Volume 3, No. 2, Art. 4 – Mai 2002

Rezension:

Matthias Petzold

Michael Beißwenger (Hrsg.) (2001). Chat-Kommunikation. Sprache, Interaktion und Sozialität in synchroner computervermittelter Kommunikation. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Stuttgart: Ibidem, 552 Seiten, gebunden, ISBN 3-89821-147-9, EUR 79.-

Zusammenfassung: Chat-Kommunikation hat in den letzten Jahren mehr und mehr zugenommen, besonders bei Jugendlichen ist das ursprünglich nicht so konzipierte Medium auf größtes Interesse gestoßen. Chat-Kommunikation kann als Form verschrifteter Gespräche angesehen werden, zeigt aber eine Reihe höchst bemerkenswerter Besonderheiten. Der vorliegende Band bringt in einer Reihe von Einzelbeiträgen die unterschiedlichen Zugangsweisen zu Phänomenen der Chat-Kommunikation zur Darstellung und dokumentiert damit zugleich die Interdisziplinarität des damit zusammenhängenden – spannenden wie facettenreichen – Forschungsfeldes. Der Band ist in fünf thematische Rubriken unterteilt, die jeweils für sich und in Ergänzung zueinander unterschiedlichen Motivationen einer Beschäftigung mit Chat-Kommunikation entsprechen. Der erste Teil befasst sich mit Sprache und Interaktion in Chat-Kommunikation. Teil 2 ist der Sozialität und Identität in Chat-Kommunikation gewidmet. Im dritten Teil werden Typen von Chats und ihre Nutzer analysiert. Teil 4 sieht Chat-Kommunikation im soziokulturellen Kontext. Der letzte Teil entwickelt Perspektiven für Chat-Kommunikation in Ausbildung und Lehre. Dem Buch fehlt eine zugrunde liegende theoretische Struktur, ist aber – aufgrund der sehr guten empirischen Studien – für jeden in der Medienforschung aktiven Sozialwissenschaftler von höchster Relevanz.

Keywords: Chat-Kommunikation, Sprache, Interaktion, Sozialität, Identität, computervermittelte Kommunikation

Inhaltsverzeichnis

1. Textbasierte Kommunikation fasziniert besonders die Jugendlichen

2. 21 Beiträge aus unterschiedlichen Fachdisziplinen

3. Ein viel versprechender Start in ein neues interdisziplinäres Forschungsfeld

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Textbasierte Kommunikation fasziniert besonders die Jugendlichen

Während aller Orten (z.B. zuletzt in der PISA-Studie) der Verlust der menschlichen Kommunikation via verschrifteter Sprache beklagt wird, entwickelt sich ein Feld der Alltags-Kommunikation, das nahezu ausschließlich auf Text aufbaut: Chat im Internet oder als SMS per Handy. [1]

Beim Mobiltelefon war es zunächst nur ein als völlig uninteressantes Addendum gedachtes Feature, auch mit dem Telefon kurze Textbotschaften zu verschicken. Aber gerade die Jugendlichen haben sich auf dieses Medium gestürzt und es in einem Ausmaß genutzt, dass die Mobilfunkbetreiber schneller als erwartet in ihren Bilanzen rote Zahlen schreiben konnten, während sich hunderttausende Jugendliche hoch verschuldeten noch bevor sie erwachsen wurden. Statt des emotional näheren Kontakts per Sprache haben es die sonst als textverachtenden Jugendlichen vorgezogen mit mehr Distanz SMS-Botschaften zu verschicken! [2]

Der Sammelband von BEIßWENGER bezieht diese Chat-Kommunikation via Mobiltelefon nicht mit ein, sondern beschränkt sich auf die Chat-Kommunikation im Internet. In Deutschland wurden erste empirische Studien zur SMS-Nutzung von HÖFLICH (2001) vorgelegt. [3]

Die Chat-Kommunikation im Internet wurde auch nicht zu genau diesem Zweck "erfunden", sondern ist ähnlich wie der SMS-Dienst des Handys nur ein Nebenprodukt. Zu Beginn des Internetzeitalters hatten Computer noch keine grafische Oberfläche und auch keine Multimedia-Fähigkeiten. Die Kommunikation zwischen den Computern zu Beginn des Internet-Zeitalters in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts erfolgte notwendigerweise per Tastatur mit den Medien verschrifteter Sprache. Mit dem Mittel grafischer Oberflächen wurden dann auch grafische Charaktere als Versinnbildlichung des Selbst möglich. Diese "Avatare" genannten Kunstgestalten haben sich trotz der inzwischen auch dazu nötigen hohen Rechenleistung der PCs aber nicht als verbreitetes Medium durchgesetzt. Nachdem die Internet-Bandbreiten überall ausgebaut worden waren und quasi jeder Computer über Sprach-Ein- und -Ausgabe verfügt, ist technisch die Telefonie über Internet realisiert worden. Obwohl sie sogar nichts kostet, hat sie die textbasierte Chat-Kommunikation nicht verdrängt. Es ist merkwürdig, aber empirisch belegt: Die Menschen bevorzugen die umständlichere Texteingabe, obwohl sie doch genau dasselbe viel leichter per Mikrofon eingeben könnten. Sie bevorzugen die Reduktion auf die Schriftsprache, obwohl die Computer dreidimensionale grafische Möglichkeiten anbieten. Erstaunlicherweise sind es dabei mit weitem Abstand besonders die Jugendlichen, denen man sonst "Schreibfaulheit" nachsagt, die mit großer Begeisterung am Text als Kommunikationsmedium festhalten (vgl. auch PETZOLD 2000). [4]

Es sind gerade die sozialpsychologischen Besonderheiten des Internet, die es für Jugendliche besonders attraktiv macht. Das Internet bietet Jugendlichen mögliche Orientierungen in der für sie schwierigen Entwicklungsphase mit ihren körperlichen, psychischen und sozialen Unsicherheiten. Gerade die Anonymität und die häufig auf Text eingeschränkte Kommunikation bieten Jugendlichen in ihrer Unerfahrenheit einen geschützten Raum zum Experimentieren. Man kann z.B. im Chat einerseits schnell in synchroner Kommunikation mit anderen in Austausch treten, muss sich aber nicht mit der ganzen Person einbringen. Das ist für Jugendliche, die sich ihrer selbst (z.B. in der Wahrnehmung des eigenen Körpers, des Geschlechts usw.) noch unsicher sind, eine Chance, dennoch mit anderen in Kommunikation zu treten. Die in Bezug auf die vielen Sinneskanäle beschränkte Kommunikation via Internet ist daher gerade für Jugendliche besonders attraktiv, wobei noch den Ausschlag gibt (z.B. im Vergleich zum früher bei Jugendlichen beliebten CB-Funk), dass die globale Vernetzung ein riesiges Potential von Ansprechpartnern ermöglicht. Auf dieser Kommunikationsschiene erfahren manche Jugendliche häufig auch mehr Anerkennung durch Gleichaltrige als in Face-to-face-Interaktion, die zwar nur "virtuell" erfolgt, aber dann sehr bedeutsam wird, wenn entsprechende Anerkennung im Alltag fehlt. [5]

Der Text als Kommunikationsmittel hat sich also trotz scheinbar einfacherer oder besserer Kommunikationsmöglichkeiten erhalten. Ja noch mehr: diese textbasierten Kommunikationsformen werden in immer neuen Formen mehr und mehr ausgebaut. Während die urtümlichen IRC-Chats aus der Stunde Null des Internet nach wie vor genutzt werden und ständig neue Gesprächsforen dazu kommen, entwickeln sich weitere neue Formen. Zunächst waren es die großen Internet-Provider CompuServe, AOL und andere, die mit dem Aufbau eigener Chat-Communities mit qualifizierter Moderation einen speziellen Mehrwert angeboten haben, um Kunden zu werben und an ihren Dienst zu binden. Hinzu kam dann noch die Idee, den ständig online arbeitenden oder spielenden Internet-Junkies mit einem Programm im Hintergrund direkte Kommunikation zu selbst gewählten Interaktionspartnern anzubieten; der "Instant Messenger"-Dienst wurde geboren. Und auch hier waren es nicht die Millionen Firmen-Angestellten, die eh schon dauernd im Netz waren, sondern die Jugendlichen, die diesem Dienst zum großen Durchbruch verholfen haben. Für die Suche nach dem Kommunikationspartner ("I seek you") war es besonders das Programm "I" "C" "Q", das sich ganz gegen jede kommerzielle Strategie (z.B. des AOL-Dienstes AIM) schließlich durchsetzte. [6]

Es muss also was Besonderes dran sein, wenn Menschen, insbesondere junge Menschen so sehr auf textbasierte Kommunikation setzen – gegen jeden technischen Fortschritt, gegen striktes ökonomisches Kalkül, trotz großer Schreibfaulheit. [7]

2. 21 Beiträge aus unterschiedlichen Fachdisziplinen

Das dicke Werk zur Chat-Kommunikation umfasst 21 Beiträge aus verschiedenen wissenschaftlichen Forschungsrichtungen. Die ausführliche Einleitung (auch online zu lesen unter http://www.chat-kommunikation.de/) gibt einen guten Überblick zum Thema. Der erste Teil zum Thema "Sprache und Interaktion in Chat-Kommunikation" umfasst vier Beiträge: Angelika STORRER diskutiert unterschiedlichen Typen von Chat-Angeboten im zweidimensionalen Raum der Bildschirmanzeige. Juliane SCHÖNFELDT geht der Frage nach, inwieweit die "getippten Gespräche" mit Face-to-face-Gesprächen vergleichbar sind. Jörg KILIAN stellt mit der "verschrifteten Umgangssprache" eines der nähesprachlichen Spezifika von E-Mail- und Chat-Kommunikation in den Kontext von historischen Vorläufern aus der Sprach- und Literaturgeschichte. Michael BEIßWENGER reflektiert das Konzept des Chat-"Raums" sowie die Möglichkeiten und Formen von Nicknames und Figurenkonzepten des Chat und skizziert Chat-Kommunikation davon ausgehend als eine Interaktionsform, die aufgrund ihrer trägermedialen Rahmenbedingungen ihre Attraktivität durch spezifische Möglichkeiten der kommunikativen Selbstinszenierung sowie des interaktiven Spiels gewinnt. [8]

Im zweiten Teil ("Sozialität und Identität in Chat-Kommunikation") gibt Nicola DÖRING einen Überblick zu Forschungsdesigns, Untersuchungsmethoden und zentrale Themenkomplexe einer sozialpsychologisch motivierten Beschäftigung mit Chat-Kommunikation. Alexander SCHESTAG fragt ethnologisch motiviert nach der Auswirkung von Machtstrukturen und Machtmissbrauch auf das Profil virtueller Gemeinschaften als "virtueller Kulturen". Gerit GÖTZENBRUCKER und Roman HUMMEL beschreiben Charakteristika des Beziehungsaufbaus und der Community-Bildung in Chat-Diensten im Vergleich zu MUDs und Newsgroups. [9]

Der Teil 3 analysiert Typen von Chats und ihre Nutzer, zunächst am Beispiel des "Polit-Chats" (Hajo DIEKMANNSHENKE). Caja THIMM thematisiert am Beispiel zweier Beratungs-Chats den Wandel vom reinen Unterhaltungsmedium und Sozialtreff hin zu einer textbasierten Form zweckorientierter Kommunikation. Claudia ORTHMANN gibt einen Überblick über die Strategien der Selbstdarstellung und der kommunikativen Kontaktaufnahme von Kindern und Jugendlichen im Chat, John SULER untersucht am Beispiel des Multimedia-Chat die Spezifika der Kommunikationsabwicklung durch Avatare und den Umgang mit graphisch simulierten "virtuellen Umgebungen". Karl KOLLMANN untersucht den Typus des Erotik-Chats unter der Fragestellung, inwieweit sich der Austausch von (simuliertem) Sex und Aufmerksamkeit in rein textbasierten Kommunikationsumgebungen unter einer konsumökonomischen Perspektive beschreiben lässt. [10]

Teil 4 steht unter dem Thema "Chat-Kommunikation im soziokulturellen Kontext" und wird eröffnet mit einer Analyse von Jannis ANDROUTSOPOULOS und Volker HINNENKAMP zu Code-Switching-Mustern in bilingualen Chat-Angeboten. Michael BEIßWENGER und Ulrike PÜTZ beschreiben auf dem Hintergrund der spezifischen Sprachsituation Gehörloser, wie sich in sogenannten "Deafchats" Prinzipien der Gebärdensprache zeigen. Nasser BERJAOUI geht anhand des marokkanischen Arabischen (Dialekt ohne normierte Schreibung) der Frage nach, wie die Chat-Nutzer intuitiv bestimmte Formen der Graphie und Orthographie herausbilden. [11]

Der letzte Teil ist der Chat-Kommunikation in Ausbildung und Lehre (z.B. Online- Bildungsangeboten und virtuelle Seminaren) gewidmet. Lothar LEMNITZER und Karin NAUMANN zeigen in ihrem Bericht von einem virtuellen Seminar, unter welchen Voraussetzungen Chat-Werkzeuge gewinnbringend im Rahmen der Lehre eingesetzt werden können. Teresa CERRATTO diskutiert anhand einer Fallstudie Probleme und Perspektiven der Verwendung von MOOs zur Abwicklung von Fortbildungsveranstaltungen. Jörg ZUMBACH und Peter REIMANN beschließen den Band mit einem Beitrag zu Ursachen und Konsequenzen der vergleichsweise hohen Ausstiegsrate bei der synchronen Online-Zusammenarbeit. [12]

Ein detaillierterer Überblick über alle 21 Beiträge von 25 Autoren auf den 552 Seiten soll im Rahmen dieser Rezension nicht gegeben werden; jeder Interessierte sollte selbst im Inhaltsverzeichnis oder in der Einleitung stöbern, was ihn mehr lockt. Auf der Website des Buches (http://www.chat-kommunikation.de/) findet sich nicht nur die komplette Einleitung des Herausgebers, sondern auch die Zusammenfassung jedes einzelnen Beitrags sowie Informationen zu den Autoren der einzelnen Kapitel. [13]

3. Ein viel versprechender Start in ein neues interdisziplinäres Forschungsfeld

Der Sammelband von BEIßWENGER ist eine Fundgrube für viele Antworten auf die Frage, warum denn Chat-Kommunikation als simples Textmedium dennoch so attraktiv geworden ist. Das Buch gibt Teilerklärungen aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven aber keine endgültige Antwort. Zu bemängeln ist auch, dass eine historische Perspektive fehlt und viele Erklärungen nebeneinander stehen. Der Band selbst ist ähnlich wie ein unmoderierter Chat ziemlich wildwüchsig. Man hat den Eindruck, die Einladung etwas beizutragen wurde breit gestreut, es sind viele ausgezeichnet vorbereitete Teilnehmer gekommen, aber alle reden aneinander vorbei. Nur selten nimmt einer auf den anderen Bezug, gemeinsame Schlussfolgerungen oder eine gemeinsame theoretische Ausgangsbasis fehlen. [14]

Der Herausgeber hat sein Bestes getan. Er hat die Beiträge zu fünf Gruppen geordnet, wobei das breite interdisziplinäre Feld von Teilnehmern aus verschiedenen Wissenschaftsrichtungen bearbeitet wird. Im ersten Teil sind es eher die allgemeinen Sprachwissenschaftler, die die sprachlichen Besonderheiten des Text-Chats herausarbeiten. Im zweiten Teil haben Sozialpsychologen das Wort, die die Beziehungsebene betonen. Im dritten und vierten Teil untersuchen Psychologen und Soziologen den Nutzer. Und im fünften Teil wird quasi im Sinne eines Praxisteils die Möglichkeit von Chat als Medium in der Hochschulausbildung diskutiert. [15]

Der Herausgeber versucht in der Einleitung, den roten Faden herauszuarbeiten, dass es sich bei Chat-Kommunikation um nichts anderes als eine neue Variante von Gesprächen, "verschriftlichten Gesprächen", handelt, dass aber die Besonderheiten dieser Gesprächsform noch wenig erforscht wurden. Es ist daher ein großer Verdienst des Herausgebers, erste empirische Forschungsarbeiten dazu zusammen getragen zu haben. Es bleiben aber die erwähnten Mängel im Stile eines unmoderierten Chats als Kennzeichen dieses Sammelbandes. Gleichwohl gilt, dass es bisher noch keine andere Publikation gibt, die in dieser breit angelegten interdisziplinären Perspektive so viele empirisch belegte kompetente Antworten auf ein hoch aktuelles Thema anbietet. Das Buch markiert einen viel versprechenden Start in ein neues interdisziplinäres Forschungsfeld und sei deshalb jedem sozialwissenschaftlich orientierten Medienforscher wärmstens empfohlen. [16]

Literatur

Höflich, Joachim R. (2001). Das Handy als "persönliches Medium". Kommunikation@Gesellschaft, 2. Verfügbar über: http://www.uni-frankfurt.de/fb03/K.G/B1_2001_Hoeflich_a.htm.

Petzold, Matthias (2000). Die Multimedia-Familie. Mediennutzung, Computerspiele, Telearbeit, Persönlichkeitsprobleme und Kindermitwirkung in Medien. Opladen: Leske & Budrich.

Zum Autor

Matthias PETZOLD, Dipl.-Psych. ist Professor für Psychologe (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Universität zu Köln) und in freier Praxis als Familien- und Medienpsychologie in Köln tätig.

Kontakt:

Prof. Dr. Matthias Petzold

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Erziehungswissenschaftliches Institut
Universitätsstr. 1
D-40225 Düsseldorf

E-Mail: M.Petzold@uni-koeln.de
URL: http://www.m-pe.de

Zitation

Petzold, Matthias (2002). Rezension zu: Michael Beißwenger (Hrsg.) (2001). Chat-Kommunikation. Sprache, Interaktion und Sozialität in synchroner computervermittelter Kommunikation. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld [16 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(2), Art. 4, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs020240.

Revised 2/2007

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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