Volume 3, No. 2, Art. 5 – Mai 2002
Rezension:
Martin Spetsmann-Kunkel
Thomas Brüsemeister (2000). Qualitative Forschung. Ein Überblick. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 305 Seiten, ISBN 3-531-13594-5, EUR 19.-
Zusammenfassung: Thomas BRÜSEMEISTERs Buch Qualitative Forschung. Ein Überblick stellt fünf unterschiedliche Verfahren der qualitativen Sozialforschung vor: Einzelfallstudie, narratives Interview, Grounded Theory, ethnomethodologische Konversationsanalyse und objektive Hermeneutik. Die Darstellung dieser Verfahren ist dabei so angelegt, dass sie für Studienanfänger und Novizen auf dem Gebiet der qualitativ-empirischen Sozialforschung gut verständlich und nachvollziehbar ist.
Keywords: Qualitative Sozialforschung, Einzelfallstudie, narratives Interview, Grounded Theory, ethnomethodologische Konversationsanalyse, objektive Hermeneutik
Inhaltsverzeichnis
1. Fünf Verfahren der qualitativen Sozialforschung
2. Fazit: Ein empfehlenswertes Einführungsbuch
1. Fünf Verfahren der qualitativen Sozialforschung
Das Buch Qualitative Forschung. Ein Überblick von Thomas BRÜSEMEISTER stellt zentrale Grundzüge von folgenden fünf Verfahren der qualitativen Sozialforschung vor: Einzelfallstudie, narratives Interview, Grounded Theory, ethnomethodologische Konversationsanalyse und die Objektive Hermeneutik. [1]
BRÜSEMEISTERs Darstellung dieser Forschungsverfahren orientiert sich dabei an der Überlegung, ob und inwiefern die einzelnen Methoden in der Lage sind, die grundlegenden Fragen der qualitativen Sozialforschung zu beantworten:
Wie nehmen Akteure Situationen wahr (Situation)?
Zu welchem Handeln entscheidet sich der Akteur in einer Situation bzw. welche Handlungsmöglichkeiten und Handlungsalternativen bestehen für den betreffenden Akteur in einer Situation (Selektion)?
Welche Konsequenzen und Strukturen ergeben sich aus den Handlungsentscheidungen (Aggregation)? [2]
Das narrative Interview beispielsweise konzentriert seinen Interessenschwerpunkt bei der Erklärung sozialer Prozesse auf die Handlungsentscheidungen bzw. -möglichkeiten von Akteuren, während die Grounded Theory versucht alle drei Forschungsebenen zu beobachten. In Einzellfallstudien werden zwar Situationen und selektive Entscheidungen ethnographisch beschrieben, der Schwerpunkt der Studien liegt jedoch bei der Analyse der Aggregationen einer sozialen Gruppe oder eines sozialen Milieus. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse und die Objektive Hermeneutik untersuchen demgegenüber ausschließlich (Tiefen-) Strukturen. [3]
Ausführlich widmet sich BRÜSEMEISTER zunächst dem Verfahren der Einzelfallstudie und der Methode des narrativen Interviews. Die Einzelfallstudie wird dabei als ein soziologisches Beobachtungsverfahren vorgestellt, was zunächst irritiert, da natürlich auch eine Dokumentenanalyse beispielsweise eine Einzelfallstudie sein kann. BRÜSEMEISTER hingegen spricht in diesem Zusammenhang vorrangig von Beobachtungsverfahren und erläutert unterschiedliche Arten der Beobachtung (teilnehmend vs. nicht-teilnehmend, verdeckt vs. offen, systematisch vs. unsystematisch) und verschiedene Protokollierungsformen wie das Forschungstagebuch oder die theoretischen Notizen, in welchem die Hypothesengenerierung reflektiert wird. Die Stärken einer Einzelfallstudie, die einen Gegenstand detailliert zu beschreiben versucht, veranschaulicht BRÜSEMEISTER anschließend, in dem er Stefan HIRSCHAUERs soziologische Beobachtung einer Fahrstuhlfahrt (HIRSCHAUER 1999) referiert. [4]
Das narrative Interview, welches im Wesentlichen auf das Werk von Fritz SCHÜTZE (1983) zurückgeht, wird als die zentrale Methode der Biographischen Forschung bezeichnet. Angesichts einer Vielzahl an Möglichkeiten der Lebensgestaltung, wie sie für die "Multioptionsgesellschaft" (GROSS 1994) charakteristisch zu werden scheint, steht die Biographieforschung vor besonderen Herausforderungen. Die biographische Genese der Gesellschaftsmitglieder, die – folgen wir der Argumentation von Ronald HITZLER und Anne HONER (1994) – heutzutage eine "Bastelexistenz" führen, ist mittels des narrativen Interviews rekonstruierbar. BRÜSEMEISTER erläutert detailliert einzelne Strategien der Interviewgestaltung. So erörtert er u.a. die Bedeutung der erzählgenerierenden Frage, von der das Gelingen eines narrativen Interviews abhängt. [5]
Weniger ausführlich, vielmehr mit Blick auf allgemeine Merkmale, beschäftigt sich BRÜSEMEISTER mit den Verfahren der Grounded Theory, der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und der objektiven Hermeneutik. Die auf Barney G. GLASER und Anselm L. STRAUSS (1967) zurückgehende Grounded Theory versucht, Forschung mit dem Ziel der Theoriegenerierung zu betreiben, das heißt, dass aus den mittels einer Vielzahl an unterschiedlichen Methoden gewonnenen Daten und dem Datenvergleich eine gegenstandsbezogene Theoriekonzeption abgeleitet werden soll. BRÜSEMEISTER erörtert das Prozedere bei der Entwicklung einer gegenstandsbezogenen Theorie: Zunächst werden die Untersuchungseinheiten ausgewählt, erhoben und ausgewertet (theoretisches Sampling) und die Daten in theoretische Konstrukte umgesetzt (theoretisches Kodieren). Im Anschluss werden Hypothesen entwickelt (theoretische Memos) und schließlich die theoretischen Memos zu der Entwicklung einer Theorie sortiert (theoretisches Sortieren). Abschließend wird die Theorie für eine Publikation zusammengefasst (theoretisches Schreiben). Die Grounded Theory ist für BRÜSEMEISTER aufgrund des Methodenpluralismus, des angestrebten Datenvergleichs, der großen Datenbasis und dem Anliegen der gegenstandsbezogenen Theoriegenerierung das umfassendste Verfahren der qualitativen Sozialforschung. [6]
Die ethnomethodologische Konversationsanalyse wurde in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA von Harvey SACKS (1990) begründet und ist die grundlegende Forschungsmethode für den Theorieansatz der Ethnomethodologie. Konversationsanalytiker bemühen sich herauszufinden, wie Akteure Gespräche gestalten und im Verlauf einer Interaktion versuchen, sich und ihrem Gegenüber den Sinn und die Bedeutung ihres Denkens und Handelns verstehbar zu machen. Dabei wird bei der Analyse nicht nur darauf geachtet, was gesagt wird, sondern auch wie dies geschieht. Die Konversationsanalyse ist ein reines Auswertungsverfahren, welches im Prinzip alle Arten von Gespräch (Telefongespräche, Unterhaltungen im Fernsehen, Gespräche auf der Straße, Tischgespräche etc.) untersuchen kann. Das Vorgehen einer ethnomethodologischen Konversationsanalyse wird am Beispiel von Jörg R. BERGMANNs Analyse eines Feuerwehrnotrufs (BERGMANN 1993) anschaulich gemacht. Mittels dieses Beispiels wird die Bedeutung der Kontextualität einer Äußerung und des typisierenden Wissensbestandes für das gegenseitige Verstehen besonders verdeutlicht. [7]
Der Begriff objektive Hermeneutik bezeichnet ein Verfahren zur Rekonstruktion objektiver Bedeutungsstrukturen von Texten und geht auf die Arbeit von Ulrich OEVERMANN (1989) zurück. Die objektive Hermeneutik ist – ähnlich wie die ethnomethodologische Konversationsanalyse – ein reines Auswertungsverfahren, mittels dessen man ein breites Spektrum von Daten untersuchen kann, vorausgesetzt die Daten liegen in Textform vor. BRÜSEMEISTER veranschaulicht die Vorgehensweise einer Textanalyse im Sinne der objektiven Hermeneutik, in dem er Teile eines narrativen Interviews auswertet, welches Wolfram FISCHER-ROSENTHAL (1996) zum Thema "Traumatisierte Lebensverläufe in Israel" führte. Dabei werden sowohl sequentielle biographische Daten analysiert als auch die Selbstpräsentation des Interviewten während des Gesprächs beleuchtet. [8]
2. Fazit: Ein empfehlenswertes Einführungsbuch
Es überrascht nicht, wenn man erfährt, dass BRÜSEMEISTERs Buch ursprünglich als ein Studienbrief für die Fernuniversität Hagen konzipiert worden ist: Der Aufbau des Buches ist didaktisch durchdacht. Die Verfahren sind gut lesbar sowie durch zahlreiche plastische Beispiele anschaulich dargestellt. Jedes Kapitel enthält zum Schluss sowohl eine kritische Zusammenfassung des zuvor Dargestellten als auch Hinweise auf weiterführende und lesenswerte Literatur. Am Ende dieses Einführungsbuches erfolgt in einem Abschlusskapitel ein resümierender Methodenvergleich, der die unterschiedlichen Verfahren mit Blick auf die zu Beginn genannten drei Ausgangsfragen nochmals zusammenfasst. Das Verfahren der Grounded Theory wird dabei resümierend als besonders geeignet zur Beantwortung der erwähnten Ausgangsfragen betrachtet. Ohne Zweifel kann über die Auswahl der dargestellten Verfahren gestritten werden, da natürlich auch andere Methoden (beispielsweise die qualitative Inhaltsanalyse als Methode der Textanalyse) hätten gewählt werden können. Dennoch ist dieses Buch – dies lässt sich als Fazit festhalten – eine empfehlenswerte Einstiegslektüre für Studienanfänger und Novizen auf dem Gebiet der qualitativen Sozialforschung. [9]
Bergmann, Jörg R. (1993). Alarmiertes Verstehen: Kommunikation in Feuerwehrnotrufen. In Thomas Jung & Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), "Wirklichkeit" im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften (S.283-328). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Fischer-Rosenthal, Wolfram (1996). Strukturale Analyse biographischer Texte. In Elmar Brähler & Corinne Adler (Hrsg.), Quantitative Einzelfallanalysen und qualitative Verfahren (S.147-208). Gießen: Psychosozial-Verlag.
Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm L. (1967). The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research. Chicago: Aldine (dt: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern: Huber).
Gross, Peter (1994). Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Hirschauer, Stefan (1999). Die Praxis der Fremdheit und die Minimierung von Anwesenheit. Eine Fahrstuhlfahrt. Soziale Welt, 50, 221-246.
Hitzler, Ronald & Honer, Anne (1994). Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung. In Ulrich Beck & Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften (S.307-315). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Oevermann, Ulrich (1989). Objektive Hermeneutik – Eine Methodologie soziologischer Strukturanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Sacks, Harvey (1990). Lectures. 1954 - 1965. Dordrecht: Kluwer.
Schütze, Fritz (1983). Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis, 13, 283-293.
Martin SPETSMANN-KUNKEL, M.A., Studium der Soziologie, Psychologie, Politischen Wissenschaft in Aachen, derzeit Promotion zum Dr. phil. In FQS findet sich eine weitere Rezension von Martin SPETSMANN-KUNKEL zu Grundlagen qualitativer Feldforschung.
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Spetsmann-Kunkel, Martin (2002). Rezension zu: Thomas Brüsemeister (2000). Qualitative Forschung. Ein Überblick [9 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(2), Art. 5, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs020252.