie-Abteilungen geplant und durch verschiedene Mittel "angeregt" wird, im Zusammenhang des Massenmediums jedoch nicht als "Beeinflussungsversuch" erkennbar ist und auch nicht sein darf, weil es etwa als redaktioneller Beitrag erscheint. Zum Agenda-Setting gehört es zum Beispiel auch, zunächst negative Kommentare zu Produkten einer Branche veröffentlichen "zu lassen", um dann im Gegenzug für neue und bessere Produkte Werbung zu machen (VAREY 2002). Die von Leser/innen, Zuschauer/innen oder Medienwissenschaftler/innen erschließbare Intention käme dann vielleicht mit der Intention von Journalist/inn/en zur Deckung (immerhin sind das die Text- oder Filmproduzenten), aber sicher nicht mit der Intention der Agentur, die "dahinter" steht – aber steht sie "dahinter", kontrolliert sie wirklich das, was da geschrieben und gezeigt wird, ist es eine Intention? Das Problem betrifft freilich alle menschliche, zumindest die verbale Kommunikation. Denn wir können jede Äußerung als illokutiven (etwas Wahres sagen, etwas versprechen) und/oder als perlokutiven (etwas mit dem Gesagten erreichen) Akt interpretieren – oder beides. Ich sage meinem Partner die Wahrheit, aber warum tue ich das gerade hier und jetzt? Um ihn oder sie (nicht) zu verletzen? Der oder die andere schließt entsprechend, ganz nach Laune, an den Wahrheitsanspruch an oder an die Situierung meiner Aussage, an den illokutiven oder an den perlokutiven Akt. Mit dem Begriff der persuasiven Kommunikation wird hingegen ein Gegenreich kommunikativer Unschuld herbeigezaubert, wo es keine (systematische) Beeinflussung gibt. Wenn nur die Gesinnung rein, oder besser gesagt: nicht systematisch unrein ist. Auf eine ähnliche Unterscheidung hatte HABERMAS 1981 die Trennung von System und Lebenswelt als Bereichsbestimmung gründen wollen. Folgerichtig wird das Zauberzwergereich der Lebenswelt bald kolonialisiert. Vermutlich führen wir auch bei der Medienwirkungsdiskussion besser, wenn wir auf den Begriff der Intention entweder ganz verzichteten oder zumindest jede psychische-psychologische Beimengung von ihm ablösten, um dann nur noch von rekonstruierter oder erschließbarer Intention zu sprechen. Was wird dann aus unserer Kampagnenforschung? Dann gibt es zunächst keinen Grund mehr, zwischen politischen und Informationskampagnen zu trennen. Zudem müssten wir Kriterien dafür entwickeln, ob eine Medienäußerung dem Gehalt nach einer Kampagne zugerechnet werden kann. Anschließend können wir fragen, ob das, was wir als unsere Kampagne identifiziert haben, von "den Leuten" und wie es gedeutet worden ist. [2]
De Fleur, Melvin L. & Ball-Rokeach, Sandra (1995). Teorie della comunicazione di massa. Bologna: il Mulino. (Orig. 1989: Theories of Mass Communication. 5th ed. New York: Longman).
Floch, Jean-Marie (1992). Semiotica, marketing e comunicazione. Milano: Angeli. (Orig. 1990: Sémiotique, marketing et comunication, Paris: PUF).
Habermas, Jürgen (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt: Suhrkamp.
Marrone, Gianfranco (2001). Corpi sociali. Processi comunicativi e semiotica del testo. Torino: Einaudi.
Varey, Richard J. (2002). Marketing Communications. Principles and practice. London und New York: Routledge.
Achim SEIFFARTH, M.A., Jahrgang 1960. Studium der Philosophie, Soziologie und Germanistik an der TU Berlin. Lektor für deutsche Sprache an der (staatlichen) Universität Mailand. Lehrbuch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zur Didaktik, vor allem des Deutschen. Fachliche Interessen: Theorie, soziologisch informierte Landeskunde (observing).
In einer zurückliegenden Ausgabe von FQS findet sich von Achim SEIFFARTH der Rezensionsaufsatz Verschwinden kann alles. Der Soziologe bleibt zu dem Band "Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation".
Kontakt:
Achim Seiffarth
Università degli Studi di Milano
Ist.di Germanistica
Piazza S.Alessandro, 1
I-20123 Milano
E-Mail: Achim.Seiffarth@unimi.it
Seiffarth, Achim (2002). Medien, schwarz auf weiß. Review Essay [26 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(4), Art. 12, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0204127.
Revised 6/2008