Volume 3, No. 1, Art. 4 – Januar 2002
Rezension:
Michael B. Buchholz
George Lakoff & Rafael E. Núnez (2000). Where Mathematics Comes From. How the Embodied Mind brings Mathematics into Being. New York: Basic Books, 493 Seiten, ISBN 0-465-03770-4, $ 42.-
Zusammenfassung: Mathematik ist bisher kein explizites Thema der cognitive science gewesen. Die kognitive Linguistik, die George LAKOFF in Abgrenzung von CHOMSKY begründet hat, sieht den Körper als universelle Grundlage menschlicher Erfahrung. Körperlich begründete kognitive Schemata müssten dann auch Mathematik begründen können – hier wird die Probe aufs Exempel gemacht und damit die Mathematik als Teil und Ausdruck interagierender Menschen auf eine neue und faszinierende Weise fassbar gemacht.
Keywords: Mathematik, cognitive science, Körper
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zum Buch
3. Bewertung
Psychologen haben meist durch ihr Studium einen ordentlichen Horror vor der Mathematik eingebläut bekommen; ärztliche Psychotherapeuten verehren alles, was als Mathematik daherkommt und worunter sie meist Statistik verstehen und Sozialwissenschaftler sind erleichtert, wenn sie die entsprechenden Methodenkurse hinter sich gebracht haben. Die Mathematik ist einerseits hoch im Kurs, andererseits wenig vertraut – soll man also ein Buch über Mathematik in einer Zeitschrift über Qualitative Sozialforschung besprechen? Ich antworte auf diese Frage mit dem Psychoanalytiker WINNICOTT, der in seinem Buch "Der Anfang ist unsere Heimat" (1990, S.62) begeistert ausrief: "Und schon bekomme ich Mut, denn ich weiß, daß diese Dinge, mit denen sich befasst, wer die menschliche Persönlichkeit zu erforschen sucht, auch den Mathematiker beschäftigen; und die Mathematik ist ja tatsächlich auch eine entkörperlichte Form der menschlichen Persönlichkeit." [1]
WINNICOTT schreibt oft so leicht, was eigentlich nicht klar ist: Mathematik sei eine entkörperlichte Form der menschlichen Persönlichkeit – wie denn das? Dass WINNICOTT Recht hat, belegt das Buch des kognitiven Linguisten George LAKOFF und seines mathematischen Koautors Rafael E. NUNEZ [2]
Die Arbeiten von LAKOFF und seinen verschiedenen Koautoren sind mittlerweile auch in Deutschland bekannter geworden, insbesondere da "Leben in Metaphern" (LAKOFF & JOHNSON 1999) – ein grundlegendes Werk – mittlerweile auch auf Deutsch vorliegt. LAKOFF ist Schüler CHOMSKYs, hat sich aber von dessen Linguistik abgewandt, weil sie sich zu sehr auf die Syntax beschränke und hat mit seinen Arbeiten über die Metaphorik die Rolle der Imagination im alltäglichen Sprachverstehen auf eine erhebliche Weise aufgewertet. Mit seinem philosophischen Co-Autor Mark JOHNSON verfasste er 1999 "Philosophy in the Flesh", das den Körper als Subjekt wie Objekt rehabilitierte und zeigte, dass er nicht länger aus dem Denken ausgeschlossen werden kann. Das hatte in den USA erhebliche Resonanz auf Psychosomatik und die Leib-Seele-Diskussion, blieb aber in Deutschland in seinen Folgerungen noch weitgehend unbeachtet. Die wuchtigen Einleitungssätze lauteten: "The mind is inherently embodied. Thought is mostly unconscious. Abstract concepts are largely metaphorical" (S.3). [3]
Denken also ist verkörpert – und dann muss es mathematisches Denken, das ja als Inbegriff des Abstrakten und Körperfernen gilt, auch sein. Diese Herausforderung zu bewältigen setzen sich die beiden Autoren zum Ziel und füllen damit die Lücke, die WINNICOTTs Formulierung hinterlassen hatte. Es ist die gleiche Lücke, die FREUD mit seiner Formulierung meinte, als er schrieb, das Ich sei weitgehend ein körperliches – ja, doch das erlebte Ich "hat" seinen Körper und ist insofern exzentrisch (PLESSNER 1982) dazu. Wie also kommen jetzt so elaborierte kognitive Funktionen wie die Mathematik in die Lücke zwischen "Ich bin ich" und "Ich habe mich" hinein? [4]
Mathematik ist eine tiefe und wesentliche menschliche Erfahrung, weshalb sie verstanden werden müsse. Ihre Symbole freilich sind nicht dasselbe wie die Ideen und ihr intellektueller Reiz und ihre Schönheit liegen in den Ideen, nicht in den Symbolen – diese Voraussetzungen entlasten. Man wird also geschriebenen Text erwarten dürfen. Die Mathematik selbst kann jedoch nicht die menschlichen Ideen untersuchen, das ist Sache der cognitive science, die nun ihre Auffassungen für das Verständnis der mathematischen Ideen vorbringen kann. Das ist die Absicht des Buches. Welche kognitiven Mechanismen ermöglichen Mathematik? Die Antwort liegt für diese Autoren natürlich in den drei zitierten Sätzen: Denken ist verkörpert, es vollzieht sich meistens unbewusst und zum größten Teil metaphorisch. [5]
Das erste Kapitel führt nun in einige Überlegungen zum menschlichen Gehirn und dessen Auffassungsfähigkeit. Wir können z.B. sehr rasch die Zahl der Elemente in kleinen Kollektiven feststellen und basale Operationen wie Addieren oder Subtrahieren ausführen ohne mathematische Symbole zu nutzen. Das wird im zweiten Kapitel mit dem kognitiven Unbewussten verbunden, das "Klassen" bildet; die alltägliche Erfahrung der Wiederholung bildet dann das "embodied fundament" der mathematischen Rekursion, während Alltagskonzepte wie Bewegung oder Sich-einer-Grenze-nähern die körperliche Erfahrungsgrundlage des mathematischen Kalküls bilden. Die Klassenbildung selbst basiert auf dem unsere Erfahrung vielfältig organisierenden Container-Schema, wonach wir "in" einem Bett liegen, das "in" einem Raum ist, der also größer ist als das Bett – und so haben wir die Erfahrungsgrundlage für den Satz aus der Inklusionslogik: Wenn A > B und B > C dann ist C < A. [6]
In einer vergleichbaren Weise werden die sinnlichen Erfahrungsgrundlagen der Arithmetik beschrieben. Es gibt körperliche Schemata, die unsere Erfahrungen organisieren. Sie sind abstrakte und dynamisch wirkungsvolle Strukturen, die sich "an" den Erfahrungen dokumentieren. Schon CASSIRER hatte beschrieben, wie die Sprache sich auf die Sinnlichkeit des Körpers stützen muss und wie diese Erfahrungsorganisationen dann metaphorisch in abstraktere Bereiche "projiziert" werden. Die wichtigsten Gebiete der Mathematik werden auf diese Weise durchbuchstabiert, bis hin zur EULERschen Formel – ich habe sie jetzt verstanden, auch wenn es mir schwer wird, sie hier wiederzugeben. [7]
Gewiss, das klingt hier trivial, weil ich nur die grundlegende Art der Darstellung vermitteln kann. Wer aber endlich einmal verstehen will, was EULERsche Gleichungen sind oder irrationale Zahlen, welche Ideen und Erfahrungen in der BOOLEschen Algebra formuliert werden, was hyperset-theory ist und wer darüber hinaus an WINNICOTTschen Ideen über Mathematik und Persönlichkeit interessiert ist, d.h. also an den Ausarbeitungen zu einem Kooperationsprogramm zwischen Psychoanalyse und cognitive science, der greift mit Gewinn zu diesem Buch. Es ist anspruchsvoll und fordert volle Aufmerksamkeit, aber man kann es sich gewiss nicht leichter machen. Es ist elegant geschrieben, mit vielen kleinen Anekdoten und ansprechenden Vergleichen. Der Übergang zur Philosophie der Mathematik wird "le trou normand" genannt in Anlehnung an den Brauch, sich einen Calvados zu genehmigen, damit es mit dem Essen, der Lektüre weiter gehen kann. Auch das ist – sinnenfreundlich. [8]
Und wenn nicht nur unsere Kinder mit einem veränderten, sondern "körperfreundlichen" Mathe-Unterricht erleichtert würden, sondern wir alle unsere Aversionen gegen die Mathematik verlören, dann hätten wir etwas über den Körper und die sinnliche Erfahrungsgrundlage des Denkens gelernt, das wir diesem Buch zu verdanken haben. [9]
Der ungemeine theoretische Gewinn besteht darin, dass hier erstmalig eine so abstrakte Domäne wie die Mathematik mit den körperlichen Erfahrungen verbunden wird. Auf der einen Seite liefert unser Körper die Anschauungsgrundlagen für den "Geist", den wir jetzt freilich nicht mehr in Gegensatz zum Körper sehen können; auf der anderen Seite verbindet sich unser Körper mit anderen Körpern in vielfältigen sozialen und immer leibhaftigen Interaktionen. Geist – Körper – Interaktion: das ist eine Reihe, zu der wir jetzt wesentlich mehr gelernt haben, sogar für die eine Seite ein detailliertes Forschungsprogramm haben, das noch viele ausarbeiten werden. [10]
Kritisch anzumerken ist lediglich, dass amerikanische Autoren gerne europäische Traditionen, etwa die der Phänomenologen – HUSSERL, MERLEAU-PONTY und viele andere mehr – souverän ignorieren. Hier könnte die europäische Rezeption umstandslos anschließen und zugleich den Beitrag der Phänomenologie zur cognitive science in eigenen Beiträgen herausstellen. Das wäre eine würdigende Erinnerung und Vergegenwärtigung. [11]
Dies ist die erweiterte Version einer Rezension, die in einer der kommenden Ausgaben der Zeitschrift Psychotherapie & Sozialwissenschaft (Vandenhoeck & Ruprecht) erscheinen wird. Wir danken den Herausgebern für die Erlaubnis eines Vorabdrucks.
Lakoff, George & Johnson, Mark (1999). Leben in Metaphern. Heidelberg: Carl-Auer. (engl. Metaphors We Live By, 1980)
Lakoff, George & Johnson, Mark (1999). Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought. New York: Basic Books.
Plessner, Helmuth (1982). Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie. Stuttgart: Reclam.
Winnicott, Donald W. (1990). Der Anfang ist unsere Heimat. Heidelberg: Klett-Cotta.
Michael B. BUCHHOLZ, Dipl.-Psych., Dr. phil., apl. Prof. am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Göttingen, arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Sozialforschung, besonders Metapherntheorie. Letzte Veröffentlichungen: Metaphern der Kur – Qualitative Studien zum therapeutischen Prozeß (Westdeutscher Verlag, Opladen 1996); Psychotherapie als Profession (Psychosozial-Verlag, Giessen 1999)
Kontakt:
Prof. Dr. Michael B. Buchholz
Schlesierring 60
D-37085 Göttingen
E-Mail: buchholz.mbb@t-online.de
Buchholz, Michael B. (2001). Rezension zu: George Lakoff & Rafael E. Núnez (2000). Where Mathematics Comes From – How the Embodied Mind brings Mathematics into Being [11 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(1), Art. 4, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs020143.