Volume 2, No. 3, Art. 1 – September 2001
Rezension:
Martin Wysterski
Christiane Hackl (2001). Fernsehen im Lebenslauf – Eine medienbiographische Studie. Konstanz: UVK, 398 Seiten, ISBN 3-89669-264-X, DM 45.-
Zusammenfassung: Wie entwickelt sich das Sehverhalten des Fernsehzuschauers im Laufe seines Lebens? Dieser interessanten Fragestellung, die sich positiv von den allseits bekannten Untersuchungsansätzen in der Fernsehnutzungsforschung abhebt, geht Christiane HACKL in ihrer Studie "Fernsehen im Lebenslauf" nach. Mit Hilfe von Leitfadeninterviews befragt sie insgesamt 96 Personen in München und Leipzig zu ihren Fernsehgewohnheiten, ihrem sozialen Umfeld und ihrer Freizeitgestaltung. Die Anwendung des medienbiographischen Ansatzes ermöglicht der Autorin die Gewinnung detaillierter und interessanter Ergebnisse. Die Befunde der Studie zeigen, das Fernsehnutzung ein komplexes Phänomen ist, das von einer Reihe von Einflussfaktoren wie die Persönlichkeit, biographische Einflüsse, die Erziehung der Eltern, der Lebenspartner sowie die familiäre Fernsehsituation bestimmt wird und als individuelles, medienbezogenes, soziales Handeln verstanden wird. Insgesamt erhält der Leser eine umfassende Einführung in das Thema Medienbiographie und eine kurzweilige Lektüre.
Keywords: Medienbiographie, Fernsehnutzung, Lebenslauf, Biographische Forschung, Vielseher, Wenigseher, Qualitative Methoden, Leitfadeninterviews
Inhaltsverzeichnis
1. Untersuchung zur Fernsehnutzung mal anders
2. Die wichtigsten Befunde der Studie
3. Fazit
1. Untersuchung zur Fernsehnutzung mal anders
Wer kennt sie nicht, die zahlreichen Studien zum Thema Fernsehnutzung. Begriffe wie Prime-Time, Zapping oder Einschaltquote sind ihnen immanent, und sie geben einen guten Überblick über den Umgang der Nutzer mit dem Medium. Christiane HACKL wählt in ihrer Untersuchung "Fernsehen im Lebenslauf" einen anderen Ansatz: Sie bedient sich der Methode des Leitfadeninterviews (vgl. u.a. KOHLI 1978, WITTKOWSKI 1994), deren Daten sie mittels qualitativer Inhaltsanalyse (MAYRING 1993) auswertet, und versucht auf diesem Wege herauszufinden, wie sich bestimmte Fernsehgewohnheiten im Leben entwickeln, ob sie ein Leben lang beibehalten werden und welche Faktoren einen Einfluss auf diese Entwicklung haben können. [1]
Die medienbiographische Forschung, wie sie hier von Christiane HACKL angewandt wird, fand Anfang der 80er Jahre zum ersten mal ihre Erwähnung in der Kommunikationswissenschaft. Zu diesem Zeitpunkt setzte eine Diskussion ein, wie man die biographische Forschung mit dieser Fachdisziplin verknüpfen könnte. Unter biographischer Forschung versteht man "alle Forschungsansätze und -wege der Sozialwissenschaften, die als Datengrundlage [...] Lebensgeschichten haben, erzählte bzw. berichtete Darstellungen der Lebensführung und der Lebenserfahrung aus dem Blickwinkel desjenigen, der sein Leben lebt" (FUCHS 1984, S.9). [2]
Innerhalb dieser Diskussion, auf die im Rahmen dieser Rezension nicht näher eingegangen werden soll, wurde auch einige Kritik an der medienbiographischen Methode laut. Ungeachtet dessen bietet sich die medienbiographische Forschung – als Teilbereich der biographischen Forschung – an, um die Rolle der Medien im Leben zu erfassen. [3]
Im Rahmen der Studie von Christiane HACKL wurden 96 Personen aus München und Leipzig mittels Leitfaden zu ihrem Leben befragt. Von Interesse waren hierbei alle Lebensphasen wie Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter bzw. Berufsphase und Ruhestand. Inhaltlich ging es u.a. um das soziale Umfeld, die Freizeitgestaltung und natürlich die Mediennutzung. Das Sample der Befragten wurde mit Hilfe eines Quotenplans hinsichtlich Alter, Geschlecht sowie Wohnort zusammengestellt. Die Interviewer befragten Menschen aus ihrem Umfeld, jedoch keine nahen Verwandten. [4]
2. Die wichtigsten Befunde der Studie
Es würde hier zu weit führen, alle differenzierten Ergebnisse der Studie ausführlich darzustellen. Stattdessen sei auf einige Ergebnisse hingewiesen, die besonders interessant erscheinen und die außerdem den Weg für weitere Forschungen im Bereich der Medienbiographie weisen können. [5]
Die Auswertung bzw. die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in zwei Teilen. Des besseren Verständnisses wegen werden im ersten Teil die deskriptiven Ergebnisse aus den vier untersuchten Lebensphasen in Bezug auf die für die Forschungsfragen wichtigen Variablen Wohnort, (Nicht-) Fernsehgeneration und Geschlecht dargestellt. Hier geht insbesondere um Veränderungen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten. So zeigen die Ergebnisse z.B., dass sich das Leben in Ost und West zwar grundlegend unterschied, die Kindheit allerdings von den Personen aus München und Leipzig rückblickend als sehr ähnlich dargestellt wird. Dies gilt sowohl für die Freizeit und für den Alltag als auch für die Fernsehnutzung. [6]
Deutliche Unterschiede zeigen sich dahingegen zwischen Fernseh- und Nichtfernsehgeneration: Während die Fernsehgeneration einen zwanglosen Umgang mit dem Medium pflegt und somit das Fernsehen zum Alltagsmedium wird, ist das Fernsehen für die Nichtfernsehgeneration immer noch etwas Besonderes. In dieser Generation werden eher Regeln zur Fernsehnutzung aufgestellt und bestimmte Rituale gepflegt. So trifft sich die Familie z.B. um 20.15 Uhr vor dem Fernseher, um die Tagesschau zu sehen, oder man schaut nur gezielt eine bestimmte Serie und schaltet das Gerät danach wieder ab. [7]
Unterschiede zwischen Frauen und Männern zeigen sich insbesondere in der Jugendphase. Weibliche Jugendliche setzen ihre Schwerpunkte verstärkt in die Freizeit. Vor diesem Hintergrund schauen sie gezielter Fernsehen und nutzen häufiger eine Programmzeitschrift zur Auswahl als die männlichen Jugendlichen. [8]
Während im ersten Teil nur sehr wenige konkrete Zitate aus den Leitfadeninterviews verwendet werden sieht dies im zweiten Teil – der Feinanalyse – anders aus: Hier werden insgesamt 31 befragte Personen herausgegriffen und komplexe Profile erstellt. Die Auswahl der Personen richtete sich nach der Detailgenauigkeit und der Aussagekraft der Interviews. Die Analysen befassen sich mit den Themen Kindheit (fast) ohne Fernsehen, dem Partner, dem Leistungssport, dem Viel- und Wenigsehen sowie dem Ruhestand als Einflussfaktoren auf das Fernsehverhalten bzw. die Freizeitgestaltung. Die Auswahl der verschiedenen Variablen erfolgte nach der Durchführung und Transkription der Leitfadeninterviews. Ihnen liegt die größte Einflussmöglichkeit zugrunde. [9]
Doch wie entwickelt sich nun ein bestimmtes Rezipientenverhalten, wie z.B. ein Wenig- oder ein Vielseher? Die Ergebnisse zeigen, dass die eigene Persönlichkeit, biographische Einflüsse, die Erziehung der Eltern, der Lebenspartner oder auch die familiäre Fernsehsituation eine sehr große Rolle für das individuelle Rezipientenverhalten spielen. So verfallen einige Wenigseher immer wieder in extreme Vielseherphasen und sprechen vom Fernsehen als Droge. Dabei leben sie in einem intakten sozialen Umfeld und sind überdurchschnittlich gebildet. Aufgrund des hohen Leidensdrucks während dieser Vielseherphasen entscheiden sie sich oft, ganz auf diesem Medium zu verzichten. [10]
Die Studie gibt auch Antworten darauf, wie es eigentlich zum Viel- oder Wenigsehen kommt. Bei der Personengruppe der Vielseher lassen sich vor allem zwei Gründe finden, die zu dem hohen Fernsehkonsum führen: Zum einen übt das Fernsehen schon früh (in der Kindheit) eine große und für die Betroffenen nicht zu erklärende Faszination aus, zum anderen kann ein bestimmter Auslöser ausgemacht werden. Dieser kann sowohl TV-spezifisch (etwa eine Lieblingsserie, ein Star) als auch TV-unspezifisch (z.B. eine berufliche Veränderung) sein. Insgesamt wird Fernsehen von den Vielsehern, die sonst jedoch kaum irgendwelche Gemeinsamkeiten haben, als angenehm empfunden. Wenigseher hingegen fallen als starke Persönlichkeiten auf, die sich in ihrem Leben feste Prioritäten gesetzt haben. So sind die z.B. sehr naturverbunden oder pflegen ein zeitintensives Hobby. Für sie ist das Zusammensein mit anderen Menschen wichtiger als Fernsehen. [11]
Einen entscheidenden Einfluss auf das spätere Fernsehverhalten haben allerdings auch Eltern. So geben einige Befragte an, in der Kindheit ein unangenehmes Gefühl beim Fernsehen gehabt zu haben, da der Vater immer "diktiert" habe, was gesehen wurde. Außerdem durfte man nicht reden und musste still im dunklen Wohnzimmer sitzen. Personen, die in ihrer Kindheit über keinen Fernseher verfügten, weil die Eltern Fernsehen verboten oder selbst kein Gerät besaßen, verfallen im späteren Leben insbesondere in schwierigen Lebenssituationen schnell in extreme Vielseherphasen. Bei all diesen Ergebnissen fanden sich im übrigens keine Ost-West-Unterschiede. [12]
Mit den hier referierten Befunde deutet sich an, welch komplexes Phänomen Fernsehnutzung eigentlich ist und dass es von einer Reihe von Einflussfaktoren bestimmt wird. Dies sind u.a. die Persönlichkeit, biographische Einflüsse, die Erziehung der Eltern, der Lebenspartner sowie die familiäre Fernsehsituation. Gerade bei Wenig- und Durchschnittssehern lassen sich biographische Parallelen aufzeigen, die zur Erklärung des Rezeptionsmusters führen. Weiterhin wird in der Studie aufgezeigt, dass Geselligkeit und Gewohnheit auch in der Mediennutzung mit zunehmendem Alter immer wichtiger wurden. Das Phänomen des Mitredens spielt dahingegen in allen Lebensphasen eine gleichgewichtige Rolle. Insgesamt wurde der Umgang mit dem Medium Fernsehen als individuelles, medienbezogenes und zugleich soziales Handeln verstanden, das sich durch Alltagserfahrungen und erworbenem Wissen bedingt. [13]
Wer Interesse an den Ergebnissen einer Studie hat, die sich aus dem überaus interessanten Blickwinkel der Biographieforschung mit dem Thema Fernsehnutzung beschäftigt, dem sei das Buch wärmstens empfohlen. Es bietet viele detaillierte Ergebnisse und Informationen über den Zusammenhang von Fernsehen und Biographie. Doch nicht nur das. Neben dem umfangreichen Ergebnisteil erhält der Leser auch eine Einführung in den Bereich der (medien-) biographischen Forschung sowie einen Überblick über die Fernsehzuschauerforschung in Ost und West. Das Buch eignet sich ebenso als Ausgangspunkt zur Literaturrecherche in den behandelten Themengebieten (insbesondere im Bezug zu qualitativer Forschung). Kurzum, ein rundherum gelungenes Werk. [14]
Fuchs, Werner (1984). Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Hickethier, Knut (1982). Medienbiographien. Bausteine für eine Rezeptionsgeschichte. Medien + Erziehung, 4, 206-215.
Kohli, Martin (1978). "Offenes" und "geschlossenes" Interview: Neue Argumente zu einer alten Kontroverse. Soziale Welt, 1, 1-25.
Mayring, Philipp (1993). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken (4. erw. Auflage). Weinheim: Beltz.
Wittkowski, Joachim (1994). Das Interview in der Psychologie. Interviewtechnik und Codierung von Interviewmaterial. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Martin WYSTERSKI; Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der FU Berlin. Mitarbeiter bei verschiedenen Markt-, Meinungs- und Medienforschungsinstituten (GÖFAK, forsa, MediaFutura, ComCult Research). Derzeit tätig als Junior-Analyst bei der Berlecon Research GmbH in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Medienwirkungsforschung, Markt- und Meinungsforschung, Internet, TV-Forschung, Online-Marketing, E-Commerce.
Kontakt:
Martin Wysterski
Schopenhauerstr. 20
D-14612 Falkensee
E-Mail: mwys@online.de
URL: http://www.mwys.de
Wysterski, Martin (2001). Rezension zu: Christiane Hackl (2001). Fernsehen im Lebenslauf – Eine medienbiographische Studie [14 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(3), Art. 1, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs010319.
Revised 3/2007