Volume 2, No. 2, Art. 20 – Mai 2001

Rezension:

Dietmar Janetzko

Winfried Marotzki, Dorothee M. Meister & Jörg Sander (Hrsg.) (2000). Zum Bildungswert des Internet. Bildungsräume digitaler Welten. Opladen: Leske + Budrich, 390 Seiten, ISBN 3-8100-2685-9, DM 54.- DM / sFr 49.- / öS 394.-

Inhaltsverzeichnis

1. Bildung via Netz

2. Die Beiträge des Buches

3. Konstitution eines Forschungsfeldes

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Bildung via Netz

Macht uns das Internet klüger? Erlangen wir durch seine Nutzung mehr Kenntnisse und Fertigkeiten oder eine bessere Ausbildung als über andere Methoden der Aneignung von Bildungsinhalten? Wer profitiert warum von möglichen Bildungseffekten des Internet, und wer bleibt davon ausgeschlossen? Anfänglich nur von zahlreichen universitären oder auch betrieblichen Pilotprojekten getragen, zieht das Lernen via Netz mittlerweile die Aufmerksamkeit aller Bildungsinstitutionen auf sich. Längst schon hat sich die Debatte um die Bildung im Internet in zahlreiche, mitunter nur schwer wechselseitig anschlussfähige Diskurse verzweigt. Ein von Winfried MAROTZKI (Magdeburg), Dorothee M. MEISTER (Halle) und Uwe SANDER (Rostock) herausgegebener Band führt 16 Beiträge zur Debatte über die Bildung im, mit dem oder über das Internet zusammen. [1]

Das Buch ist als Band 1 der bei Leske + Budrich (Opladen) erscheinenden Reihe "Bildungsräume digitaler Welten" angekündigt. Nicht ohne List ist der Titel des vorliegenden Bandes "Zum Bildungswert des Internet" gewählt, denn die damit aufgeworfene Frage dürfte ein gemeinsames Anliegen von Kritikern und mitunter auch von Befürwortern des Lernens und Lehrens via Internet sein. [2]

2. Die Beiträge des Buches

Das Spektrum der Beiträge ist weit gespannt und reicht von Erfahrungsberichten über Online-Seminare bis hin zur Erörterung der Chancen für politische Öffentlichkeiten im Internet. Die Herausgeber haben die Beiträge des Buches drei Teilen zugeordnet, denen sie die Zwischenüberschriften "Allgemeine Perspektiven", "Das Internet als Lern- und Sozialisationsraum" sowie "Das Internet als Kommunikations-, Partizipations- und Kulturraum" gegeben haben. [3]

Mike SANDBOTHE (Jena) sieht mit dem Internet den wichtigsten Bezugspunkt einer neuen globalen Lebensform, in der sich die sozialen Folgelasten einer gleichfalls globalen Wirtschaft nur dann lösen lassen werden, wenn es gelingt, an Traditionen der Aufklärung anzuknüpfen. Von solchen alteuropäischen Traditionen zunächst losgekoppelt ist der Beitrag von Norbert MEDER (Bielefeld), der das Internet als semantischen Raum gleichsam kartographieren möchte, um auf dieser Grundlage dann doch wieder gut aufklärerisch, weil humboldtianisch den Bildungsbegriff für das Internet als Bestimmung eines dreifachen Verhältnisses (zur Welt, zur Gesellschaft und zu sich selbst) zu konkretisieren. [4]

So geradlinig mag Gunnar HANSEN das Thema der Lernens im Internet nicht angehen und plädiert statt dessen dafür, zunächst die "Wechselwirkungen zwischen dem Auftreten von kulturellen Modernisierungen, dem Eindringen in die Alltagskultur und der Entwicklung und Gebrauchnahme neuer Medientechnologien" (S.59) zu sondieren. Seine Formel von einer "Pädagogik der Schnittstelle von Virtualität und Realität" (S.80), der er keck das Beiwort "konkret" voranstellt, ist typisch für einen Stil, der über die Aneinanderkettung von buzz words zu neuen Einsichten vorzudringen beabsichtigt. In die andere, empirisch geerdete Richtung schlägt dagegen das Pendel mit der Arbeit von Claudia ORTHMANN und Ludwig J. ISSING (Berlin). Ihre Untersuchungen führen sie zu der Empfehlung, das Internet vor allem in der Kombination mit anderen, herkömmlichen Medien zu nutzen. Ähnlich theorieabstinent fällt der Beitrag von Werner SACHER (Erlangen-Nürnberg) aus, der von einer Auflistung der Eigenschaften des Internet zu einem Katalog von Informationsmanagement-Fertigkeiten fortschreitet, die zu vermitteln Aufgabe der Schule von morgen sei. [5]

Den Blick auf die gesellschaftlichen Randbedingungen des vierten Bildungsbereichs, d.h. der Weiterbildung und Erwachsenenbildung, lenken Dorothee M. MEISTER (Halle-Wittenberg) und Uwe SANDER (Rostock). Ihre Beschreibungen der gegenwärtigen Situation in der Weiter- und Erwachsenenbildung, die sich zunehmend ausdifferenziert, aber auch durch Zunahme von Lernorten und -anlässen ausfranst und von einem globalen Markt überwölbt zu werden beginnt, steht in einem merkwürdigen Missverhältnis zur Schlichtheit ihrer abschließenden Schlussfolgerung, in der die Bedeutsamkeit von Lernarrangements und Lernräumen mit didaktischem Wert in Erinnerung gerufen wird. Keine Scheu vor großen Themen hat Bernhard KORING (Chemnitz). Ihn beschäftigen die Fragen, was das Internet, was die "Aufgaben der Pädagogik – allgemein betrachtet" und was Information und Bildung eigentlich ist. In der "strategischen Schlussbetrachtung" wird die zunehmende Kommerzialisierung des Internet beklagt, der eine demokratische, kulturorientierte Nutzung entgegenzustellen sei. Wohl nirgendwo in dem Buch ist die Ohnmacht bloßen Sollens besser mit Händen zu greifen als in diesem Beitrag. Davon kann bei Otto PETERS (Hagen) keine Rede sein. Er beleuchtet die didaktischen Potentiale des Lernens im Internet, unterscheidet die dem Medium Internet angemessenen Formen des Lernens und bewertet die Chancen ihrer Nutzung. [6]

Claus J. TULLY (München) weist darauf hin, dass Bildung im Internet auf vielfältige Weise, auch auf spielerische Weise angeeignet werden kann. Warum dieser Hinweis auf das informelle Lernen allerdings auf Jugendliche beschränkt bleibt, ist nicht nachvollziehbar. Mit Befremden dürfte jede und jeder Lesende die Ansprüche auf ein medienpädagogisches Wächteramt registrieren, die TULLY mit zahlreichen moralingesättigten Formulierungen anmeldet. Dass sich Gerald A. STRAKA (Bremen) mit dem "selbstgesteuerten Lernen" eines der zentralen Konstrukte in der Diskussion zum Online-Lernen zum Gegenstand seiner Analyse gewählt hat, macht seinen Beitrag zu einem der wichtigsten des Bandes. Wie STRAKA nachweist, kann die Bedeutung dieser Größe für die Beziehung von Lernendem und Gegenstand kaum überschätzt werden. Das von ihm bereits in anderen Arbeiten entwickelte Modell selbstgesteuerten Lernens macht dieses Konstrukt diskutabel und eröffnet empirische Untersuchungsperspektiven. [7]

Dem Projekt einer erziehungswissenschaftlichen Internetkritik gilt das Interesse von Winfried MAROTZKI (Magdeburg). Netzkritik frage nach den gestalterischen Optionen des Internet und schließe zugleich an die Ideologiekritik an, wie sie in den 70er Jahren in der emanzipatorischen Pädagogik entwickelt wurde. Dass das Internet ein Kulturraum mit zahlreichen Gruppierungen und ihren je eigenen Praxen, Traditionen und eingeschliffenen Erwartungshaltungen ist, beschreibt Burkhard SCHÄFFER (Magdeburg). Sein Beitrag lenkt die Aufmerksamkeit auf die Effekte, die auf Bildungsinstitutionen zukommen, die sich mit dem Online-Lernen auch auf Praktiken der Internetkultur einlassen. Das Internet in seiner möglichen Funktion als Forum politischer Öffentlichkeit untersucht Walter BAUER (Magdeburg). Frei von den in diesem Zusammenhang häufig transportierten verfallstheoretischen oder aber euphorischen Allgemeinplätzen vermittelt sein Beitrag eine Fülle von Einsichten über Formen virtueller Vergesellschaftung im Internet (z.B. Vernetzung von Experten- und Laien-Öffentlichkeit). [8]

Dass das Internet auch für Kinder und Jugendliche ("Screenager") ein Unterhaltungs-, Bildungs- und Interaktionsmedium ist, liegt auf der Hand. Eva SCHÄFER (Magdeburg) arbeitet anhand einer Fallstudie einige der Bildungseffekte heraus, die sich für diese Gruppe durch den Zwang zur aktiven Suche im Internet und der kritischen Beurteilung der Informationsqualität ergeben. Birgit RICHARD (Frankfurt am Main) untersucht in ihrem Beitrag Jugendkulturen im Internet und richtet ihr Augenmerk insbesondere auf Selbstdarstellungen und Stilbilder, Kommunikations- und Organisationsformen von Frauen und Mädchen. Detaillierten Materialstudien ("Die Frauenkleidung entwickelt nur in der Ausformulierung des girlie look ein eigenständiges Stilbild, es gibt keine Form für die Raverin"; S.353) steht leider eine Zurückhaltung bei deren theoretischer Aufarbeitung gegenüber. Das gilt erfreulicherweise nicht für Waldemar VOGELSANG (Trier), der das Internet in seiner Sogwirkung als Lebens- und Erlebnisraum untersucht. Seine Studien zur Abenteuersuche in medialen Kunstwelten mündet in eine theoretische Erörterung der Materialfunde. Die Einstufung der medialen Gebrauchsstile als inkorporiertes kulturelles Kapital (im Anschluss an BOURDIEU 1982) muss man nicht teilen, sie erlaubt aber zumindest eine Kontroverse mit der Chance auf eine alternative theoretische Verortung der dingfest gemachten Phänomene. [9]

3. Konstitution eines Forschungsfeldes

Die Beiträge in ihrer Gesamtheit bieten das Bild eines Forschungsfeldes im Aufbruch. Gemeinsamkeiten bei branchenüblichen Allgemeinplätzen sind groß. Beispielweise muss offenbar bei potentiellen Lesern die Gefahr, Information mit Wissen zu verwechseln, immens sein, denn zahlreiche Autoren warnen eindringlich und nicht selten mit schulmeisterlichem Gestus ("Also aufgepasst") davor. Wie Wissen statt Informationen im Internet vermittelt wird, ist eine Frage, die die gleiche leidenschaftliche Zuwendung verdient hätte. Dagegen sind Gemeinsamkeiten bei den theoretischen Orientierungen selten. Schulen, etablierte Modelle, Kontroversen, eigene Forschungsmethoden oder -standards? Fehlanzeige! Wissenschaftliches Arbeiten auf diesem neuen Gebiet konstituiert sich offenbar vornehmlich über die allen Akteuren eigene Überzeugung, dass das Online-Lernen in rasendem Tempo auf dem Vormarsch ist. Die Folge ist, dass zahlreiche Beiträge immer wieder aufs Neue als Gründungsakte en miniature eines neuen Forschungsfeldes angelegt sind. Was ist das Internet? Was ist Bildung? Was sind Chancen und Risiken des Lernens im Netz? – Dies sind nur einige der Fragen, auf deren refrainartige Wiederkehr sich Lesende einzustellen haben. Outsourcing, Spezialisierung, Arbeitsteilung haben sich hier noch nicht durchgesetzt. Dabei muss bei der Beforschung des Lernens im Netz das Rad nicht immer wieder neu erfunden werden. Lichtblicke gibt es immer da, wo (wie etwa bei PETERS, STRAKA oder MAROTZKI) die Anbindung von Fragen des Online-Lernens an Theorien, Kontroversen oder Methoden und Modelle der Pädagogik bzw. Psychologie gelingt. [10]

Fruchtbare Perspektiven weisen die Herausgeber selbst auf. Ihre Leitmetapher der "Räume", die ja auch der geplanten Buchreihe insgesamt gegeben werden soll, dient ihnen dazu, einzelne Parzellen auf dem Gebiet der Bildung in der digitalen Welt (Lern-, Sozialisations-, Kommunikations-, Partizipations- und Kulturraum) abzustecken. Ähnlich wie Bildung vor dem digitalen Zeitalter auf Gelegenheiten und Räume angewiesen sei, müsse auch die Bildung via Internet auf nunmehr vermehrt virtuell verfasste "Räume" bezogen werden. Im Detail ist ihr "Bildungswert" häufig schwer aufzuzeigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Blick sich auf virtuelle Räume richtet, die (wie Diskussionsforen im Internet) nicht von vornherein als Lehr-Lern-Setting entworfen sind. Nicht unähnlich der Diffusion von Bildungsprozessen in der "realen Welt", wo ja auch nicht nur in Schulen und Universitäten, sondern auch in Bürgerinitiativen und Parteien Bildung vermittelt wird, sind Bildungsprozesse in der virtuellen Welt vielleicht noch häufiger losgelöst von organisierten Lehr-Lern-Settings. Gut funktionierende Maillinglisten, die häufig gleichermaßen in Diskussionskulturen einüben und Wissensbestände vermitteln, geben eine Idee davon, wo Bildungsprozesse im Internet zu verorten sind. [11]

Die Beiträge in dem von MAROTZKI, MEISTER und SANDER herausgegebenen Band geben zweifelsohne die Vielfalt der Debatte zum Lernen im Internet wieder. Beim Lesen der Beiträge wird man allerdings den Eindruck nicht los, dass die Herausgeber den zentrifugalen Tendenzen des Themas nur wenig Widerstand entgegengesetzt haben. So intuitiv eingängig die eingangs vorgeschlagene Gliederung des Gegenstandsbereichs anhand der Raummetapher zunächst erscheinen mag, sie bleibt letztlich zu metaphorisch und zu vage, um hier weiterzuhelfen. Einmal beherzt nachgefragt – zum Beispiel nach Unterschieden zwischen Kommunikations- und Kulturraum – und die vordergründige Plausibilität ist dahin. Es macht eben doch einen Unterschied, ob man den Bildungswert an einer innerbetrieblichen internetgestützten Bildungsmaßnahme festmacht oder aber, ob man eine neue Wissenskluft durch das Internet bei Menschen ohne Internetanschluss ("digital homeless") untersucht. Ohne methodische Rasterungen, die dem Eigensinn des Lernens via Internet Rechnung tragen und zugleich anschlussfähig sind an einschlägige Debatten in der Erwachsenenbildung und Pädagogik, wie etwa dem Konstruktivismus, bleibt nur ein wortreiches Staunen über die summende, blühende Vielfalt der Phänomene, die uns das Lernen im Netz der Netze beschert. [12]

Literatur

Bourdieu, Pierre (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. Suhrkamp.

Zum Autor

Dr. Dietmar JANETZKO

Kontakt:

Dr. Dietmar Janetzko

Institut für Informatik und Gesellschaft
Abteilung Kognitionswissenschaft
Friedrichstr. 50
D-79098 Freiburg i. Br.

Tel.: +49 (0) 761 / 203 4948
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E-Mail: dietmar@cognition.iig.uni-freiburg.de
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Zitation

Janetzko, Dietmar (2001). Rezension zu: Winfried Marotzki, Dorothee M. Meister & Jörg Sander (Hrsg.) (2000). Zum Bildungswert des Internet. Bildungsräume digitaler Welten [12 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 20, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0102200.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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