Volume 3, No. 1, Art. 24 – Januar 2002
Rezension:
Angela Kaupp
Kristin Gisbert (2001). Geschlecht und Studienwahl. Biographische Analysen geschlechtstypischer und -untypischer Bildungswege. Münster / New York / München / Berlin: Waxmann, 354 Seiten, ISBN 3-89325-939-2, DM 59.-
Zusammenfassung: Kristin GISBERT untersucht in acht Einzelfallanalysen, die auf studienbegleitenden Längsschnittdaten und biographischen Interviews beruhen, biographische Bedingungen für die Wahl eines geschlechtstypischen bzw. -untypischen Studienfaches. Die aufschlussreiche Untersuchung, die sich auf entwicklungspsychologische Theorieentwürfe stützt, kann nachweisen, dass sich, u.a. durch die familiären Interaktionsstrukturen, bereits im Jugendalter die Entwicklung von Identitätsformationen aufzeigen lassen, die zur späteren geschlechtstypischen oder -untypischen Studienwahl führen.
Keywords: Biographieforschung, qualitative Forschung, Studienwahl, Identitätsentwicklung, Geschlechtsrolle, Interessen, Geschlechtstypik
Inhaltsverzeichnis
1. Geschlechtstypische Studienwahl – den formal gleichen Bildungschancen zum Trotz
2. Der Zusammenhang zwischen biographischer Entwicklung und Studien- bzw. Berufswahl – exemplarisch dargestellt
3. Geschlechtstypik aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie
1. Geschlechtstypische Studienwahl – den formal gleichen Bildungschancen zum Trotz
Obwohl das Allgemeinbildende Schulwesen weiblichen und männlichen Kindern und Jugendlichen formal gleiche Bildungschancen bietet, ist eine Studienwahl festzustellen, die sich geschlechtsspezifisch unterscheidet. Die Autorin untersucht den Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Identität, Interessen und Geschlechtsidentität und einem geschlechtstypischen oder -untypischen Studienfach. Geschlechtstypisierung wird nach der Über- oder Unterrepräsentation eines Geschlechts in einem Studienfach bemessen. In acht Einzelfallanalysen werden die Bildungsbiographien von Frauen und Männern mit den Studiengebieten Mathematik und Sprachen beschrieben und in der Gegenüberstellung der Analysen Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt, die als charakteristisch für die untersuchten Gruppen gelten können. [1]
2. Der Zusammenhang zwischen biographischer Entwicklung und Studien- bzw. Berufswahl – exemplarisch dargestellt
Die Arbeit gliedert sich in geschlechtstypische und -untypische Bildungsbiographien (Kapitel 1-3), Anlage der Untersuchung (Kapitel 4-8), Fallanalysen und -darstellungen (Kapitel 9-16), Integration und Diskussion der Befunde (Kapitel 17) und Zusammenfassung (Kapitel 18). In der Forschung wird eine Geschlechtstypisierung von Berufsfeldern festgestellt, die in der Schule mit dem Einsetzen der Pubertät deutlich sichtbar wird, weshalb eine "Verknüpfung mit den adoleszenten Entwicklungsprozessen, insbesondere der adoleszenten Geschlechtsidentität" (S.12) angenommen werden kann. Die Untersuchung schließt sich an eine vorangegangene Einzelfallstudie von drei Diplommathematikerinnen an, die eine wechselseitige Abhängigkeit der Entwicklung von Fachinteresse und weiblicher Geschlechtsidentität aufwies (GISBERT 1995). Die Autorin setzt sich das Ziel, "die retrospektive und prospektive Bedeutung geschlechtstypischer und -untypischer Studienwahlen im biographischen Kontext zu untersuchen" (S.55). [2]
In Kapitel 1-3 (S.16-54) stellt GISBERT die theoretischen Grundlagen der Identitätsentwicklung, der Entwicklung von Interessen und von Geschlechtsidentität in der Adoleszenz vor. Die Autorin baut auf dem epigenetischen Entwicklungsmodell der Adoleszenz von ERIKSON und seiner Weiterentwicklung von MARCIA auf und verbindet MARCIAs vier Identitätsformationen mit der Person-Gegenstands-Konzeption des Interesses von KRAPP (1992), um die spezifischen psychosozialen Aspekte der adoleszenten Entwicklung heraus zu stellen. Die Entwicklung der Geschlechtsidentität wird auf der Folie der strukturgenetischen Ansätze von KOHLBERG (1979, 1996) und TRAUTNER (1996) beschrieben. Ziel der Arbeit ist, "die wechselseitig beeinflussten Prozesse in den genannten Bereichen der Identitätsentwicklung zu untersuchen und sie im Kontext der biographischen Verläufe aufzuzeigen" (S.13). [3]
Kapitel 4-8 (S.55-107) beschreiben die Zielsetzung und die methodische Anlage der Untersuchung. Die Interviewteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden aus den 3.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Studien "Längsschnittuntersuchungen zur Beobachtung und Analyse von Bildungslebensläufen" und "Sozialisationseffekte nachgymnasialer Ausbildungswege" (GIESEN 1981; GIESEN, GOLD, HUMMER & JANSEN 1986) ausgesucht, die in vier Etappen (12. Klasse; 2./3. und 6./7. Semester sowie nach Studienabschluss) die Dimensionen Selbsteinschätzung von Fähigkeiten, berufliche Wertorientierungen und Einstellungen, Interessen, Wissen, Arbeitshaltungen und Persönlichkeitsmerkmale, Selbsteinschätzung im Studium, Erleben der universitären Umwelt und intellektuelle Fähigkeiten erforschte. Unter dem Aspekt der Geschlechtstypizität des Studienfaches wurden je vier Frauen und Männer 10 bis 16 Jahre nach Studienabschluss mittels biographischer Leitfadeninterviews befragt. Bei der inhaltsanalytischen Auswertung (orientiert an MAYRING) werden für die Inhaltsbereiche "Studien- und Berufswahl" und "Geschlechtsidentität" (Geschlechtsrollenverständnis und Koordination von Beruf und Familie) für jede Person zwei Formationsdiagnosen vorgenommen. Unter Rückgriff auf die Ergebnisse der Testverfahren der Längsschnittuntersuchung werden die Fallanalysen unter den Fragekomplexen der Erfahrungen in den Herkunftsfamilien (Interessensgebiete durch Identifikation mit den Eltern, Orientierungen und Interaktionsformen in der Familie, emotionale Beziehungen) und in der Schule (Noten, koedukative oder eingeschlechtliche Schulen), Studienwahl (explorative Prozesse und persönliche Passung), Studienzeit (als verlängerte Adoleszenz, in der die Entwicklung funktionell autonomer Interessen und einer individuellen Geschlechtsidentität ansteht) und Werdegang nach dem Studienabschluss erarbeitet. Der Werdegang nach dem Studium dient als Kriterium, "an dem sich die Bedeutung vorangegangener Entwicklungsprozesse für die Biographie als ganze einschätzen lässt" (S. 62). [4]
Die Darstellung der biographischen Fallanalysen (Kapitel 9-18, S.108-281) von zwei Diplommathematikern und zwei Germanistinnen mit Magisterabschluss als geschlechtstypischer Gruppe und zwei Mathematiklehrerinnen (Sek. II), einem Linguisten und einem Amerikanisten als geschlechtsuntypischer Gruppe sind das Kernstück der Arbeit. Die Analyse, deren Inhalte hier nicht umfassend dargestellt werden können, kommt zu dem Ergebnis, dass die Mathematiklehrerinnen (im Unterschied zu den vorher untersuchten Diplom-Mathematikerinnen) nicht als geschlechtsuntypische Gruppe im engen Sinn gewertet werden können, da ihre Studienentscheidung stärker durch den frauentypischen Lehrberuf als durch Mathematik als Fach bedingt war. Bei den anderen sechs Analysen konnte ein Zusammenhang zwischen der biographischen Entwicklung und der Geschlechtstypizität aufgezeigt werden, wobei Unterschiede zwischen der sprachlichen und der naturwissenschaftlichen Gruppe festzustellen sind. Während die erstere eher aus Familien stammt, in denen intensive Gespräche und Diskussionen einen hohen Stellenwert haben, ist bei den Familien der naturwissenschaftlichen Gruppe das Gegenteil der Fall. Die Identifikation entweder mit dem gegen- oder dem gleichgeschlechtlichen Elternteil steht bei der Untersuchungsgruppe ebenfalls in Zusammenhang mit der Studienwahl und der beruflichen Zufriedenheit. Interessanterweise hat die Identifikation oder Ablehnung bei weiblichen und männlichen Personen unterschiedliche Auswirkungen. [5]
Kapitel 17 und 18 (S.282-312) vergleichen die Ergebnisse der Fallanalyse und fassen die Untersuchung zusammen. Abschließend formuliert die Autorin: "Die Geschlechtstypizität der Fächer entfaltet ihre Wirkung auf die Qualität der Interessengenese in erster Linie in dem Maße in dem geschlechtstypisierende Zuschreibungen individuell akzeptiert und im Kontext der adoleszenten Geschlechtsidentitätsentwicklung nicht in Frage gestellt werden." (S.312) [6]
3. Geschlechtstypik aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie
Die Untersuchung stellt durch die Verbindung von geschlechtstypischer bzw. -untypischer Studienfachentscheidung und adoleszenten Entwicklungsprozessen einen wichtigen Beitrag aus entwicklungspsychologischer Perspektive dar, Jugendalter und Geschlecht unter dem Blickwinkel der Entwicklung zu untersuchen. Die Wechselwirkungen v.a. von Strukturen, Interaktions- und Beziehungsformen der Herkunftsfamilie auf die Entwicklung von Selbstbild, Geschlechtsidentität und Interessensentwicklung der Untersuchten wird anhand der Fallanalysen plausibel aufgezeigt. Die Korrelation der Ergebnisse der Fallanalyse mit Ergebnissen der Längsschnittdaten stützen die Ergebnisse der Fallanalysen und markieren, wo sich Entwicklungslinien andeuten, die sowohl im Studium als auch über zehn Jahre nach Studienabschluss Einfluss haben. Kritisch anzumerken ist, dass die Arbeit auf den Modellen von ERIKSON, MARCIA und KOHLBERG aufbaut, ohne sich mit der auf die Diskussion des Identitätsbegriffs von KEUPP u.a. oder die Kritik an KOHLBERG aus der Perspektive der Frauenforschung (vgl. z.B. den Überblick bei BÖGER 1995, S.29-33) auseinander zu setzen. Da die Arbeit einer Forschungsfrage nachgeht, die in der (Entwicklungs-) Psychologie weitgehend unerforscht ist, wäre eine Bezugnahme auf die Diskussion von Sex, Gender und weiblicher Identität in den Sozialwissenschaften weiterführend (vgl. z.B. FLAAKE & KING 1992; FLAAKE 1998; FAULSTICH-WIELAND 1999), da m.E. der Begriff der Geschlechtstypik im Sinne eines zahlenmäßigen Faktums noch einmal zu hinterfragen ist. [7]
Böger, Claudia (1995). Erziehung und weibliche Identität. Zur Thematisierung der Geschlechterdifferenz in der pädagogischen Semantik. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Faulstich-Wieland, Hannelore (1999). Weibliche Sozialisation zwischen geschlechterstereotyper Einengung und geschlechterbezogender Identität. In Horst Scarbath, Heike Schlottau, Veronika Straub & Klaus Waldmann (Hrsg.), Geschlechter. Zur Kritik und Neubestimmung geschlechterbezogener Sozialisation und Bildung (S.47-62). Opladen: Leske + Budrich.
Flaake, Karin (1998). Weibliche Adoleszenz – Neue Möglichkeiten, alte Fallen? Widersprüche und Ambivalenzen in der Lebenssituation und den Orientierungen junger Frauen. In Mechtild Oechsle & Birgit Geissler (Hrsg.), Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis (S.43-65). Opladen: Leske + Budrich.
Flaake, Karin & King, Vera (1992). Psychosexuelle Entwicklung, Lebenssituation und Lebensentwürfe junger Frauen. In Karin Flaake & Vera King (Hrsg.), Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen (S.13-39). Frankfurt/M.: Campus.
Giesen, Heinz (Hrsg.) (1981). Vom Schüler zum Studenten. Bildungslebensläufe im Längsschnitt (Monographien zur Pädagogischen Psychologie. Bd. 7). München: Reinhardt.
Giesen, Heinz; Gold, Andreas; Hummer, Annelie & Jansen, Rainer (1986). Prognose des Studienerfolgs. Ergebnisse aus Längsschnittuntersuchungen. Frankfurt/M: Arbeitsgruppe Bildungslebensläufe.
Gisbert, Kerstin (1995). Frauenuntypische Bildungsbiographien: Diplom-Mathematikerinnen. Frankfurt/M: Lang.
Keupp, Heiner (1998). Diskursarena Identität: Lernprozesse in der Identitätsforschung. In Heiner Keupp & Renate Höfer (Hrsg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung (S.11-39) (2.Auflage). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Kohlberg, Lawrence (1979). Zusammenhänge zwischen der Moralentwicklung in der Kindheit und im Erwachsenenalter – neu interpretiert. In Paul B. Baltes unter Mitarbeit von Lutz Eckensberger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (S.81-122). Stuttgart: Klett-Cotta. Original erschienen 1973).
Kohlberg, Lawrence (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt/M: Suhrkamp (Original erschienen 1976).
Krapp, Andreas (1992). Das Interessenkonstrukt. Bestimmungsmerkmale der Interessenhandlung und des individuellen Interesses aus der Sicht einer Person-Gegenstands-Konzeption. In Andreas Krapp & Manfred Prenzel (Hrsg.), Interesse, Lernen, Leistung. Neuere Ansätze der pädagogisch psychologischen Interessenforschung (S.297-329). Münster: Aschendorff.
Trautner, Hanns Martin (1996). Geschlechtskategorien im Jugendalter. In Ruth Schumann-Hengstler & Hanns Martin Trautner (Hrsg.), Entwicklung im Jugendalter (S.165-187). Göttingen: Hogrefe.
Angela KAUPP, akademische Rätin an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Fachgebiet Religionspädagogik / Katechetik. Nach dem Studium der Pädagogik und Theologie über zehnjährige Berufstätigkeit in Schule, verbandlicher Jugendarbeit und Erwachsenenbildung in Würzburg und München. Seit 1998 wissenschaftliche Tätigkeit in Freiburg. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Biographie und Religiosität, Jugend, Religion und Gender. Von Angela KAUPP findet sich in FQS auch eine Rezension zu Adoleszenz, Identität, Erzählung.
Kontakt:
Angela Kaupp
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Theologische Fakultät
Arbeitsbereich Pädagogik und Katechetik
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Kaupp, Angela (2002). Rezension zu: Kristin Gisbert (2001). Geschlecht und Studienwahl. Biographische Analysen geschlechtstypischer und -untypischer Bildungswege [7 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(1), Art. 24, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0201247.
Revised 2/2007