Volume 3, No. 3, Art. 4 – September 2002
Rezension:
Stephanie Bretschneider
Iris Stahlke (2001). Das Rollenspiel als Methode der qualitativen Sozialforschung. Möglichkeiten und Grenzen. Internationale Hochschulschriften, Bd. 332, Münster, New York, München, Berlin: Waxmann, 236 Seiten, ISBN 3-89325-883-3, EUR 25.50
Zusammenfassung: Die Autorin Iris STAHLKE geht in ihrer Dissertationsveröffentlichung den Fragen nach, ob sich das Verfahren des Rollenspiels als Methode für die qualitative Sozialforschung eignet und welche Erkenntnisse im Hinblick auf die qualitative sozialpsychologische Forschung gewonnen werden können. Als Hintergrund dieser Arbeit diente ein Forschungs- und Weiterbildungsprojekt, an dem Iris STAHLKE von 1993 bis 1996 tätig war. Ziel dieser Weiterbildungsmaßnahme "Krisensituation in Straßenbahnen und Bussen" von Straßenbahn- und Busfahrern war es, diese zu befähigen, einen besseren Umgang mit Krisensituationen zu entwickeln. Als Methode wurde das Rollenspiel gewählt.
Iris STAHLKE kommt, nachdem sie sich theoretisch dem Rollenbegriff und unterschiedlichen Methoden des Spielens gewidmet hat, mit sehr anschaulichen Beispielen aus der Praxis der Weiterbildung zu dem Ergebnis, dass sich das Rollenspiel besonders zum Erstellen von Berichten zum subjektiven Erleben des Einzelnen und der Gruppe eignet. Mit Hilfe des Verfahrens der themenzentrierten Interaktion lassen sich unbewusste und gruppendynamische Prozesse aufzeigen und systematisch darstellen. Gleichzeitig beendet sie die Darlegung ihrer Arbeit mit der Feststellung, dass sich das Rollenspiel in den Kreis der qualitativen Forschungsmethoden aufnehmen lässt.
Keywords: qualitative Sozialforschung, Rollenspiel, Rollentheorie, Psychodrama, Interaktionsspiel, Planspiel, themenzentrierte Interaktion, tiefenhermeneutische Textinterpretation, themenzentrierte Gruppendiskussion, themenzentriertes Interview
Inhaltsverzeichnis
1. Gliederung des Buches
2. Rollenmodelle und Abgrenzung des Rollenspiels zum Psychodrama, Interaktionsspiel und Planspiel
3. Krisenverhaltenslösungen durch das Rollenspiel
4. Validierung und Reliabilität der Forschungsmethode
In Kapitel 1 stellt die Diplompsychologin Iris STAHLKE, Jahrgang 1966, die in Bremen studierte und seit 1993 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Psychologie und Sozialforschung der Universität Bremen ist, den Hintergrund ihrer Arbeit vor. Hier werden ihre Arbeitsschwerpunkte, Arbeitsorganisation und Umgang mit Krisensituationen und Konfliktverhalten deutlich. STAHLKEs Interesse liegt darin, Gründe für das Entstehen von Krisen herauszufinden und wie diese eskalieren bzw. wie zur Deeskalation beigetragen werden kann. [1]
Die folgenden Kapitel 2 bis 4 widmen sich ausführlich der theoretischen Annäherung an STAHLKEs Arbeitsthema. Zunächst entschlüsselt sie ausgewählte Aspekte der Rollentheorie, um dann in Kapitel 3 Definitionen verschiedener Verfahren des Rollenspiels gegenüber den Methoden Psychodrama, Planspiel und Interaktionsspiel abzugeben. Im Kapitel 4 geht sie auf verschiedene Konzepte der qualitativen Sozialforschung ein. [2]
In den folgenden zwei Kapiteln leitet sie dann zu den praktischen Anteilen des Rollenspiels über. Zunächst erläutert sie die notwendigen Bedingungen für die Durchführung des Rollenspiels, ergänzt durch die Methodik der themenzentrierten Interaktion und beschreibt die praktische Durchführung der Weiterbildungsmaßnahme. [3]
Die Ergebnisse dieser Maßnahme werden in Kapitel 7 unter Berücksichtigung der Möglichkeiten und Grenzen des Rollenspiels als Forschungsmethode reflektiert, um dann in Kapitel 8 mit anderen qualitativen Verfahren verglichen zu werden. [4]
2. Rollenmodelle und Abgrenzung des Rollenspiels zum Psychodrama, Interaktionsspiel und Planspiel
Iris STAHLKE macht ausführliche Ausflüge in die Rollentheorie. Dabei betrachtet sie den Rollenbegriff aus soziologischer, sozial- und entwicklungspsychologischer Perspektive. Darüber hinaus geht sie auch auf die Rollenidentifikation aus psychoanalytischer Sicht ein und schließt dann mit dem Rollenbegriff im organisationspsychologischen Kontext ab. Leider kommen der psychoanalytische und der organisationstheoretische Ansatz im Gegensatz zum soziologischen etwas kurz. Dennoch erhält man einen sehr fundierten und ausführlichen Überblick: STAHLKE stellt die verschiedenen Ansätze von PARSONS über SADER, DAHRENDORF, LINTON, GOFFMANN, MORENO bis hin zu MEAD u.a. verständlich und interessant dar. [5]
Ebenso gewissenhaft geht STAHLKE vor, wenn sie die Abgrenzung des Rollenspiels zu anderen Spielformen vornimmt. Beim Rollenspiel handelt man in Als-ob-Situationen, die aber vorher geplant sind und eine Orientierung an reale Situationen erfolgt. Dennoch handelt es sich im Spiel selbst um keine natürliche Situation. Zunächst einmal unterscheidet STAHLKE zwischen Rollenspiel und Rollenverhalten. Beim Rollenspiel besteht eine Distanz zur Situation. Sie wird quasi von Außen betrachtet. Das Rollenspiel kann auch genutzt werden, um sich Verhaltensmuster bewusst anzueignen. Im Rollenverhalten ist in der Situation selbst keine Distanz vorhanden: Unbewusstes kommt beim Rollenverhalten zum Zuge. STAHLKE stellt die Frage, inwieweit aber auch im Rollenspiel unbewusste Prozesse auftreten und wie diese sichtbar gemacht werden können. Wenn die Teilnehmer das Rollenspiel ernst nehmen, so kommt auch darin Unbewusstes zu Tage, denn es muss auch im Spiel gehandelt und sich verhalten werden. Dieses Verhalten orientiert sich ebenfalls an den Rollenerwartungen, die an uns von der Gesellschaft gestellt werden. [6]
Des weiteren wendet sich die Autorin folgenden Methoden des Spiels zu, wobei unterschieden wird, dass beim Interaktionsspiel und dem Planspiel das Thema vorgegeben ist, im Gegensatz dazu beim Psychodrama eine individuelle Problematik entwickelt wird. Im Einzelnen:
Psychodrama: Hierbei handelt es sich um eine Tiefentherapie der Gruppe. Kollektive und individuelle Ideologien werden analysiert und bearbeitet. Im Gegensatz zum Rollenspiel, das teilweise geplant ist und Übungscharakter hat, ist das Psychodrama kreativ und spontan.
Planspiel: Es dient zur Durchführung, Beobachtung und Auswertung der Beziehungen in zwei verschiedenen Gruppen, die entweder zusammenarbeiten, im Wettbewerb stehen oder Entscheidungen treffen müssen. Es hat keine therapeutische Ausrichtung und keine Rollenvorgaben.
Interaktionsspiel: Ein Entscheidungsprozess steht hier im Mittelpunkt. Es werden Vorgaben im Hinblick auf die Rolle und den Standpunkt gemacht. Allerdings ist der Spielraum größer als beim Rollenspiel, da der Ablauf und der Ausgang offen sind. [7]
Insgesamt lässt sich zu der theoretischen Hinführung zum Thema sagen, dass sich die Autorin manchmal in den theoretischen Ausführungen etwas verliert. Die Darlegungen sind zwar sehr interessant und bieten einen umfangreichen Überblick, aber teilweise wird der/die LeserIn mit der Fülle von Informationen überflutet, so dass es z.T. nebulös bleibt an welchen Theorien sich STAHLKE explizit für ihre Arbeit orientiert und wie sie mit dieser verbunden sind. [8]
3. Krisenverhaltenslösungen durch das Rollenspiel
Nach der theoretischen Auseinandersetzung mit der qualitativen Sozialforschung, deren Ziel es ist, den Sinn sozialer Aktivitäten zu verstehen und die Sichtweise des Subjektes zu erfassen, wendet sich STAHLKE dem Rollenspiel zu, an das sie dieses Ziel ebenfalls heranträgt. Mit seiner Hilfe soll subjektiv Erfahrenes und Erlebtes erhoben werden, ebenso wie Verhaltensstrategien, Handlungsziele und Utopien. [9]
Besonderes Augenmerk richtet die Autorin auf die Reliabilität und Validität der qualitativen Forschungsansätze. Inhaltsvalidität, so die Autorin, lässt sich z.B. dann feststellen, wenn eine authentische Erzählung zustande gekommen ist: "Authentizität, in dem, was gesagt wurde und dem, wie es gesagt wurde ..." (S.106). Was versteht aber die Autorin im Hinblick auf Authentizität, besonders wenn sie von dem "Was" spricht? Geht es hier um "Wahrheit"? Mit STRAUSS und CORBIN (1996, S.6) ist davon auszugehen, "dass die Realitätsanschauungen der Informanten eventuell nicht die 'Wahrheit' widerspiegeln". Was sich genau hinter dem Begriff Authentizität, wie STAHLKE ihn hier verwendet, verbirgt, bleibt leider etwas unklar. Eine nähere Definition wäre aber wünschenswert, da STAHLKE diesen Begriff als eine der Grundlagen für Validität angibt. [10]
Wer sich aber im nun Folgenden eine praktische Anleitung zum SpielleiterInnenverhalten erwartet hat, wird enttäuscht. Das ist auch keinesfalls der Anspruch der Autorin. Es erfolgt jedoch eine detaillierte Beschreibung der Seminarabläufe und -inhalte, die die theoretischen Ausführungen plastisch, z.B. durch Fallanalysen, unterstreichen. Dem Forschungsprozess, der parallel zu den Workshops der Weiterbildung stattfindet, wird der angemessene Platz während ihrer Durchführung zugewiesen. [11]
Von Mai 1993 bis 1996 wurden mit MitarbeiterInnen des ÖPNV-Betriebes Workshops durchgeführt. Ziel war es, aus der Sicht der Fahrerinnen und Fahrer Krisensituationen zu kennzeichnen und Problemlösungsstrategien zu erarbeiten, die an die bereits vorhandenen Stärken und Kompetenzen der Fahrerinnen und Fahrer anschließen. Diese Workshops waren gleichzeitig in den Forschungskontext eingebunden: An den Seminaren nahmen jeweils drei PsychologInnen teil, wobei zwei von ihnen die Funktion als TrainerInnen einnahmen und eine die der ForscherIn. Die Workshops selbst wurden über zwei Tage abgehalten, wobei die Rollenspiele auf Video aufgenommen wurden, wenn die Erlaubnis der Gruppe vorlag. Insgesamt wurden 31 Seminare durchgeführt. [12]
Problematisch an der Durchführung der Seminare ist allerdings, dass auch die TrainerInnen bzw. ForscherInnen Rollen im Spiel übernommen haben. Nach kritischer Auseinandersetzung kommt STAHLKE aber letztendlich zu dem Schluss, dass es von Vorteil sei, wenn die ForscherInnen an der Spieltätigkeit selbst teilnehmen. So sieht sie als Voraussetzung für eine gelungene qualitative Erhebung das Vertrauensverhältnis zwischen Subjekt und dem/der ForscherIn. Gerade dieses Verhältnis würde durch die aktive Teilnahme gestärkt. Zudem würde durch die den Forschungsprozess begleitende Supervision das eigene Verhalten reflektiert und analysiert. STAHLKE erkennt zwar das Problem der erschwerten Selbstreflexion, nennt jedoch keine Lösungsmöglichkeiten, um mit dieser Schwierigkeit umzugehen. Die Gefahr der unbewussten Einflussnahme auf die Thematik des Subjekts in der Situation des Rollenspiels scheint sehr groß zu sein, so dass sowohl die Ergebnisse des Workshops als auch die des Forschungsprozesses dadurch verfälscht sein könnten. [13]
Hinzu kommt, dass der/die TrainerIn die Aufgabe hat, den Gruppenprozess zu beobachten und bei störenden Einflüssen schützend einzugreifen. Gerade bei belastenden Situationen ist es notwendig, als Außenstehende rechtzeitig eingreifen zu können, auch wenn die TeilnehmerInnen den Schutz der Rolle haben, der aber manchmal nicht ausreichend sein kann:
"Sie [die Spielleiter S.B.] müssen durch klare Entscheidungen, Strukturierungen und handlungsleitende Interventionen Sicherheit geben. Nur dann sind die Teilnehmer bereit und in der Lage sich selbst, ihre eigenen Wahrnehmungen, Vorstellungen, Empfindungen und Verhaltensweisen zu aktivieren, in Rollen und Spielhandlungen einzubringen und auszuagieren." (SCHELLER 1998, S.202) [14]
SCHELLER weist explizit daraufhin, dass Spielleiter nicht mitspielen bzw. keine festen Rollen übernehmen sollten, denn das könnte zu einer Rollenkonfusion führen. "Sie [die TeilnehmerInnen S.B.] können nicht unterscheiden, ob du nur die Rolle spielst oder ob du ihnen in der Rolle eine Verhaltensanweisung gibst" (a.a.O., S.219). [15]
4. Validierung und Reliabilität der Forschungsmethode
STAHLKE sieht in dem Rollenspiel eine geeignete Methode im Kanon der qualitativen Sozialforschung, sie plädiert allerdings, um valide und reliable Forschungsergebnisse zu erzielen, für eine Methodentriangulation. Ohne Verknüpfung mit anderen Auswertungsmethoden wie der tiefenhermeneutischen Textinterpretation ließen sich keine verlässlichen Ergebnisse erzielen. Das Rollenspiel ist als Erhebungsmethode besonders dann geeignet, wenn es sich um ein schwer zugängliches Forschungsfeld handelt, sollte aber mit anderen Erhebungsmethoden, z.B. durch im Anschluss an das Rollenspiel geführte Interviews abgesichert werden. Eine Kombination von Beobachtung in Alltagssituationen und Rollenspiel hält STAHLKE für ideal, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. [16]
STAHLKE erkennt das Problem des relativ aufwendigen Erhebungs- und Auswertungsverfahrens, da die Workshops über mindestens zwei Tage abgehalten werden, per Video aufgezeichnet werden sollten und ein relativ großes ForscherInnenteam nötig ist. Die aufgezeichneten Rollenspiele werden transkribiert, um sie mit der Methode der tiefenhermeneutischen Textinterpretation auswerten zu können. Daraus ergibt sich eine große Materialfülle. Da die ForscherInnen z.T. am Rollenspiel beteiligt sind, sei eine Supervision unerlässlich, um eigenes Verhalten reflektieren zu können und zu analysieren, wie es sich auf den Workshop, und damit auch auf den Forschungsprozess, ausgewirkt hat. Dieser Aufwand lässt die Autorin jedoch nicht an der Wirksamkeit der Methode zweifeln, und sie arbeitet sich zur Unterstreichung des Rollenspiels als Forschungsmethode an den Kriterien FLICKs zur Erhebung verbaler Daten ab (vgl. Flick 1995, S.146f) ab. [17]
Enttäuschend ist allerdings, dass es nicht in STAHLKEs Interesse liegt, eine angemessene Auswertungsmethode für die nonverbale Kommunikation zu erarbeiten. Das verwundert insbesondere deshalb, weil sie selbst feststellt, dass der nonverbalen Kommunikation beim Rollenspiel ein großer Stellenwert zukommt. Gerade dieser Aspekt wäre einer näheren Betrachtung und Überlegung wert gewesen. Als etwas störend erweist sich zudem, dass einige Fußnoten fehlen und die Seitennummerierung im Inhaltsverzeichnis nicht mit der tatsächlichen Aufteilung übereinstimmen. [18]
Flick, Uwe (1995). Qualitative Forschung. Hamburg: Reinbek.
Scheller, Ingo (1998). Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis. Berlin: Cornelsen Scriptor.
Strauss, Anselm L. & Corbin, Juliet (1996). Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz, PVU.
Stephanie BRETSCHNEIDER, Diplompädagogin, szenische Spielleiterin. Nach dem Studium an der Sonder- und Sozialpädagogik an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg ist sie seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes Gutenberg Universität Mainz.
Forschungsschwerpunkte: Qualitative Sozialforschung, Biographieforschung, Körperbehindertenpädagogik, Behinderung und 3.Welt/Afrika/Nigeria
Kontakt:
Stephanie Bretschneider
Johannes Gutenberg Universität
FB 11
Colonel-Kleinmann-Weg (SBII)
D-55099 Mainz
E-Mail: stephanie.bretschneider@mail.uni-oldenburg.de
Bretschneider, Stephanie (2002). Rezension zu: Iris Stahlke (2001). Das Rollenspiel als Methode der qualitativen Sozialforschung. Möglichkeiten und Grenzen [18 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(3), Art. 4, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs020348.
Revised 2/2007