Volume 2, No. 3, Art. 27 – September 2001
Rezension:
Alfons H. Teipen
Remi Hess & Christoph Wulf (1999) (Hrsg.). Grenzgänge. Über den Umgang mit dem Eigenen und dem Fremden (Europäische Bibliothek interkultureller Studien). Frankfurt/New York: Campus, 232 Seiten, ISBN 3-593-36138-8, DM 42.- / sFR 38.70 / öS 307.-
Zusammenfassung: Das hier vorliegende Buch befasst sich größtenteils mit Erfahrungen und Forschungsergebnissen aus mehr als zwei Jahrzehnten der Arbeit des Deutsch-Französischen Jugendwerkes (DFJW). In vielen Beiträgen wird Ewald BRASS, langjähriger Leiter verschiedener Referate des DFJW, geehrt. Das Buch enthält wertvolle Einsichten über und Vorschläge für interkulturelle Arbeit, weicht jedoch in vielerlei Hinsicht vom im Titel gestellten Thema ab.
Keywords: interkulturelle Forschung, interkulturelle Begegnung, Deutschland, Frankreich, DFJW, Erziehungswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
1. Allgemeine Bemerkungen
2. Einzelne Beiträge
3. Abschließende Bemerkungen
Herausgegeben von zwei Professoren der Erziehungswissenschaften, umfasst das Buch zwölf Beiträge, geschrieben aus unterschiedlichen Perspektiven von Vertretern aus der Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Philosophie, Soziologie sowie Psychologie. Viele der hier dargebotenen Beiträge bieten hilfreiche Vorschläge, wie pädagogische Arbeit im interkulturellen Bereich gelingen mag, und man findet im Buch allerhand einsichtsvolle Reflexionen über die Herausforderungen und Hoffnungen, die in einer von zunehmenden Globalisierungsprozessen charakterisierten Welt möglich sind; manche der Essays allerdings scheinen kaum in den breiteren Rahmen zu passen, den der Titel dieses Werkes erkennen lässt, nämlich der Frage nach geographischen und geistigen Grenzen angesichts immer mehr voranschreitender Globalisierungsprozesse und der möglichen Haltung gegenüber dem Fremden. [1]
Während eine kurze Bemerkung am Anfang des Buches darauf aufmerksam macht, dass die Veröffentlichung durch eine Unterstützung des Deutschen Französischen Jugendwerkes (DFJW) ermöglicht wurde und Ewald BRASS, dem langjährigen Leiter verschiedener Referate des DFJW (laut HESS anfangs im Referat IV - Forschung und Ausbildung; später im Referat VII - experimentelle Programme und pädagogische Untersuchungen), gewidmet ist, wird ansonsten weder im Titel noch im Untertitel darauf hingewiesen. So wird sich der Leser, der Kleingedrucktes am Buchanfang nicht mit der Lupe liest, zunächst heftig wundern, dass sich ein Buch mit solch allgemein gehaltenem Titel in großen Teilen mit Ewald BRASS und dem DFJW befasst. Allerdings erfährt man, außer einer Menge von sehr positiven, persönlichen Eindrücken der verschiedenen Autoren über BRASS, und kurzen, verstreuten Hinweisen über BRASS' Tätigkeit im DFJW von 1974 - 1996 sowie seiner chilenisch-deutsch-französischen Abstammung und einige seiner Forschungsideen, nicht allzuviel konkretes über den zu Ehrenden. Nicht einmal über die Frage, ob denn BRASS in seiner Karriere vom Referat IV zum Referat VII gewechselt habe (so HESS, S.92), oder ob Referat IV lediglich in Referat VII umbenannt wurde (so BARBIER, S.121) lässt sich durch die Lektüre des Buches einwandfrei beantworten. Die kurz gehaltene Einführung, keinem Autoren zugeordnet, aber wahrscheinlich von den Herausgebern verfasst, beinhaltet einen sehr knappen Versuch, die nachfolgenden zwölf Beiträge unter der allgemeinen Kategorie des Interkulturellen zu verbinden um der Sammlung eine gewisse Kohärenz zu geben. In solcher Kürze gelingt es allerdings nicht zu zeigen, wie denn diese verschiedenen Beiträge wirklich zu einem Gesamten zusammengehören. [2]
Der erste Beitrag von Christoph WULF führt in differenzierter und einfühlsamer Weise in den Problemkreis des "Anderen" ein und schlägt die Mimese als eine mögliche Herangehensweise der Annäherung zwischen Selbst und Anderem vor. In einem zweiten, kurzen Beitrag beleuchtet Klaus EDER den Interkulturalismus mit kritischem Blick als eine "Inszenierung von Gemeinsamkeit" (S.45) zwischen verschiedenen Kulturen, die auf die Verhinderung vom Krieg der Zivilisationen zielt. Während eine solche Inszenierung nicht unbedingt ein besseres Verstehen hervorbringt, so EDER, ist doch der Versuch von Kommunikation und Dialog nichtsdestotrotz wichtig, allein schon deshalb, damit die Teilnehmer zu einer höheren Sensibilität bezüglich der unüberbrückbaren Schwierigkeiten des Verstehens und zu einer weiteren reflektierten Haltung gebracht werden. [3]
Jacques DEMORGONs Essay resümiert über zwei Jahrzehnte Forschung in Zusammenarbeit mit dem DFJW und präsentiert in breitem Pinselstrich eine große Auswahl von Forschungsergebnissen, über deren Prozesse und Dialektik er theoretisiert. Als eine sehr wesentliche Erfahrung in seiner Auseinandersetzung mit interkultureller Beziehungen hebt DEMORGON "transduktive Beziehungen" hervor, die laut DEMORGON "[a]n die Stelle [eines] radikalen Schnittes zwischen der abgeschlossenen Identität und der Alterität ... die Einzigartigkeit der Begegnung" (S.71) hervorhebt und so einem reduktionistischen Gleichsein, aber auch einer trennenden Alterität entkommt. [4]
Remi HESS erinnert sich ebenfalls, mit manchmal nostalgisch erscheinendem Hauch, in einem eher langen Beitrag an seine Erfahrungen der Zusammenarbeit mit dem DFJW sowie Ewald BRASS; großen Teilen seines Beitrages wohnt der Geschmack des allzu autobiographischen bei und ist in Teilen nur entfernt mit dem gestellten Thema des Buches verwandt. So findet man in HESS' Beitrag zusammenhangslos aneinandergereihte Reminiszenzen über seine erste Begegnung mit Ewald BRASS, Reflektionen über HESS' familiäre Herkunft, eine große Anzahl von Namen, auf die der Autor im Laufe seiner Karriere gestoßen ist, gelegentliche Kurzbeschreibungen zu einzelnen Forschungsprojekten, einschließlich Angaben zur Fahrtkostenerstattung (!) und persönlichen Eindrücken zu einer Vielfalt von Themen, inklusive der deutschen Wiedervereinigung sowie Reflektionen zu HESS' Herausgebertätigkeit. Diesem Sammelsurium fehlt der rote Faden, gelegentliche Erinnerungslücken zu Einzelheiten (S.87) erschweren es dem Leser, HESS' Beitrag viel abzugewinnen. Michel BERNARDs Beitrag konzentriert sich ebenfalls auf Ewald BRASS und analysiert das Zusammenkommen verschiedener kultureller Erbschaften in BRASS' Persönlichkeit. BRASS' dreifache kulturelle Zugehörigkeit (chilenisch-deutsch-französisch) dient hier als Hintergrund, verschiedene "Paradoxien des Interkulturellen", also verschiedener coincidentia oppositorum, in der Persönlichkeit BRASS festzustellen und seine Arbeit so zu würdigen. [5]
Hans NICKLAS widmet sich der Frage nach möglichen Spannungen zwischen verschiedenen Zivilisationen, ausgehend von Samuel HUNTINGDONs Werk (1997). NICKLAS kommt allerdings zu einem sehr anderen Ergebnis: Aufbauend auf den Austro-Marxisten Otto BAUER (1907) umreißt NICKLAS einen Prozess der Globalisierung, der dennoch Raum lässt für nationale Besonderheiten. So favorisiert NICKLAS mit BAUER den Prozess der "Apperzeption" als eine Möglichkeit, die Aneignung fremder Kulturelemente besser zu verstehen: "... die fremden Elemente [werden] im Prozess der Aneignung verändert, modifiziert und im Sinne der eigenen Kultur umgeformt" (S.132). In einem sehr einsichtsvollen Essay übt René BARBIER Kritik an der "kleingeistige[n] Bildung" (S.135) und dem Sicherheitsdenken, das das Bildungssystem vieler Nationalstaaten plagt, und plädiert für eine umfassendere Bildung, getragen von Wachstumswerten wie Spontaneität, Intuition sowie Beziehungen. Solche Werte helfen, so BARBIER, um eine Identität zu entwickeln, die sich des "Seinsmangel[s]" (159) im Umgang mit dem Anderen kritisch bewusst ist, und sich selbst "wesentlich als ein prozeßhaftes und interaktives Ganzes" (S.160) versteht. [6]
Der Rahmen des im Titel verhießenen Themas wird von Jean-René LADMIRALs Beitrag zu verschiedenen Methoden der Übersetzung klassischer Texte gesprengt. Obwohl die Diskussion über verschiedene Herangehensweisen und Philosophien der Übersetzung höchst interessant ist (besonders in Anbetracht der Tatsache, dass der Beitrag selbst eine Übersetzung aus dem Französischen darstellt), passt es wohl nicht zu dem Thema des Buches, und beinhaltet auch keine Laudatio für Ewald BRASS. Mitnichten hat es den Anschein, als wenn der Beitrag ursprünglich an einen Kongress von Linguisten gerichtet gewesen sei, wie eine eigenartige, obskure Referenz über zukünftige Kongress-Niederschriften, zu denen dieser Beitrag sich wähnt, zu belegen scheint (S.174). [7]
Gunter GEBAUER präsentiert eine durchaus interessante Leseweise des "Kaufmann von Venedig" und menschlicher Verwundbarkeit; sein Beitrag berührt das Thema des Eigenen und Fremden jedoch nur tangential. Gabrielle VARRO und Djaffar LESBET bieten eine einsichtsvolle Kritik der Kategorie der "gemischten Familie" und plädieren gegen ein Privilegieren von nationaler Herkunft als determinierendes Kriterium für die Kategorisierung von Ehen. Ursula STUMMEYER stellt mögliche Brücken des Verstehens von Männer-Frauen-Verhältnissen und Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen heraus. Im Nebeneinanderstellen der Arbeit von Luce IRIGARAY (1989/1994) mit Ergebnissen aus post-kolonialen Studien stellt sie Ähnlichkeiten zwischen dem binären Verstehen von Geschlechterkategorien und Dominanzstrukturen der Kolonisation fest. Abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag, in dem Burkhard K. MÜLLER die Karriere von Ewald BRASS in einem Märchen rekapituliert. [8]
Während einige Beiträge deutlich außerhalb des Rahmens fallen, den der Titel dieses Buches vorschlägt, nämlich die Idee der Grenze sowie die Frage der nationalen oder ethnischen Identität angesichts nicht aufzuhaltender Globalisierungsprozesse, und wenn des weiteren die vielen Laudationes ad Ewald BRASS – verdient wie sie denn auch sein mögen – zum Teil stark vom eigentlichen Thema ablenken, so liefern doch viele der Beiträge dieses Buches einsichtsreiche Hilfestellungen zur interkulturellen Arbeit. Hilfreich ist zum Bespiel DEMORGONs Bemerkung, dass in interkulturellen Begegnungen Unverständnis oft allzu schnell weggewünscht wird; WULF liefert praktische Anregungen zu Erfahrungen des Fremden durch mimetisches Spielen; und BARBIERs fast buddhistisch angehauchtem Vorschlag der Meditation als Lösung gegen neurotisches Sicherheitsdenken wohnt nebst einer wohl eher fraglichen Erfolgsaussicht dennoch ein zweites Moment interkultureller Praxis inne, das in sich selbst an mimetisches Spiel erinnert. Ebenso gibt das Buch Zeugnis über die Wichtigkeit der theoretischen Reflexion in interkultureller Arbeit, so wie sie durch das DFJW und Ewald BRASS ermöglicht worden ist. Den Übersetzern, Hella BEISTER und Gabriele WEIGAND, die einige dieser Beiträge aus dem Französischen ins Deutsche übertragen haben, gilt ein besonderer Dank; ihre wichtige, danklose Arbeit ist im Buch nur am Rande erwähnt. Nur wenige Druckfehler sind im Buch enthalten. Wenn auch das Buch durch einige der soeben bemerkten Mängel nicht perfekt ist, so enthält es dennoch viele wertvolle Einsichten und Vorschläge für interkulturelle Praxis. [9]
Bauer, Otto (1907). Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Wien: I. Brand.
Huntington, Samuel P. (1993). "The Clash of Civilizations?", Foreign Affairs 72(3), 21-49.
Irigaray, Luce (1994). Thinking the difference: for a peaceful revolution. London: Routledge.(Orig. Le temps de la différence: pour une révolution pacifique. Paris: Libr. générale française, 1989).
Alfons H. TEIPEN unterrichtet Religionswissenschaften an der Furman University, Greenville, South Carolina. Er interessiert sich unter anderem für die frühe Geschichte des Islam, Frauen in den Religionen und für den interreligiösen Dialog.
Kontakt:
Alfons H. Teipen, Assistant Professor
Department of Religion
Furman University
3300 Poinsett Highway
Greenville, SC 29613, USA
E-Mail: alfons.teipen@furman.edu
Teipen, Alfons H. (2001). Rezension zu: Remi Hess & Christoph Wulf (1999) (Hrsg.). Grenzgänge. Über den Umgang mit dem Eigenen und dem Fremden [9 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(3), Art. 27, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0103272.
Revised 6/2008