Volume 3, No. 1, Art. 18 – Januar 2002
Narrationsanalyse von Moralgeschichten
Johannes Stehr
Zusammenfassung: Im Reden über Kriminalität verständigt sich die Gesellschaft – über die Moralisierung von "Abweichung" – auf die soziale Ordnung und die in ihr eingelassenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Kriminalität ist nicht nur ein Thema von Kontroll-"Experten", auch im Alltag werden beständig Geschichten über Kriminalität erzählt, weil sie eine Moral enthalten, die im Prozess der (Medien-) Rezeption lebenspraktisch gemacht werden kann. Der Beitrag zeigt auf, wie über die Analyse des alltäglichen Erzählens von Moralgeschichten symbolische und kulturelle Dimensionen von Kriminalität herausgearbeitet werden können, und welche Funktionen Kriminalität als symbolischer und kultureller Ressource im Prozess des alltäglichen Moralisierens zukommen. Vorgestellt wird dabei ein Konzept der Narrationsanalyse, das übliche Trennungen zwischen Text und Kontext, Form und Inhalt überwindet und die Moralgeschichte mit der Erzählsituation verbindet. Abschließend wird das Potential der Narrationsanalyse für die Untersuchung der Rezeption massenmedialer Kriminalitätsdarstellungen diskutiert.
Keywords: Narrationsanalyse, Moralisierung, Moralgeschichten, Kriminalitätsdiskurs, Kriminalität als kulturelle Ressource, Rezeption massenmedialer Kriminalitätsdarstellungen
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Erzählen von (Kriminalitäts-) Geschichten als Moralisierungssituation: Ressourcen und Interaktionsbündnisse
3. Methodische Vorgehensweise und Schritte der Narrationsanalyse
3.1 Probleme der Geschichtenerhebung
3.2 Schritte der Narrationsanalyse
3.2.1 Analyse der narrativen Struktur der Moralgeschichten
3.2.2 Analyse der Erzählsituation und der Moral-Kommunikation
3.2.3 Herausarbeitung von Verbindungen zwischen Geschichten-Text, Erzählsituation und gesellschaftlichem Kontext
4. Rezeptionsforschung durch Narrationsanalysen?
Arbeiten zu den symbolischen Funktionen des Strafrechts haben deutlich herausgearbeitet, dass mit der Benutzung und Anwendung der Konzepte von Kriminalität und Strafe vor allem Moral verkündet und herrschende Machtverhältnisse dargestellt werden (z.B. COHEN 1972; HALL, CRITCHER, JEFFERSON, CLARKE & ROBERTS 1978; CREMER-SCHÄFER & STEHR 1990). Von der Ausrufung von Skandalen über die Konstruktion sozialer bzw. "öffentlicher" Probleme (GUSFIELD 1981) bis hin zur Inszenierung moralischer und Sicherheitspaniken reichen die massenmedialen Strategien der Moralisierung. [1]
Im auffallenden Kontrast zur mittlerweile gut untersuchten Ebene der Produktion von medialen Kriminalitätsdarstellungen bleibt die Ebene der Rezeption bislang wenig beachtet. Das ist wohl nicht nur ein empirisches Defizit, sondern dürfte auch auf einen theoretisch problematischen Zugang zum Publikum verweisen. In den kriminologischen Fragestellungen nach den Wirkungen von medialen Kriminalitätsdarstellungen wird den Rezipient/inn/en die Fähigkeit abgesprochen, sich zu den Medienprodukten aktiv zu verhalten und diese vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebenssituation zu deuten, zu rahmen und selbst zu benutzen. Die Fragen z.B. nach der massenmedialen Erzeugung von Kriminalitätsfurcht, einer punitiven Einstellung und einer hohen Bereitschaft, autoritäre staatliche (Kontroll-) Maßnahmen zu akzeptieren (z.B. LAMNEK 1990), gehen eher vom Konzept des "Reaktionsdeppen" aus und der Annahme, dass Mediendarstellungen auf ein passives Publikum "einwirken". Geht man hingegen auch auf der Rezeptionsseite (und nicht nur bei den "Medienmachern") von aktiven und eigenständig handelnden Akteuren mit eigenen Interessen aus, dann stellen sich andere Fragen: Zu klären ist dann vor allem, was Leser/innen und Zuschauer/innen mit den Mediendarstellungen machen (s.a. LÖSCHPER 1999a), auf welche Weise und zu welchen Zwecken sie Kriminalitätsdarstellungen rezipieren. [2]
Der hier präsentierte Zugang zur Rezeption knüpft an das Wissen darüber an, dass Rezipient/inn/en bei der Produktion von Medienbotschaften nicht zugegen sind, dass sie diese daher erst in der Rezeption mit Bedeutung füllen (müssen), die sich nicht aus den Produkten selbst ergibt bzw. nicht von ihnen determiniert wird. Eine kritische Rezeptionsforschung muss daher die sozialen Praktiken untersuchen, in denen Medienprodukte zur Anwendung kommen, und in denen sie für die Rezipient/inn/en ihren eigentlichen Sinn erhalten. Es wird hier davon ausgegangen, dass Rezipient/inn/en Mediendarstellungen nicht einfach "konsumieren", sondern vor spezifischen Selektions-, Deutungs- und Rahmungsaufgaben stehen: Diese Rezeptionsarbeit besteht vor allem darin, Medienbotschaften als eine Ressource zur Lösung eigener Probleme anzusehen und entsprechend zu nutzen (s.a. GAMSON, CROTEAU, HOYNES & SASSON 1992). [3]
Die hier vorgestellte "Narrationsanalyse von Moralgeschichten" schlägt empirisch einen bislang eher ungewohnten Weg ein, insofern die soziale Praxis der Rezeption an einem alltäglichen Geschichten-Genre untersucht wird, in dem sich die Rezeptionsaktivität des Publikums als narrative Moralisierungsarbeit manifestiert. Das von der Kulturanthropologie entdeckte und von der Kriminologie bislang kaum zur Kenntnis genommene Genre der "modernen Sagen" oder "Wandersagen" wird untersucht und interpretiert als eine soziale Praxis des Medienpublikums, das im Prozess der Rezeption einen besonderen narrativen Rahmen wählt, innerhalb dessen Medienbotschaften aufgegriffen und vor dem Hintergrund der eigenen Lebenssituation und bisheriger Lebenserfahrung interaktiv angeeignet und bearbeitet werden können. [4]
Da vornehmlich kulturanthropologisch erhobenes und gesammeltes Geschichten-Material die empirische Grundlage bildet (eine Erklärung dafür folgt weiter unten), nimmt die entwickelte und durchgeführte Narrationsanalyse einen etwas ungewöhnlichen Charakter an: Es wird zu zeigen versucht, wie sich Geschichten-Texte im Sinne einer Erzählanalyse untersuchen lassen, die es ermöglicht, das Erzählen moderner Sagen als eine Sozialform des alltäglichen Moralisierens zu verstehen. Im Rahmen dessen, was sich als eine rekonstruktive Erzählanalyse bezeichnen ließe, wird ein analytisches Verfahren vorgestellt, das den Text der Geschichte sowohl mit der Erzählsituation als auch mit dem weiteren gesellschaftlichen Erzählkontext verbindet. [5]
Zunächst werden einige Ausgangsüberlegungen für die Narrationsanalyse und das spezifische Genre der "modernen Sage" dargelegt und die analytischen Konzepte vorgestellt. Im Anschluss folgt die Skizzierung des methodischen Vorgehens und die Erläuterung der einzelnen analytischen Schritte. Abschließend wird kurz das Potential des praktizierten Verfahrens der Narrationsanalyse für die Untersuchung massenmedialer Kriminalitätsdarstellungen diskutiert. [6]
2. Das Erzählen von (Kriminalitäts-) Geschichten als Moralisierungssituation: Ressourcen und Interaktionsbündnisse
Das Moralisieren im Alltag nimmt in der Regel die Form des Erzählens von Geschichten an, in denen "Fälle" konkretisiert werden, und in denen reale Personen oder Ereignisse oder etwas, das "für die Realität steht", die Folie darstellen, auf der moralisiert wird. LIDZ und WALKER (1980) zufolge tendiert das Moralisieren dazu, den Normbruch, also den negativen Fall, zum Ausgangspunkt zu nehmen, um an ihm die Norm zu exemplifizieren und zu klären.
"We wish to suggest that this process of 'doing morality' is the essential process in deviance and control and that, to a large extent, it is the function of deviant acts and their apprehension to provide society with a basis for 'doing morality'" (LIDZ & WALKER 1980, S.26). [7]
Geschichten über Kriminalität sind folglich ideale Moralgeschichten. Das Genre der "modernen Sage" thematisiert auch Kriminalität, vor allem aber thematisiert es allgemeiner die Überschreitung von moralischen Grenzen und deren Folgen. Bei dem Versuch, die Fragen zu beantworten, auf welche Weise und zu welchen Zwecken in der Rezeption Kriminalitätsdarstellungen vom Publikum benutzt werden, sind zwei Konzepte leitend gewesen: Kriminalitätsdarstellungen – wie auch andere medial angebotenen Bilder, Szenarien, Figuren – sind fassbar als kulturelle Ressourcen, als "Rohstoffe" für Geschichtenerfindungen, wiederum einsetzbar in Situationen des Moralisierens. In "modernen Sagen", die als Geschichten über wahre Begebenheiten behauptet und motivgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Einkleidungen auftreten und weitergegeben werden, finden sich diese kulturellen Ressourcen wieder. Mit der entwickelten Narrationsanalyse wurde versucht, die sozialen Situationen zu rekonstruieren, in denen Sagen-Geschichten mit unterschiedlichen Bedeutungen erzählt werden können. Die Bedeutungen der Geschichten werden in den Erzählsituationen von den Beteiligten ausgehandelt; das Geschichten-Erzählen ist ein interaktiver Prozess, in dem sehr unterschiedliche "Interaktionsbündnisse" geschlossen werden können. Unter "Interaktionsbündnis" wird hier das gemeinsame oder umstrittene Verständnis der Situation verstanden, in der interagiert wird:
"Man kann es auch 'Situationsdefinition' nennen, wenn man das weit genug versteht, nämlich als die Gesamtheit der Normen und Erwartungen, die mit einer bestimmten Situation verbunden sind, darunter auch die Selbstdefinitionen ('Identitäten') der daran Beteiligten, oder auch die Gesamtheit des Wissens und Könnens, das gegeben sein muss, damit eine Situation gemäß ihrer Definition funktionieren und verstanden werden kann" (STEINERT 1997, S.138f.) [8]
Mit einer an der Herausarbeitung von "Interaktionsbündnissen" orientierten Narrationsanalyse ist der Blick nicht nur auf die unmittelbare Erzählsituation gelenkt, sondern zugleich auf das soziale und kulturelle Repertoire an Situationsverständnissen, das Akteuren in sozialen Situationen zur Verfügung steht, um ihre jeweiligen Definitionen durchzusetzen. So lassen sich über die Geschichten- und Erzählanalyse zugleich Aussagen treffen über das Verhältnis des Erzählpublikums zu den im öffentlichen Moral-Diskurs angebotenen Normen und Werten, dass bestätigend oder zurückweisend und subversiv sein kann. [9]
3. Methodische Vorgehensweise und Schritte der Narrationsanalyse
3.1 Probleme der Geschichtenerhebung
Moderne Sagen zu erheben, ist ein höchst problematisches Unterfangen. Die ideale Erhebungsmethode ist sicherlich die (teilnehmende) Beobachtung von natürlichen Gesprächssituationen. Erst durch die Miterhebung der Merkmale der Gesprächssituation können angemessene Aussagen über die Funktion des Erzählens dieser Geschichten getroffen werden. Doch die teilnehmende Beobachtung würde zu viel Zeit in Anspruch zu nehmen, um sie als systematische Methode im Rahmen eines empirischen Forschungsprojekts einsetzen zu können, zumal es völlig ungewiss wäre, ob Erzähler/innen, in welchen Situationen auch immer, ein Repertoire von Sagen-Geschichten besitzen und dieses auch ihren jeweiligen Kommunikationspartnern mitteilen. Sagen-Geschichten in der natürlichen Gesprächssituation zu erheben, ist folglich höchst problematisch. Auch die Initiierung einer natürlichen Erzählsituation ist nicht ohne Probleme, so dass eigentlich nur die Möglichkeit bestehen bleibt, im Rahmen von Interviews nach einem bestehenden Repertoire von Sagen-Geschichten zu fragen. Diese Methode steht allerdings auch vor erheblichen Problemen, da das explizite Erfragen eines Sagen-Repertoires bereits eine (mitgeteilte) Distanzierung zum Wahrheitsgehalt der Geschichte voraussetzt (s. BENNETT 1987). Hinzu kommt, dass Interviews durch einen eher distanzierten Erzählkontext gekennzeichnet sind, da die Kommunikationspartner sich als relativ Unbekannte oder Fremde gegenüberstehen, und der thematische Erzählrahmen damit stark eingeengt wäre. Das stärkste Argument gegen Interviews ist wohl aber, dass bereits das Fragen nach "Geschichten" problematisch ist, da dieser Begriff im Alltag ebenfalls schon eine Distanzierung vom Wahrheitsgehalt der geschilderten Ereignisse impliziert. [10]
Neben dieser grundsätzlichen Erhebungsproblematik stellt sich noch ein anderes genrebezogenes Problem: Nach welchen Kriterien lässt sich eine Geschichte überhaupt als moderne Sage einstufen? Das Kriterium, das den erhebenden Volkskundler/innen (oder den interpretierenden Soziolog/inn/en) eine Geschichte als "unglaubwürdig" erscheint, kann kaum das (alleinige) Kriterium sein. Einige Ereignisse in den Geschichten könnten durchaus vorgefallen sein, es fragt sich dann aber, warum die Geschichten über die Ereignisse genau in dieser Form konstruiert werden und warum sie eine solche soziale Verbreitung erfahren. Die volkskundliche Analyse von Erzählmotiven ist sicherlich eine wesentliche Möglichkeit, die "Echtheit" von Erzählungen zu überprüfen. Wenn Geschichten aus älteren oder bereits bekannten Erzählmotiven zusammengesetzt werden, kann dies ein Hinweis auf "erfundene" Geschichten sein. Auf der anderen Seite folgen selbst Geschichten über eigenerlebte Erfahrungen (personal experience stories) bestimmten "Formeln" und Erzähl-Strukturen und basieren auf "moralischen Ordnungen" (WHITE 1987). Relevanter als die Motivanalyse ist daher die Frage nach der gesellschaftlichen Verbreitung von Geschichten. Warum wird eine motivverwandte Geschichte – selbst wenn das eine oder andere Ereignis, von dem sie erzählt, so oder so ähnlich tatsächlich geschehen wäre – von so vielen Personen an so vielen Orten erzählt? Das verbreitete Erzählen wird nicht zuletzt deshalb möglich, weil die Geschichten wenigen einfachen strukturellen Erzählmustern folgen. Den Geschichten ist gemeinsam, " (...) daß sie allesamt ziemlich kurz und daher leicht zu behalten und gut weiterzuerzählen sind, und daß sie eine überraschende Pointe aufweisen, mit denen der Erzähler bei seinen Hörern Eindruck machen kann" (BREDNICH 1994, S.23). Wichtiger ist allerdings noch, dass die Sagen-Geschichten explizit über fremde Erfahrungen berichten, was dem Erzähler ermöglicht, sich mit dem Erzählten zu identifizieren, ohne sich selbst dabei exponieren zu müssen. Es geht also nicht so sehr darum, ob sich irgendwo Dinge wirklich so ereignet haben, wie sie beschrieben werden, sondern ob die Geschichte für die Erzähler und ihre Lebenssituation bedeutsam ist, so dass sie sie einem Publikum als "wahre Geschichte" mitzuteilen suchen. Manche Geschichten mögen sich aus realen Vorfällen entwickelt haben, andere dagegen sind frei erfunden. [11]
Aufgrund dieser Erhebungsproblematik wurde die Entscheidung für eine Sekundäranalyse getroffen, zumal BREDNICH (1990, 1992, 1993) und FISCHER (1991), auf deren empirisches Material sich die Untersuchung überwiegend stützt, Geschichten-Texte enthalten, die (in den meisten Fällen) im alltäglichen Kommunikationszusammenhang erhoben wurden und dementsprechend auch Angaben zur Erhebungs-, d.h. zur Erzählsituation enthalten (zur genaueren Materialbeschreibung s. STEHR 1998). [12]
Die Entscheidung, das empirische Material nicht selbst zu erheben, sondern auf die volkskundlichen Sammlungen zurückzugreifen, hat ein "doppelgleisiges" Auswertungsverfahren notwendig werden lassen. Während sich die eine Untersuchungsrichtung darauf bezog, die vorliegenden Geschichten-Texte zu rekontextualisieren, sie in den Kontext möglicher Erzähl-, Interpretations- und Moralisierungssituationen zu stellen, ging es auf der anderen Seite darum, im Vergleich zu anderen "kommunikativen Gattungen" und Moral-Kommunikationen (LUCKMANN 1986, BERGMANN 1987) – vor allem im Vergleich zu "Klatsch" und "Gerücht" – die Besonderheiten gerade des Erzählens "moderner Sagen" als einer Sprechhandlung mit moralischem Gehalt herauszuarbeiten. Der analytische Prozess bestand daher wesentlich in der Synthese recht unterschiedlicher Daten. Im Folgenden werde ich versuchen, die einzelnen analytischen Schritte näher zu beschreiben. [13]
3.2 Schritte der Narrationsanalyse
Angesichts der Entscheidung für eine Sekundäranalyse kulturanthropologisch erhobenen Materials konnte von bereits präsentierten Geschichten-Texten ausgegangen, die in drei Auswertungsschritten betrachtetet habe. Ausgehend vom Endprodukt "Geschichte" ging es zunächst um die Untersuchung der narrativen Struktur, an die sich ein zweiter, eher ethnographisch orientierter, Auswertungsschritt anschloss, bei dem – soweit dies anhand der Daten zur Erhebungssituationen möglich war – die Geschichten als Sprechhandlung bzw. als Form der interaktiven Aushandlung von Bedeutungen situativ rekontextualisiert wurden. Ziel dabei war nicht die Erhebung eines "wahren Erzählkontextes", sondern die Herausarbeitung möglicher Interpretations-Situationen und damit möglicher Interaktionsbündnisse des Erzählpublikums. Der dritte Auswertungsschritt lässt sich als thematische Analyse bezeichnen. Hier ging es darum, auf der Basis des bereits analysierten kulturellen Erzählmusters den normativen Gehalt bzw. die moralischen Inhalte zu identifizieren. [14]
3.2.1 Analyse der narrativen Struktur der Moralgeschichten
Nach einer Untersuchung der narrativen Struktur der Geschichten anhand des Schemas von LABOV und WALETZKY (1973) konnte zunächst festgehalten werden, dass die Moralgeschichten – obgleich sie nicht über selbsterlebte Erfahrungen berichten – vom narrativen Aufbau diesem Schema weitgehend entsprechen. Zumindest die Kernelemente ("orientation, complicating action, evaluation, result or resolution") ließen sich in den Geschichten identifizieren. Auf dieser Basis wurde dann versucht, die moralische Grundstruktur der Geschichten zu identifizieren. [15]
Nach einem Orientierungselement (Skizzierung des Schauplatzes der Handlung bzw. der Darstellung einer Szene aus dem Alltagsleben) folgt ein "Einruch" in die Normalität, eine Sequenz, in der sich unerwartete, ungewöhnliche und/oder bedrohliche Dinge ereignen, die entweder noch korrigierbar sind oder zu negativen Folgen führen (nach LABOV: "complicating action" und "result" bzw. "resolution"). Den Schluss der Geschichte bildet zumeist eine Sequenz, in der das Ungewöhnliche oder Bedrohliche erklärt wird ("evaluation"). [16]
Auf der Basis dieser Beschreibung ging es dann darum, den moralischen Kern der Geschichten herauszuarbeiten. Was BURKE (1945) als "trouble" bezeichnet und BRUNER (1991) "canonical breach" nennt, ist ein narratives Moment, dessen moralische Qualität durch die dargelegten Folgen dieses "Bruchs" herausgestellt wird. In den Worten von WHITE (1987) ermöglicht erst die "narrative Schließung", Zusammenhänge zwischen Ereignissen und handelnden Charakteren herzustellen. Mit dieser Schließung werden aber vergangene Ereignisse nicht nur berichtet, sondern sie werden auf der Grundlage einer moralischen Bewertung angeordnet. "The demand for closure (...) is a demand (...) for moral meaning, a demand that sequences of (...) events be assessed as to their significance as elements of a moral drama. (...) Could we ever narrativize without moralizing?" (WHITE 1987, S.24). [17]
Am folgenden Beispiel lässt sich zeigen, dass die Identifizierung des Norm- bzw. Ordnungsbruchs erst durch die Darstellung der Folgen des Ordnungsbruchs möglich wird. Die relativ einfache und stabile moralische Grundstruktur der "modernen Sagen" und damit ihre Qualifizierung als "Moralgeschichten" wird sichtbar an der Vorführung von (zumeist) negativen Handlungsfolgen bzw. an der rechtzeitigen Umkehr zur Ordnung und Norm – wie bei der folgenden Geschichte:
Beispiel 1: Babysitter im LSD-Rausch
"Ein Ehepaar engagierte für die Zeit eines geplanten Theaterbesuchs ein junges Paar, das ihr Baby sitten sollte. Gleich beim Eintreffen kamen ihnen die jungen Leute schon nicht ganz geheuer vor, deshalb riefen sie vom Theater aus nochmal zu Hause an, um zu erfahren, ob alles in Ordnung sei. Ja, es sei alles o.k., war die Antwort, wir haben den Braten fertig und schieben ihn in den Ofen. Voller Schreck fuhr das Ehepaar nach Hause und kam gerade dazu, als die beiden das Baby mit Ketchup übergossen, bevor sie es in die Röhre schieben wollten. Sie konnten ihr Baby im letzten Moment noch retten. Später stellt sich heraus, daß das Pärchen vollkommen unter LSD-Einfluß gestanden hatte und deshalb nicht mehr zurechnungsfähig war". (BREDNICH 1990, S.119) [18]
Erst die Entdeckung der Folgen des Vertrauens in die jungen Babysitter lässt es problematisch werden. Die Eltern in dieser Geschichte sind für ihre späte Einsicht mit der möglichen Rettung des Kindes belohnt worden. Das Faszinierende an diesem Moral-Genre ist, dass das Erzählpublikum doch einigen Interpretationsspielraum hat, da die Geschichte im Grunde dazu einlädt, den Moment des Ordnungsbruchs bzw. der "Grenzüberschreitung" im Kontext der Erzählsituation auszuhandeln. Es lässt sich zeigen, dass Geschichten eine Basis für die Interpretation von Handlungen liefern (s. BRUNER 1991), die wiederum vom jeweiligen Erzählpublikum in der spezifischen Erzählsituation abhängig ist. [19]
Durch eine vergleichende Analyse der Moralgeschichten konnte schließlich ein stabiles Muster herausgearbeitet werden, dass durch folgende Dreiphasen-Bewegung gekennzeichnet ist:
Normverletzung/Ordnungsbruch
Negative Konsequenz
Bearbeitung der negativen Konsequenz:
Rückkehr zur Norm/ Normbestätigung
keine Rückkehr mehr möglich/ Normbestätigung [20]
Diese Grundstruktur findet sich in mehr oder weniger allen Geschichten. Mitunter kommen noch andere Momente dazu: Manchmal wird zu Beginn der Geschichte die Verbotsnorm explizit verkündet; oder die Geschichte wird komplexer durch mehrere aufeinander folgende negative Konsequenzen, die auf unterschiedliche Weise bearbeitet werden. Die Dreiphasen-Bewegung bildet aber regelmäßig den stabilen Kern der Geschichtenstruktur. [21]
Im Anschluss an die Analyse der narrativen Struktur wurde die Erzählperspektive identifiziert. Betrachtet man die Geschichte aus einer kriminologischen Perspektive, so wird die Geschichte aus der Sicht von (potentiellen) Kriminalitätsopfern erzählt. Diese sind die dominanten Akteure, die mit ihrem Handeln die weiteren Ereignisse der Geschichten auslösen und deren Handeln zur Deutung und Bewertung "aufruft". Die Täter – wie die Babysitter in der Beispielgeschichte – haben die "Plotfunktion" (PROPP) der Schreckfigur, die vom Weg abkommende Protagonisten in die Norm und die Ordnung "zurückschrecken". [22]
Über die Identifizierung der Erzählperspektive wird zusätzlich deutlich, dass das Handeln der (potentiellen) Opfer und damit die Frage der Vermeidung von Gefahren zur Debatte steht. Damit geht es beim Erzählen der Babysitter-Geschichte vor allem um die Artikulation des Dilemmas, das daraus folgt, als Eltern für die Versorgung und Betreuung von Kleinkindern verantwortlich zu sein, und dennoch als Paar dem gemeinsamen Vergnügen nachgehen zu wollen. Eine neue und ungewohnte Situation vor allem für "frischgebackene" Eltern. [23]
Schließlich wurde durch einen Vergleich der Geschichten-Plots versucht, sowohl den "kulturellen Kern" als auch den moralischen Rahmen des Genres herauszuarbeiten. Dieser Analyseschritt wurde angeleitet von dem ethnologischen (aber auch in der Literaturwissenschaft verwendeten) Konzept der "Liminalität" (TURNER 1989). Auf der Grundlage der Analyse der narrativen Struktur und des Plotvergleichs ließen sich drei Formen der Liminalität bzw. der "Zwischenräumlichkeit" oder des "Schwellenzustandes" herausarbeiten, die zugleich als Verhältnisse des Erzählpublikums zu den mitgeteilten Normen und Ordnungsvorstellungen beschreibbar sind.
Die Grenzüberschreitung der Protagonisten bewirkt eine Gefahrenfreisetzung, sie führt zur Öffnung des Zwischenraums, der dämonisiert wird (in der Beispielgeschichte übernehmen die "gefährlichen" drogenkonsumierenden Jugendlichen diesen Part).
Eine andere Form der Grenzüberschreitung führt in den Zwischenraum der Inkompetenz: Grenzüberschreitungen führen hier zur Handlungsunfähigkeit. Die Akteure finden sich nicht mehr zurecht und werden zu Opfern ihrer eigenen Naivität und Torheit.
Die Grenzüberschreitung kann allerdings auch in einen "karnevalesken Zwischenraum" führen, in dem die Ordnung und die Norm durch ironisierende Umkehrungen problematisiert werden. Die gefährlichen Dämonen und Täterfiguren werden hier zu "Trickstern", zu liminalen Figuren, die "durch das Netz der Klassifikationen" (BABCOCK-ABRAHAMS 1975) schlüpfen. [24]
Ich erwähne hier diese Untersuchungsergebnisse, weil sich das Konzept der Liminalität als ein zentrales analytisches Konzept erwiesen hat, dass in der Lage ist, den Geschichten-Text mit der Erzählsituation und auch dem weiteren sozialen Kontext zu verbinden. [25]
3.2.2 Analyse der Erzählsituation und der Moral-Kommunikation
Erst durch die Ausdehnung der Analyse auf die Merkmale der Situation des Geschichten-Erzählens und die vergleichende Betrachtung von Gattungen der Moral-Kommunikation konnten die Elemente, Formen und Zwecke des Erzählens von Moralgeschichten der genannten Art weiter aufgehellt werden. Während die Kulturanthropologie die Geschichten nach Motiven ordnet und interpretiert, lässt sich am folgenden Beispiel illustrieren, dass motivgleiche Geschichten auf ganz unterschiedliche Erzählzwecke und Interpretations-Situationen verweisen können. Daten zur Erzählsituation erleichtern schlicht die Interpretation.
Beispiel 2: "Frauen alleine auf Tour"
Die folgende Geschichte erzählt ein 24jähriger Student aus Dinslaken:
"Da waren mal so Voerder Frauen. Die waren alle in einem Kegelklub und wollten mal ohne Männer eine Tour machen. Da sind die mit alle Mann hoch nach Amsterdam und wollten da mal so richtig einen draufmachen, so richtig die Sau rauslassen. Und wie sie abends loszogen, da kamen sie in das Vergnügungsviertel in Amsterdam, da, wo die vielen Molukken sind und die Fixer und so Typen. Da gingen die in eine Kneipe und tranken wie die Berserker. Und auf einmal waren sie alle weg, so richtig weggetreten und wachten erst am anderen Morgen im Hotel auf. Und da dachten die: "Was war denn da los?" Und als sich die erste waschen wollte, da stellte die fest, daß ihr jemand ein großes rotes Herz auf die Brust gemalt hatte, und das wollte die abwaschen, und das ging nicht ab, das war nämlich eine Tätowierung. Und die andern hatten das auch. Da wußten die nicht, was die ihren Männern erzählen sollten und fuhren mit solchen Gesichtern nach Hause. Die Männer fragten natürlich, was da los war. Und jetzt sind von den zehn neun geschieden. Die legen sich nicht mehr mit einem Bikini an den Strand, die tragen nur noch Rollkragenpullover." (FISCHER 1991, S.90f.) [26]
Diese Männergeschichte demonstriert Frauen, was passieren kann, wenn sie "mal ohne Männer eine Tour machen". Die Schreckfiguren, die gegen die Frauen aufgefahren werden, sind die "gefährlichen Kategorien", die im Amsterdamer Vergnügungsviertel vermutet werden ("Molukker", "Fixer", "so Typen"); es sind soziale Kategorien, von denen sich die erzählenden Männer abgrenzen können, und die in der Geschichte die Negation rechtschaffener Ehemänner darstellen. Es genügt der unscharfe Verweis auf die Bewohner des gefährlichen Zwischenraums, der als Amsterdamer Vergnügungsviertel konkret benannt wird. Die Geschichte droht mit Gefahren und Sanktionen, sie zieht enge moralische Grenzen und verweist (rechtschaffene) Frauen an die Seite ihrer Ehemänner. Mit dieser Geschichte wird aber auch – im Kontrast zu den bösen/kriminellen Männern – das Bild des guten Mannes gezeichnet: Der rechtschaffene Ehemann versorgt und beschützt seine Frau. Männer können mit dem Erzählen dieser Geschichte auch ihre eigene Männlichkeit vor dem Hintergrund eines zunehmenden weiblichen Emanzipationsstrebens herausstellen Wenn diese Geschichte unter Männern erzählt wird, ist das eine Gelegenheit, Männlichkeit zu definieren und auszuhandeln. Mit den Bildern und Figuren von "schlechten" Männlichkeiten wird gegenwärtig die Krise der Männlichkeit bearbeitet (KERSTEN 1991). [27]
Die folgende weibliche Variante des gleichen Themas enthüllt dagegen eine andere Erzählfunktion.
"Wo wir gerade über Kegelausflüge reden, Ihr kennt doch die (...), jedenfalls, die kegelt manchmal noch bei einem anderen Kegelverein mit. Und der Verein ist vor ein paar Wochen nach Hamburg gereist. Abends sind die Damen dann natürlich über die Reeperbahn geschlendert. Als man zum verabredeten Zeitpunkt die Nachtfahrt nach Hause antreten wollte, fehlten drei Frauen. Alles Suchen war vergeblich. Daraufhin entschloß sich der Rest der Runde, eine Vermißtenanzeige aufzugeben und trat mit gemischten Gefühlen – die Damen waren ja alt genug und würden auch allein nach Hause finden – die Heimreise an. Die zu Hause wartenden Ehemänner fielen aus allen Wolken, als sie erfuhren, daß ihre Frauen auf St. Pauli abhanden gekommen waren. Am nächsten Tag dann der erlösende Anruf von der Davidswache auf der Reeperbahn: Die drei Frauen waren, allerdings betrunken, nackt und ausgeraubt, wieder aufgetaucht und warteten auf ihre Auslösung." (BREDNICH 1993, S.78) [28]
Im Gegensatz zur vorherigen männlichen Geschichte fehlt hier das Moment der Sanktionierung durch die Männer. Die weibliche Version identifiziert die Grenzüberschreitung eher im Alkoholexzess, und hier auch weniger in Form einer moralischen Übertretung, sondern eher als Hinweis auf die Klugheitsregel, im öffentlichen Raum nicht die Selbstkontrolle zu verlieren und sich dadurch nicht verletzbar zu machen. Die Geschichte gibt eher Handlungsanleitungen, wie negative Folgen von Eigenständigkeit verhindert werden können. Während die männliche Version weibliche Autonomie im öffentlichen Raum grundsätzlich verneint, legt die weibliche Version eher andere Fragen nahe: Wo liegen die Grenzen weiblichen Vergnügens im (halb-) öffentlichen Raum? Über welche Kompetenzen sollten Frauen verfügen, wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen? [29]
Wichtig für die Analyse sind also Daten zur Erzählsituation, zu den Erzähler/innen und dem Erzählpublikum. Erst ihre Berücksichtigung, d.h. ihre Zuordnung zu den Geschichten-Texten, ermöglichte es, die Erzählsituation als Moralisierungssituation näher zu identifizieren. Das Moralisieren erweist sich als ein eher weites Konzept, das von der Selbstbewertung und sozialen Selbstverortung bis zur Distanzierung und Verurteilung von anderen Charakteren reicht; zugleich lässt sich der in der Geschichte mitgeteilte "Normbruch" der Protagonisten ebenfalls zwischen zwei möglichen Interpretations-Polen verorten: von der explizit moralischen Bewertung des Handelns bis zum Bezug auf Klugheitsregeln des Alltags, wobei die narrative Thematisierung letzterer eher auf Diskreditierung zielen als auf Sanktionierung. [30]
Während zusätzliche Daten zur Erzählsituation einerseits als Interpretationshilfen angesehen werden können, sind sie andererseits unabdingbar zur Untersuchung der Merkmale der Erzählsituation. So lässt sich etwa aus dem kulturanthropologischen Datenmaterial zeigen, dass sich die Erzählsituation selbst als Situation der Liminalität kennzeichnen lässt, denn die Erzähler/innen der Moralgeschichten befinden sich zumeist selbst in einer "zwischenräumlichen Situation" oder "Position" – d.h. in kategorial unbestimmten und unsicheren Lebenssituationen, in Übergangssituationen und Statuspassagen – oder stehen vor neuen und unbekannten Anforderungen. [31]
Im Vergleich mit Klatsch und Gerücht wurden anschließend die besonderen Merkmale des Erzählens moderner Sagen herausgearbeitet, deren Gemeinsamkeit in der "Moralisisierungstriade" liegt. Moderne Sagen werden in einer Situation erzählt, die – analog zum Klatsch und Tratsch – durch das Reden über abwesende Personen gekennzeichnet ist (s. BERGMANN 1987). Die Besonderheit des Genres liegt darin, dass die Geschichten einen Übergang darstellen zwischen Klatsch (als moralischer Bewertung persönlich bzw. namentlich bekannter Personen) und abstrakter Moral-Verkündung. Die von den Erzähler/innen mitgeteilten Erlebnisse werden dritten Personen zugeschrieben, die schein-spezifisch gehalten, tatsächlich aber unbekannt und typisiert sind. Sie werden typischerweise dem "Freund eines Freundes" oder der "Bekannten einer Freundin" zugeschrieben, scheinrealen Personen, die existent sein könnten und jeweils im näheren Umfeld der Erzähler/innen verortet werden. Da moderne Sagen im Alltag als "wahre Geschichten" weitergegeben werden, kommen im Erzählprozess Plausibilisierungsstrategien und Authentizitätsmarkierungen zum Tragen, die die Ereignisse – mit Ort- und Zeitangaben – in die unmittelbare Lebenswelt des Erzählpublikums verlegen. Moderne Sagen bekommen dadurch die Struktur von Geschichten aus zweiter oder dritter Hand. Dies befreit die Erzähler/innen von Rederestriktionen, Peinlichkeiten und Rechtfertigungszwängen. Sie können sich über Fragen der Alltagsmoral in einer Weise verständigen, die sie selbst von den erzählten Ereignissen entlastet. Damit eröffnen moderne Sagen eine Erzähldimension, die durch das Erzählen selbst erlebter Ereignisse nicht zu haben ist. [32]
Die Kriminalitätsgeschichten unter den modernen Sagen, die regelmäßig aus der Perspektive des (Beinahe- oder tatsächlichen) Opfers erzählt werden, entlasten z. B. von der Bürde einer eher unangenehmen Opfer-Rolle. Da die Erzähler/innen nicht mit den Opferpersonen der Geschichten identisch sind, entfällt die Peinlichkeit, in die man oder frau sich begibt, wenn sie eigene Erfahrungen von Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit anderen mitteilen. Aus dieser Entlastungssituation heraus können sie die in den Geschichten vorgeführten Charaktere als Kontrastfolie für das eigene Handeln verwenden. Geschichten aus zweiter Hand, Geschichten, die über eine fremde Erfahrung berichten, sind geeignet, als Negativ-Beispiele zu fungieren, in denen sich das Erzählpublikum zusammenfinden kann über die moralische Be- und Verurteilung des Handelns der Protagonisten. Damit aber lassen sich moderne Sagen als eine kommunikative Gattung interpretieren, die das Problem löst, in schwierigen sozialen Situationen eigene moralische Empfindlichkeiten, moralische Dilemmata und Unsicherheiten zu artikulieren und zu bearbeiten, ohne dass die Erzähler/innen sich dabei selbst ins Spiel bringen müssen. [33]
3.2.3 Herausarbeitung von Verbindungen zwischen Geschichten-Text, Erzählsituation und gesellschaftlichem Kontext
In einem dritten Analyseschritt wurden – vor dem Hintergrund von Studien zum öffentlichen Moral-Diskurs in der Phasen der Nachkriegsentwicklung – die Moralgeschichten thematisch und historisch zu verorten versucht. Wenn ethnomethodologische und konversationsanalytische Ansätze (z.B. BERGMANN 1987) auch die interaktiven und situativen Momente und Prozesse der Moral-Kommunikation herausarbeiten, so bleiben diese Analysen doch auf die eher formalen Prozesse der Herstellung von moralischer Kommunikation reduziert. Das Konzept des Erzählens von Geschichten dagegen legt auch die Analyse von inhaltlichen Mustern von Geschichten nahe, denn im Erzählprozess als eine soziale Praxis werden diese Muster ebenso reproduziert. Es verbindet Form und Inhalt wie auch das Individuum mit der Gesellschaft und ihren Strukturen (s. LÖSCHPER 1999b, die auch konkret am Beispiel des Strafverfahrens gezeigt hat, dass und wie sich "richterliches Urteilen als storytelling" auf andere gesellschaftliche Narrationstraditionen bezieht, durch die gesellschaftliche Beziehungen reproduziert werden). Die hier analysierten Moralgeschichten ließen sich nun anhand der Analyse von Geschichten-Plots, -Motiven und -Charakteren mit den Ergebnissen einer Studie zum öffentlichen, massenmedialen Moral-Diskurs in der bundesdeutschen Nachkriegszeit (s. CREMER-SCHÄFER & STEHR 1990; STEHR 1989; STEINERT, CREMER-SCHÄFER, STEHR & HANCKE-STEHR 1990) vergleichen. Bezogen auf Kriminalitätsdarstellungen wurde der Vergleich vor allem von folgenden Fragen angeleitet: Welche Veränderung erfahren die in den Geschichten vorgeführten Gefahren-Situationen? Welche Protagonisten gelten als potentiell gefährdet oder als gefährlich? Gibt es Grenzüberschreitungen, die im Plot nicht bestraft, sondern belohnt werden? [34]
Auf diese Weise ist es gelungen, im Erzählen moderner Sagen einen spezifischen Diskurs der Moral von Arbeitsdisziplin und Rechtschaffenheit auszumachen, der sich immer dort quer zum öffentlichen Diskurs stellt, wo dieser den Konsum und Genuss propagiert, der sich ihm aber anschließt, wenn es gilt, Permissivität und Emanzipation zu verurteilen (zu weiteren Ergebnissen s. STEHR 1997, 1998, 1999). Grundsätzlich zeigt sich, dass die sozialen Konflikte um Normveränderungen (im Hinblick auf Geschlechter-, Generationen- oder Klassenverhältnisse) Anlass des Erzählens der Geschichten und Thema der Geschichten-Plots sind. [35]
Für die Analyse besonders brauchbar hat sich das Konzept der Liminalität erwiesen, das es möglich gemacht hat, Geschichten-Text (Geschichten-Plot, Charaktere und deren Handlungen; Art der Grenzüberschreitungen),mit der Erzählsituation (die Erzähler/innen bzw. das Erzählpublikum in einer persönlich liminalen Lebenssituation) und dem gesellschaftlichen Kontext (Zeitpunkt des Erzählens, Verbreitung der Geschichten; Erzählpublikum in einer sozial unsicheren Position) zu verbinden. Die Struktur der Geschichten, ihr Inhalt und die Erzählform, wie sie in sozialen Situationen definiert sind, reproduzieren artikulieren und reproduzieren überwiegend existierende Ideologien und hegemoniale Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Sie lassen sich daher mit EWICK und SILBEY (1995) als "hegemoniale Geschichten" interpretieren, die – wiederum in kulturell verfestigten Erzählsituationen – nur selten subversiven Charakter annehmen. In Bezug auf Kriminalität heißt dies für den Plot: Die Dämonen verwandeln sich in "Trickster", die keine Bedrohung mehr darstellen, sondern Täter-Figuren, die Naivität und Inkompetenz der Opfer auslachen. [36]
4. Rezeptionsforschung durch Narrationsanalysen?
Das beschriebene kombinierte und Daten aus der Geschichten-, Situations- und Moral-Analyse synthetisierende Verfahren kann – trotz aller Datenmängel gerade im Hinblick auf die Erzählsituation – als geeignet angesehen werden, einen spezifischen Typus der Medienrezeption zu untersuchen, der sich anderen Zugangsverfahren durchaus versperrt. Der Vorteil war: Es konnte ein bislang in der Kriminologie nicht zur Kenntnis genommenes Geschichten-Genre als kriminologisch äußerst relevant dokumentiert werden. Der Nachteil war: Die (systematische) Analyse war auf die vorhandenen, von der Kulturanthropologie erhobenen Daten angewiesen, eine Begrenzung, die die Auswertung erschwerte. [37]
In der Gesamteinschätzung des methodischen Vorgehens sind zwei Aspekte herauszustellen:
Mit der beschriebenen Narrationsanalyse wurde an einem empirischen Material angesetzt, dass bereits von einer eigenständigen Bearbeitung der medial vermittelten Kriminalitätsdarstellungen zeugt. Sie hat damit erhebliche Vorteile gegenüber Untersuchungsmethoden, die die Rezipienten durch diverse Vorgaben (in Interviews oder Gruppendiskussionen über Medienprogramme oder -inhalte) wieder näher an die Medien selbst heranführen.
Unabhängig davon, für welche anderen Fragestellungen sich die beschriebene Methode eignen sollte, bleibt festzuhalten, dass das Reden über Kriminalität als eine soziale Praxis betrachtet werden kann, in der Narrationen kommuniziert werden, die es für das jeweilige Erzählpublikum möglich machen, ihre eigenen Problem- und Konfliktsituationen zu artikulieren und zu bearbeiten. Narrationsanalysen sind insofern geeignet, nicht nur den instrumentellen Umgang mit dem symbolischen Programm des Strafrechts aufzuzeigen, sondern auch zu beschreiben, wie die Thematisierung und Skandalisierung von "Abweichung" und "Kriminalität" auf alltägliche Reproduktionsstrukturen gesellschaftlicher Strukturkategorien (wie z.B. Geschlecht, Generation, Klasse und Schicht) und auf Identitätskonstruktionen (z.B. durch Hervorhebung des Eigenen und Ausschließung des Fremden) verweisen. [38]
Die besondere Relevanz des Narrationsansatzes für die Kriminologie ergibt sich aus seinem Potential, Mechanismen und Prozesse der sozialen Herstellung von Wirklichkeit mit einer inhaltlichen Analyse von gesellschaftlichen Diskursen zu verbinden. Im Erzählen und Aushandeln von Geschichten über Kriminalität werden zugleich gesellschaftliche Verhältnisse ausgehandelt. Kriminologische Forschung kommt um diesen Befund nicht mehr herum. [39]
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Johannes STEHR, zuletzt Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie der Universität Hamburg. Arbeitsbereiche: Medienanalysen, Ethnographie der Konfliktbearbeitung, Moralforschung, Narrationsanalyse, Jugend- und Arbeitslosigkeitsforschung. Gegenwärtig Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für berufliche Ausbildung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (INBAS).
Kontakt:
Dr. Johannes Stehr
Mainstr. 6
D-63329 Egelsbach
Tel.: 06103 / 43223
E-Mail: JohStehr@aol.com
Stehr, Johannes (2002). Narrationsanalyse von Moralgeschichten [39 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(1), Art. 18, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0201183.