Volume 2, No. 3, Art. 5 – September 2001

Rezension:

Tilmann Walter

Henning Bech (1997). When Men Meet. Homosexuality and Modernity. Cambridge: Polity Press, 314 Seiten, ISBN 0-7456-1420-5, £ 45.-

Zusammenfassung: Der dänische Soziologe Henning BECH beschreibt in einer lesenswerten Studie aus dem Jahr 1997 die Entstehung und Phänomenologie der "homosexuellen Existenzform". Im ausgehenden 19. Jahrhundert seien "Homosexuelle" als Avantgarde einer modernen urbanen Lebensform in Erscheinung getreten. Heute sei ihre Lebensform nicht mehr typisch für "Homosexuelle", da sie unter den Bedingungen der Spätmoderne "Homosexuelle" wie "Heterosexuelle" gleichermaßen betreffe. Unter den medialen Bedingungen der "Telestädte" habe sich der "Geschlechterkampf" in ein "Geschlechterspiel" verwandelt, wobei sich Männer (und Frauen) mittels einer "cultural wardrobe" inszenierten. Sexualität stehe dabei im Zentrum, weil sich Männlichkeit und Weiblichkeit heute nur noch so erleben ließen.

Keywords: Geschichte der Homosexualität(en), Phänomenologie der Geschlechterverhältnisse

Inhaltsverzeichnis

1. Ausgangspunkt

2. Queer-Theorie: Europa gegen die USA?

3. Phänomenologie homosexueller Lebensformen

4. Geschichtliche Ursprünge "des Homosexuellen"

5. "Homosexuelle" Lebensformen überall?

6. Vom modernen Geschlechterkampf zum postmodernen "Geschlechterspiel"?

7. Schlussbetrachtung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Ausgangspunkt

Als im ausgehenden 19. Jahrhundert Psychiatrie und Sexualwissenschaft die wissenschaftlichen Tatsachen eines "Dritten Geschlechts" und "sexueller Zwischenstufen" konstruierten, machten sich Sexologen auf die Suche nach entsprechend veranlagten Personen in der Geschichte der Menschheit. Kompendien "berühmter Homosexueller" erwähnten u.a. SOKRATES, MICHELANGELO, SHAKESPEARE und FRIEDRICH DEN GROSSEN (vgl. etwa MOLL 1910). Selbstverständlich für Unternehmen dieser Art war, dass ein biologisch-medizinischer Sachverhalt wie die angeborene Geschlechtsempfindung von Männern gegenüber Männern und Frauen gegenüber Frauen als ein körperlicher Zustand zu verstehen sei und von kulturellen Rahmenbedingungen nur marginal beeinflusst werden könne. Demgegenüber hat sich in den letzten Jahrzehnten in Anlehnung an Michel FOUCAULTs sexualgeschichtliche Arbeiten eine gegensätzliche Meinung durchgesetzt: Entscheidend seien – so der Tenor des Großteils jüngerer historischer Studien zur Geschichte von gender und queer – die kulturellen Formen, unter denen gleichgeschlechtliches Begehren geschichtlich in Erscheinung trete. [1]

Henning BECHs Monographie zur Entwicklung der homosexuellen "Existenzform" in der Moderne ist bereits 1997 in (stark überarbeiteter) englischer Fassung erschienen; der dänische Ausgangstext wurde bereits 1987 erstmalig publiziert. Dennoch hält es der Rezensent für angemessen, auf diese Publikation hinzuweisen, zumal einige wichtige Gedankengänge BECHs erst in jüngster Zeit deutlicher herausgearbeitet wurden (siehe hierzu BECH 2000). [2]

2. Queer-Theorie: Europa gegen die USA?

Die Arbeiten BECHs zur Sexualität und zu den Geschlechterverhältnissen in der (Spät-) Moderne transportieren eine starke These: Der Umgang mit den Sexualitäten in den USA sei gegenüber Europa (und namentlich dem Heimatland des Autors, Dänemark) rückschrittlich. So betrachtet, sei die in Europa verbreitete Praxis, angloamerikanische gender- und queer-Theorien zu importieren, kontraproduktiv, weil mit ihnen missverständliche politische Positionen auf europäische Kontexte angewendet würden, die in ihren realen politischen Verhältnissen viel weiter entwickelt seien (vgl. dazu vor allem die Ausführungen BECHs 1997 im Interview mit Gunter SCHMIDT). Symptomatisch für dieses Missverhältnis sei der Umstand, dass die US-amerikanische queer-Diskussion noch immer dazu tendiere, die prinzipielle Andersartigkeit der gays und lesbians zu betonen. Dies sei nur als Folge des Umstands erklärbar, dass die religiöse Rechte in den USA noch immer die traditionelle Familie als Bollwerk gegen die Moderne verteidige – ein Diskurs, dem in Europa nur noch marginale Bedeutung zukomme (S.204f.). Hier sei die Gleichberechtigung Homosexueller im Rechtsleben und im Alltag so weit fortgeschritten, hätten sich "heterosexuelle" und "homosexuelle" Lebensformen so weit angenähert, dass nun damit zu rechnen sei, dass "der/die Homosexuelle" als Typus bald verschwinden werde (so auch die These LAUTMANNs 1993, S.33-35). Die Tatsache, dass ein Mann einen Mann oder eine Frau eine Frau sexuell begehre, stehe nicht mehr für einen grundsätzlichen Lebensentwurf, sondern tendiere – in etwa analog zu der Entscheidung, auf den Fleischverzehr zu verzichten – dazu, zu einer bloßen Geschmacksfrage zu werden (S.208f.). [3]

3. Phänomenologie homosexueller Lebensformen

BECH nennt den "constructionism" als "major theoretical background" seines Buches (S.2), verweist aber darüber hinaus auf die "Cultural Studies", den symbolischen Interaktionismus, Historischen Materialismus, Existentialismus und die Phänomenologie, die Dialektik und die kritische Theorie als Einflüsse (S.4). Insgesamt ist eine recht minutiöse Phänomenologie des (schwulen) Alltagslebens, die mit viel Sprachwitz für symptomatisch gehaltene Erscheinungen schlaglichtartig hervorhebt, kennzeichnend für den Stil der Studie. [4]

Der Verweis auf Erscheinungsformen homosexuellen Begehrens aus Geschichte und Ethnologie bestätigt für BECH die These, dass, was so unterschiedliche Erscheinungsformen aufweist, nur schwerlich biologisch determiniert sein kann (S.10-16). Auch die im 20. Jahrhundert unternommenen Versuche, homosexuelles Verhalten zu erforschen (Surveys à la KINSEY, Prison Studies und die Psychoanalyse), ergäben kein einheitliches Bild. Die Frage, ob "der/die Homosexuelle" durch die Biologie oder durch Einflüsse der Kindheit zu dem gemacht werde, was er oder sie ist, sei deshalb noch immer offen (S.26). [5]

Eher kommt man nach BECH mit einer sozialen Phänomenologie näher heran an die eigentlich interessante Frage, was homosexuelle Lebensformen auszeichnet: So sei etwa (heterosexuellen) Sportereignissen und (schwulen) Sex-Saunen gemeinsam, dass sie "male spaces" sind (S.44) und "a social relation" zwischen Männern etablieren (S.51, Herv. im Orig.). Wie die Männlichkeit dabei in Erscheinung trete (schwul oder hetero), worauf das männliche Begehren gerichtet sei oder wie sich ein Mann durch sein Äußeres und sein soziales Auftreten stilisiere, seien Entscheidungen, "doubtless made for the most part already in childhood, even in early childhood" (S.53). [6]

Doch seien Homosexualität und homosexuelle Lebensformen nicht nur explizit innerhalb der schwulen Subkultur, sondern implizit auch überall dort präsent, wo sie nicht offen zutage treten. Dies versucht BECH, anhand typisch "heterosexueller" Filme zu zeigen:

"Homosexuality can be shown camouflaged, or it can be shown blatantly, but then only clearly separated (that is as 'homosexuals') or clearly denied. it is pulled out only to be conjured away, thrown up, put down, kicked out, led away or blown off" (S.65, Herv. Im Orig.). [7]

Umgekehrt mag die Verleugnung und Ablehnung des Schwulseins – so BECH weiter – "sometimes be an integral part of the erotics of homosexuality" (S.69, Herv. im Orig.)- [8]

4. Geschichtliche Ursprünge "des Homosexuellen"

Seine These, wonach die "schwule" Existenzform anfänglich als Avantgarde moderner Lebensweise entstanden sei, inzwischen aber für Homosexuelle wie Heterosexuelle gemeinsam gültig sei, versucht BECH durch einen Blick auf die Genese "des Homosexuellen" (oder in der Sprache der Zeitgenossen vor 1900: des "Urnings" oder "Konträrsexuellen") näher zu belegen (S.85-159): Dem "Konträr-" oder "Homosexuellen" seien durch Selbst- und Fremdzuschreibungen von Anfang an bestimmte Merkmale zugesprochen worden, so galten Depressionen als typisch für seinen Charakter (S.87). Sein emotionales Anderssein verwies in der Sichtweise zeitgenössischer Betroffenen und Experten auf einen nucleus seiner Persönlichkeit, die die frühe Schwulenbewegung als eine "weibliche Seele im männlichen Körper" oder als ein "drittes Geschlecht" gedeutet hat (so ULRICHS 1864/1994 bzw. HIRSCHFELD 1904). Im Kontext der zeittypischen Degenerationsängste an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hielt man das Leben des Homosexuellen deshalb für eine unausweichliche Tragödie, seine Existenz erschien als eine Gefahr für Rasse und Gesellschaft (BECH, S.89; hierzu vgl. etwa MAGNAN 1893, KRAFFT-EBING 1912). [9]

Von zentraler Bedeutung war die unbewusste Verbrüderung mit der Medizin und den Naturwissenschaften, aber auch mit dem repressiven Apparat der Polizei, die den Betroffenen Wege eines positiven wie negativen Stigma-Managements aufgezeigt hätten (S.101f.). Gemeinsam war den Umgehensweisen mit Homosexuellen, mögen sie ausschließlich repressiv oder paternalistisch-therapeutisch gewesen sein, stets der Glaube an deren Identischsein und deren Geschichtslosigkeit (S.103). Wie diese Gründe auch immer aussehen mochten: eine klare Ursache ihres Zustandes wurde stets als vorhanden unterstellt (S.104). [10]

5. "Homosexuelle" Lebensformen überall?

Die seelische Unruhe, die die Psychiater den homosexuellen Seelen damals zugeschrieben haben (S.94-97), sei inzwischen aber kennzeichnend für die moderne Lebensform überhaupt geworden: "The homosexual, then, is close to the uneasiness that clings to modern existence in general: the impossibility of becoming one with what one is, the compulsation constantly to play a part" (S.97). Formen der homosexuellen Praxis, ihre sexuellen Signale, die "Anmache" und die freiwillige subkulturelle Vergesellschaftung seien nicht die Folgen ihres eigentümlichen körperlich-seelischen Zustandes gewesen, sondern entsprächen der sozialen Lebensform in den Großstädten, an der Schwule frühzeitiger als andere Männer teilhatten (S.111). Hier sei also nicht etwa unbewusst ein "Ersatz" für fehlende Familienkontakte gesucht worden, sondern so sei den Herausforderungen des urbanen Lebens begegnet worden. [11]

Soziale fixe Geschlechterrollen, so BECH weiter, verschwänden unter den Bedingungen des urbanen Lebens in der Moderne, kulturell stilisierte und noch dazu: immens sexualisierte "Geschlechterspiele" nähmen dagegen an Bedeutung zu: Nicht nur für Homosexuelle, sondern auch für Heterosexuelle existiere inzwischen längst kein "prison of marriage" mehr, sondern diverse (Frei-) Räume, um ihre Beziehungen, ihre Intimität und Sexualität auszuleben (S.141). Für die psycho- und soziosexuellen Verhältnisse sei demzufolge nicht mehr der investigative "Wille zum Wissen" (Michel FOUCAULT), also die Entschlüsselung des ureigensten Kerns einer Persönlichkeit ausschlaggebend, wie sie die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts und ihrem Gefolge die Psychoanalyse angestrebt hätten. (Die wissenschaftliche Analyse des Selbst durch Psychiatrie und Philosophie wurde auch FOUCAULT 1993 zufolge innerhalb der Psychopathia sexualis und der Tiefenpsychologie anhand des typischen Falls "des Homosexuellen" entwickelt; hierzu vgl. BECH, S.197.) Heutzutage enthülle der phänomenologische Blick nur noch Oberflächen (S.164–171) – mehr noch: In der Spätmoderne seien die Selbste sogar nur noch im Plural denkbar, denn man erkenne mindestens: 1. ein "inneres", psychisches, 2. ein "sensitives", 3. ein "leeres", nicht mehr aber ein "echtes Selbst" unter der Oberfläche (S.165). [12]

Tatsächlich hätten Homosexuelle der ihnen oft zugeschrieben Rolle einer kulturellen Avantgarde insofern entsprochen, als sie eine Avantgarde dieser Oberfläche waren, die inzwischen längst Homosexuelle wie Heterosexuelle gleichermaßen umfasst (S.180). So bewege man sich heute auf ein "Disappearance of the Modern Homosexual" zu (S.194-217), denn traditionelle Lebensformen in Ehen und Familien verschwänden zugunsten des Lebens in der Stadt: "Thus, what was 'specifically homosexual' disappears, in that the universal becomes just like it" (S.196). Die Theorien von der Homosexualität als feststehender Persönlichkeitstypus oder als psychische Krankheit würden bedeutungslos oder sie beträfen eben jeden in gleichem Maße (S.198). [13]

Die Folge sei eine "huge de-dramatization" der Homosexuellen-Frage als solcher (S.209). An ihre Stelle sei eine "cultural wardrobe" der Männlichkeitsstile getreten (S.214-216), in der sich die Frage von Essentialismus vs. Konstruktivismus bezüglich gender und queer in ein Nichts auflöst: "It's impossible to ascertain exactly where culture stops and nature begins in this masculinity, and perhaps it isn't so interesting" (S.215). Damit biete sich heute die Chance einer selbstbestimmten "Ästhetik der Existenz" im Sinne FOUCAULTs: "The more the surfaces are detached and become autonomous, the more the roles are severed from nature, the more accessible they become for staging and pleasure, the more they can be treated as surfaces, as roles, as images" (S.216f., Herv. im Orig.). Sein Schlagwort von der "Emancipation from masculinity to masculinity" (S.217, Herv. im Orig.) stellt BECH damit gegen ein Authentizitätsmodell, wie es FREUD vertreten hat, aber auch gegen billige, übermässig sexualisierten Bilder zeitgenössischer Pornographie und Werbeästhetik. [14]

6. Vom modernen Geschlechterkampf zum postmodernen "Geschlechterspiel"?

BECH entgeht in "When Men Meet" bisweilen nicht der Gefahr, homosoziale und homosexuelle Lebensformen fälschlich identisch zu setzen. Dem mit dieser sozialen Praxis näher Vertrauten mag dies z.B. an seiner Interpretation des Bodybuildings (S.49f.) auffallen. Während BECH hier nur Interaktionen von Mann zu Mann sieht, bleibt unbeachtet, dass in Fitnessstudios üblicherweise Frauen auch dann eine Rolle spielen, wenn sie nicht körperlich anwesend sind. Das Verhältnis der eigenen physischen Attraktivität zur Attraktivität von Frauen bestimmt – wenigstens unter "heterosexuellen" Bodybuildern – deren emotionales Verhältnis zueinander: In Erscheinung treten Gefühle von Konkurrenz oder Neid. [15]

Wichtig ist es deshalb zu betonen, dass BECH es vermeidet, analog zur Frauenforschung der 70er und 80er Jahre Komplexität und Relationalität der Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf ein Verhältnis von Freund und Feind, Täter und Opfer zu verkürzen. In seinem Aufsatz "Gendertopia" (BECH 2000) hat er – in selbstgewählter Abgrenzung vom "Anglofeminismus" – betont, der Geschlechterkampf sei längst zu einem ästhetisierten und sexualisierten "Geschlechterspiel" geworden. Soziale Räume und Positionen von Mann und Frau folgten nicht mehr einer abstrakten Logik wie der "des Patriarchats" oder "des Kapitals", sondern würden tendenziell gleichberechtigt verteilt. Sie eigneten sich damit nicht mehr zur Bestätigung des eigenen Geschlechts – dafür verbleibe nur noch der Akt der Penetration. Insofern erkläre sich die sexuelle Aufladung heutiger Geschlechterspiele: Ihr kultureller Überbau sei jedoch " – in letzter Instanz (!) – bestimmt durch die materiale Basis. Er kann nur Formen annehmen, die der Basis – also den Geschlechtsorganen und Sexualakten, die der männliche Körper besitzt bzw. ausführt – entsprechen oder zumindest nicht widersprechen" (a.a.O., S.217) [16]

Die Sexualisierung des öffentlichen Lebens wird somit als Folge der mangelnden Möglichkeiten, sich geschlechtlicher Identität auf andere Weise zu versichern, erklärt, und andererseits reize das Spiel das ihm zugrunde liegende Bedürfnis – Sexualität – stets von Neuem an. In extremer Form finde man dies in den neuen Medien, den Foren der "Telecity", vorgeführt (a.a.O., S.229ff). Insofern befinde sich der US-amerikanische "Cyber-Feminismus", mit dem versucht wird, einen freiheitlicheren Typus der Geschlechter im virtuellen Raum des Internet zu entwerfen, auf dem richtigen Weg. Falsch sei es aber zu glauben, erst am Ende der Utopie entstünde dabei Freiheit. Diese ist für BECH im urbanen Leben der Städte und Telestädte längst ausreichend gegeben. Selbst der extreme Gegenpol heterosexueller Männlichkeit, die Penetration des Mannes, stelle empirisch kein absolutes Tabu mehr dar:

"Das Geficktwerden von einem anderen Mann war früher das, was jeder 'richtige' Mann zurückweisen musste, um sich als richtiger Mann zu konstituieren. Im Rahmen des postmodernen Genderspiels degeneriert das Geficktwerden allerdings zu einer weiteren Lustmöglichkeit, die man mal ausprobieren kann." (a.a.O, S.237) [17]

7. Schlussbetrachtung

Vieles innerhalb BECHs Ausführungen scheint dem Rezensenten durchaus richtig gesehen. Dies betrifft z.B. die Betonung der andersartigen soziosexuellen Verhältnisse in Europa gegenüber den USA, wo die fehlende juristische Gleichstellung offen homosexuell lebender Menschen noch immer zu medienwirksam inszenierten Kulturkämpfen Anlass gibt (man denke etwa an Bill CLINTONs zu Beginn seiner ersten Amtszeit als US-Präsident gescheiterten Versuch, Homosexuelle offiziell zum Dienst in den Streitkräften zuzulassen, die Debatte um ein "Schwulen-Gen" Mitte der 1990er oder die simple Tatsache, dass gesetzliche Verbote homosexuellen Verkehrs unter Männern in einigen US-Bundesstaaten noch existieren und von gay-Aktivisten bekämpft werden). In einigen Ländern Nordeuropas (und Dänemark mag hier in der Tat als besonders hervorstechendes Beispiel dienen) scheint dies nicht mehr in diesem Maße der Fall zu sein. Antidiskriminierungsgesetze sollen gleichgeschlechtlich Liebende vor beruflicher Benachteiligung schützen und "Schwulen-Ehen" stehen, wo sie noch nicht gesetzlich eingeführt wurden, auf der politischen Agenda der Volksparteien. [18]

"Politisch" zu sein, impliziert für schwul/lesbische AktivistInnen in diesem Fall also weniger eine kulturelle Stilisierung zu etwas "ganz Besonderem" als die mehr affirmative Überzeugung, in seiner Eigenständigkeit im Rahmen einer pluralistischen Zivilgesellschaft für "ganz normal" gelten zu können: In allerjüngster Zeit stellt es auch hierzulande offenbar keinen Skandal mehr dar, wenn sich der SPD-Bürgermeisterkandidat für die deutsche Hauptstadt als "schwul" outet. Auch die Selbstdarstellung einer sexualisierten Lebensweise kann anhand des allabendlichen Angebots privater Fernsehsender kaum mehr hervorstechen. So nehmen sich die sommerlichen "Christopher Street Days" nur noch als (ein wenig schrillere) Varianten der in der heißen Jahreszeit endemisch gewordenen und allenthalben öffentlich mit (ökonomischem) Wohlgefallen bis milder (ökologischer) Kritik betrachteten Technospektakel aus. [19]

Kritisch bliebe dagegen zu fragen, ob sich der wissenschaftliche Blick damit begnügen kann, dieses Spiel mit Oberflächen unter Bedingungen der "Spaßgesellschaft" für das zu nehmen, als das es sich selbst aus gibt. Wäre es demgegenüber nicht auch eine epistemisch sinnvolle Aufgabe zu fragen, was wohl unter der Oberfläche vor sich geht? Ist z.B. eine Pluralität der Identitäten etwas, womit ein Mensch tatsächlich leben kann? Oder bestehen nicht weiterhin echte psychische Bedürfnisse danach, sich selbst und seine (selbstgewählten) Grenzen definieren zu können? Der phänomenologische Blick hat in BECHs Lesart etwas durchaus Gewinnendes, spricht sich BECH doch dafür aus, das Drama der Intimität, der Sexualität und der Selbstfindung weniger dramatisch zu nehmen. Angesichts des Ausmaßes, mit dem in einer medialisierten Welt körperliche und sexuelle Attraktivität von Männern und Frauen betont wird, wie es heute üblich ist, scheint es aber zynisch, die emotionalen Kosten derjenigen zu leugnen, die darin nicht konkurrenzfähig sind. Denn auch die "Spaßgesellschaft" kennt ihre sozialen Verlierer: diejenigen, die am Spaß weniger teilhaben (können). [20]

Literatur

Bech, Henning (1997). When Men Meet [Interview mit Gunter Schmidt]. Zeitschrift für Sexualforschung 10, 354-361.

Bech, Henning (2000). Gendertopia. Briefe von h. Zeitschrift für Sexualforschung 13, 212-242.

Foucault, Michel (1983). Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hirschfeld, Magnus (1904). Berlins drittes Geschlecht (Großstadt-Dokumente, Bd. 3; 4.Aufl.). Berlin: Seemann.

Krafft-Ebing, Richard von (1912). Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Eine medizinisch-gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen (14.Aufl.). Stuttgart: Enke.

Lautmann, Rüdiger (1993). "Homosexualität? Die Liebe zum eigenen Geschlecht in der modernen Konstruktion. In Helmut Puff (Hrsg.), Lust, Angst und Provokation. Homosexualität in der Gesellschaft (S.15–37). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Magnan, Valentin (1893): Ueber conträre Sexualempfindung und andere geschlechtliche Abweichungen. In ders., Psychiatrische Vorlesungen (Deutsch von P.J. Möbius, IV/V. Heft: Ueber die Geistesstörungen der Entarteten (Fortsetzung), über das intermittirende Irrensein u.A, 33-45). Leipzig Thieme.

Moll, Albert (1910). Berühmte Homosexuelle (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens, Bd. 75). Wiesbaden: Bergmann.

Ulrichs, Karl Heinrich (1864/1994). Vindex. Social-juristische Studien über mannmännliche Geschlechtsliebe. Erste Schrift über mannmännliche Liebe. Nachweis, I. daß sie ebensowenig Verfolgung verdient, als die Liebe zu Weibern; II. daß sie schon nach bestehenden Gesetzen Deutschland's nicht verfolgt werden kann (1864), Nachdruck in ders., Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe (Bibliothek Rosa Winkel, Bd. 7). Berlin: Rosa Winkel.

Zum Autor

Tilmann WALTER, Studium der Geschichte und der Germanistik in Heidelberg; 1997 Promotion in Germanistik über "Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland" (Berlin/New York: de Gruyter 1998); derzeit Forschungsassistent am Sonderforschungsbereich 511 "Literatur und Anthropologie" an der Universität Konstanz; Arbeitsschwerpunkte: Historische Anthropologie, Wissenschaftsgeschichte, Geschichte der Sexualität; in FQS 2(2) finden sich weitere Rezension von Tilmann Walter zu Literarische Imagologie und historische Anthropologie der Haut und Körperbewegungen und ihre Bedeutungen.

Kontakt:

Dr. phil. Tilmann Walter

Universität Konstanz
FG Geschichte – Fach D11
D-78457 Konstanz

E-Mail: Tilmann.Walter@uni-konstanz.de

Zitation

Walter, Tilmann (2001). Rezension zu: Henning Bech (1997). When Men Meet. Homosexualiy and Modernity [20 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(3), Art. 5, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs010352.

Revised 6/2008

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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