Volume 2, No. 2, Art. 21 – Mai 2001

Rezension:

Andrea Stöckl

Nils Zurawski (2000). Virtuelle Ethnizität. Studien zu Identität, Kultur und Internet (Soziologie und Anthropologie – Bd. 11). Frankfurt/M.: Peter Lang, 283 Seiten, ISBN: 3-631-35769-9, DM 84.-

Inhaltsverzeichnis

1. Das Internet als sozialwissenschaftliches Thema

2. Generelle Problematik

2.1 Der Begriff der Ethnizität

2.2 Selbstorganisation, Internet und Ethnizität

3. Schlussbetrachtungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Das Internet als sozialwissenschaftliches Thema

ZURAWSKIs Buch ist eines der ersten, das sich aus sozialanthropologischer Sicht mit der Sozialität des Internets beschäftigt. Ein Blick auf die "Scientific Community", die sich mit Cyberspace beschäftigt, zeigt, dass es in den letzten zehn Jahren sehr viele Publikationen gab, die aus einer poststrukturalistischen Sicht Narrative der "Entkörperung" (MURRAY & SIXSMITH 1999), der "posthuman entities" (HAYLES 1999) und der "network society" (CASTELLS 1996) behandeln. So wichtig diese teils philosophisch, teils spekulativ angehauchten Publikationen auch waren, die Zeit für empirische Studien zur Nutzung des Internets scheint mehr als überfällig. ZURAWSKIs Buch ist somit ein erster und wichtiger Beitrag. [1]

Es erscheint als ein Paradoxon, dass das Internet Grenzen aufzulösen scheint, jedoch zur gleichen Zeit entweder neue Grenzen schafft oder alte Grenzen neu inszeniert und reifiziert. ZURAWSKIS Forschung ist ein Beitrag zu dieser Veränderung der sozialen Ordnung. Er zeigt dies am Beispiel der Ethnizität, eine der sozialen Kategorien neben Gender, Rasse und Nationalität im globalen Kontext. Er bemerkt gleich am Anfang des Buches, dass Ethnizität und Internet eines gemeinsam teilen: sie sind die "entgegengesetzten Pole einer weltgesellschaftlichen Verfassung – fragmentierend auf der einen Seite, global vereinigend auf der anderen" (S.6). Er löst diesen Widerspruch im Laufe des Buches auf, indem er zu einer Theorie der Selbstorganisation von Ethnizität durch das Internet kommt. Das Medium erlaubt die Reifikation, sozusagen. Doch bevor ich zum Schlusswort des Buches komme, möchte ich die einzelnen Kapitel genauer besprechen. [2]

2. Generelle Problematik

ZURAWSKI weist am Anfang des Buches auf die Problematik der Linearität hin, die sich jeder Ethnographie stellt. Wie schreibt man einen linearen Bericht eines selbstreferenziellen Phänomens? Bücher lassen sich leider noch nicht als Hyperlinks schreiben, und dies wird besonders augenfällig, wenn es um ein Studium dieses Phänomens geht. Das Buch ist in zwei Teile geteilt: der erste Teil beschäftigt sich mit Ethnizität, der zweite mit dem Internet. In der Conclusio kommt der Autor dann nicht zu einem Schluss, sondern schlägt vielmehr ein Modell vor, wie sich Ethnizität und Internet zueinander verhalten. [3]

2.1 Der Begriff der Ethnizität

Im ersten Kapitel des ersten Teiles führt uns ZURAWSKI ein in die anthropologische Debatte um Rasse und Ethnizität. Ethnizität lässt sich nicht ohne den Begriff "Rasse" erklären, so die Hypothese, er ist sozusagen eine logische Folge dessen. Rasse ist primordial mit körperlichen Merkmalen verbunden, der Begriff der Ethnizität ist dazu da, eine Gemeinschaft, eine kollektive Identität herauszubilden. Der Begriff der Rasse ist verbunden mit einem Diskurs der Dominanz und Ausbeutung, und Ethnizität war sozusagen der Begriff, der Zugehörigkeit zu einer "Rasse" signalisierte, aber nicht die mitschwingende negative Konnotation von "Rasse" beinhaltete. [4]

In den folgenden Kapiteln bespricht der Autor die Herkunft des Begriffes, mit Max WEBER beginnend, der "Ethnie" mit Kultur und Habitus in Verbindung brachte, zu BARTH, der sich auf die prozessuale Veränderung ethnischer Gruppen und nicht auf deren Substanz konzentrierte. In den darauffolgenden Kapiteln führt uns der Autor tiefer ein in die Konzeptualisierung und Wandlung des Begriffs, indem er mehr als soziale Konstruktion gesehen wird, und letztendlich als "Imagined Community", wobei er auch immer wieder den Zusammenhang zwischen Ethnizität und Nationalität hervorhebt. Besonders gut kommt dabei das Verhältnis von "Idee" – also Ethnizität – und ihrer Reifikation – also Nation – zum Ausdruck. ZURAWSKIs Beobachtung ist, dass Ethnizität nach wie vor eine "starke Ressource zur Abgrenzung, Selbstorganisation oder Kategorisierung" darstellt (S.85). Um diese Fragestellung genauer zu beleuchten, führt er die philosophisch-anthropologischen Theorien René GIRARDs ein, die Differenz, Gewalt und Ursprung als Eckpfeiler menschlicher Gesellschaft beschreiben. "Differenz" sieht ZURAWSKI dabei als offensichtlichsten dieser Punkte, Differenz, die, so GIRARD, durch eine Krise, eine Entdifferenzierung, eine Opferkultkrise, und die Konstruktion eines Sündenbockes hergestellt wird. Differenz ist somit das, was eine Gruppe von einer anderen unterscheidet. Der Prozess der Differenzierung und Etablierung des "Eigenen" und des "Anderen" erfolgt laut GIRARD immer nach den gleichen Stereotypen der Verfolgung. ZURAWSKI erwähnt zurecht, dass GIRARDs Sündenbocktheorie als ein Thema und nicht als strukturierendes Prinzip gesehen und verwendet wird. [5]

Im 6. Kapitel, das gleichzeitig das letzte des ersten Teils des Buches ist, führt der Autor sein Argument der Selbstorganisation von Ethnizität zu Ende. Er schreibt: "Girards mimetic machine mit all ihren Implikationen stellt dabei vornehmlich eine der Grundlagen bereit, auf deren Basis Ethnizität als Selbstorganisation funktionieren kann" (S.101). Die mimetic machine ist ein archetypischer Mechanismus, der kollektive Gewalt und die Funktion von Sündenböcken erklärt. Wie also bringt ZURAWSKI die mimetic machine und die Selbstorganisation zusammen? Er macht dies, indem er das Medium des Internets mit seinen selbstorganisatorischen Eigenschaften in die Diskussion einbringt. Sein Argument wird nun von zwei Seiten gesehen interessant: Die Implikationen des neuen Mediums, das "gewissermaßen als Ergebnis und Motor gegenwärtiger (Welt-) gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen werden kann" (a.a.O.), wirkt sozusagen auch selbstorganisatorisch auf die Formierung von neuen sozialen Gruppen. Das selbstorganisatorische Prinzip wirkt auf zwei Arten: einerseits ist "Ethnizität" selbstorganisiert, weil sie nicht eine "unveränderliche natürliche Größe" bezeichnet, sondern eine "Kollektivität, deren Zusammenhang nicht auf staatliche Steuerung angewiesen ist" (S.102), und zweitens findet sie sich im Internet gewissermaßen selber. [6]

2.2 Selbstorganisation, Internet und Ethnizität

Im zweiten Teil des Buches nun kommt ZURAWSKI im Detail zu sprechen auf das Internet. Er erläutert im ersten Kapitel dieses zweiten Teiles seine empirische Methode, die aus einem Online-Fragebogen bestand. Gleichzeitig bettet er die Erläuterung der Fragestellungen kritisch ein in einen Diskurs um eine Globalisierung der Lebenswelten, der innerhalb der Sozialwissenschaften und der Philosophie geführt wird. Zu Recht stellt er an den Anfang seiner Ausführungen, dass die Propagierung einer neuen Globalkultur, ja einer Annäherung von Identitäten weltweit, gefährlich ist: "Mit den Narrativen der einen globalen Welt, die nur noch die Identität des Weltbürgers kennen, können und werden sehr oft die eigentlichen Ursachen und Hintergründe von Konflikten und sie tragende Bewegungen ignoriert" (S.113). [7]

Kommen wir jetzt aber zurück zur Gestaltung des Online-Fragebogens. ZURAWSKIs grundlegende Frage war, ob Ethnizität auch weiterhin ein Prinzip der Selbstorganisation und kollektiver Identität von Gruppen bleibt, wenn man sozusagen ein globalisiertes Medium zur Verfügung hat, das diese Prozesse verändert. Die Fragestellung dabei war, ob es einen Zusammenhang zwischen kultureller Identität und Nutzung des Internets gibt. 61 Multiple-choice-Fragen wurden gestellt und 17 offene Fragen. 120 Personen beantworteten den Fragebogen, die 23 verschiedene Länder als Residenz angaben. 24 Nationalitäten wurden genannt, aber es gab 40 Nennungen für eine ethnische Gruppe. Diese Diskrepanz ist für ZURAWSKI der Ausgangspunkt, um zu einer theoretischen Diskussion um "Narrative des Informationszeitalters: Internet und Cyberspace" zurückzukehren. Hier geht es nun um die Frage, welche Utopien und Mythen generiert werden, da das Internet, wie ZURAWSKI sagt, eine Reihe von Eigenschaften hat, die in den herkömmlichen Medientechnologien fehlen. Der Leser wird nun in die Diskussionen um "Communities" im Cyberspace eingeführt, die mit Howard RHEINGOLD, der immer wieder auf Benedict ANDERSONs "imagined communities" zurückgreift, 1991 begonnen hat. Fünf Stränge lassen sich in diesem Scientific Community-Narrativ laut ZURAWSKI ausmachen: einer ist die Annahme, dass die herkömmliche soziale Ordnung zerfällt und das Internet eine Möglichkeit zur neuen sozialen Verortung bietet (RHEINGOLD); die zweite Annahme ist, dass Cyberspace die vollkommene und egalitäre Verbreitung von Information zulässt; eine dritte Annahme ist, dass die neue Technologie ein Heilsbringer ist, die den Menschen ungeahnte Freiheiten bringt (Bill GATES und diverse Politiker); die vierte ist, dass es für die Teilnehmer eine Möglichkeit gibt, sich im Netz sozusagen neu zu erfinden, dies aber eher zu einem "Technologie als Alptraum"-Narrativ führt (William GIBSON), und die fünfte Variante ist die Ablehnung der Technologie, da sie den "rasenden Stillstand" (Paul VIRILIO) hervorbringt. [8]

In den darauffolgenden Kapiteln erläutert der Autor diese Standpunkte noch genauer und geht auch noch einmal auf die selbstorganisatorischen Elemente des Internets ein, denen zufolge das Internet den LUHMANNschen Ansatz "einer Weltgesellschaft, die auf die Kommunikation aller mit allen jenseits regionaler und nationaler Grenzen ausgerichtet ist sowie eine Vernetzung und weltweite Interaktion ermöglicht" erfüllt (S.160). Im achten Kapitel wird die Frage beleuchtet, inwiefern Ethnizität bei der Nutzung des Internets eine Rolle spielt und auf welche kulturellen und ethnischen Identitäten als Ressource zurückgegriffen wird. Mit der Entwicklung des Begriffs "Virtuelle Ethnizität" wird auch beigetragen zu einer Flexibilisierung des Begriffes "Ethnizität" und gleichzeitig berücksichtigt, dass "angenommene" oder konstruierte Identitäten auch auf die "reale" Welt einen verändernden Einfluss haben. [9]

ZURAWSKI weist im Schlusskapitel darauf hin, dass der experimentelle Charakter der Untersuchung sich einer "griffigen Formel sowohl für den Begriff der Ethnizität als auch für das Konzept der Virtuellen Ethnizität" verweigert (S.239). Er stellt daher zwei Modelle vor, die keine Definitionen vorgeben, sondern die Dynamik der beiden Prozesse – Reifikation von Ethnizität und Nutzung und Entwicklung des Internets – beschreiben sollen. Im ersten Modell will er den prozessualen Charakter von Ethnizität verdeutlichen, die, so schlägt er vor, aus vier Faktoren besteht: Kultur und Sprache als erster Faktor, Selbstbeschreibung als zweiter, persönliche Erfahrung als dritter, und Fremdbeschreibung als vierter Faktor. Diese werden durch transformative Prozesse wie Migration zu einer "neuen" Ethnizität organisiert. Das zweite Modell beschreibt die "Virtuelle Ethnizität", die davon ausgeht, dass Ethnizität auf Homepages dargestellt und im E-Mail-Austausch erzeugt wird. Ethnizität wird in diesem Modell mehr als Ressource zur Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen von sozioökonomischer Ausgrenzung verstanden. Die Prozesse, "die innerhalb der VE [Virtuelle Ethnizität; A.S.] beschrieben wurden, haben direkte Auswirkungen auf die Dynamik, wie sie innerhalb des ersten Modells dargestellt wurden", so ZURAWSKI im Schlusswort (S.241). Dies ist auch sozusagen seine grundlegende Folgerung, die aus der empirischen Arbeit ersichtlich wurde. [10]

3. Schlussbetrachtungen

ZURAWSKIs Studie stellt zweifelsohne eine neue, innovative und kreative Form der sozialanthropologischen Ethnographie dar. Wie viele neuartige Studien, ist sie theoretisch sehr gut abgesichert, was das Buch fast zu einer Enzyklopädie macht. Von dem nicht-anthropologischen Leser kann dies jedoch eventuell als Theorieüberlastung empfunden werden. Der innovative Ansatz und die offene Art, in der ZURAWSKI schreibt, und auch die Tatsache, dass er mit einem Modell, und nicht mit einer Antwort, die Arbeit beschließt, mag auch für einige Leser ungewöhnlich scheinen, ich denke jedoch, dass im gegenwärtigen Moment, in dem sich das Internet noch als neue Form der Kommunikation etabliert, nur ein Modell erstellt und nicht eine Antwort gegeben werden kann. ZURAWSKIs Beitrag ist somit ein aus meiner Sicht sehr willkommener, der auch neue Wege und Bedeutungen der Sozialanthropologie in einer sich wandelnden Welt darstellt. [11]

Literatur

Castells, Manuel (1996). The Network Society. Informational Age. Oxford: Blackwell.

Hayles, N. Katherine (1999). How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature and Informatics. Chicago & London: The University of Chicago Press.

Murray, Craig & Sixsmith, Judith (1999). The Corporeal Body in Virtual Reality. Ethos 27(3), 315-343.

Zur Autorin

Andrea STÖCKL, Dissertantin am Department of Social Anthropology, University of Cambridge, Great Britain. Ihre Forschungsschwerpunkt liegt in der Anthropologie der Wissenschaft, der Medizin und auf alten und neuen Technologien und Medien, ihrer kulturellen Erzeugung und gesellschaftlicher Rückwirkung.

Kontakt:

Andrea Stöckl

Department of Social Anthropology
Free School Lane
University of Cambridge
GB-Cambridge CB3 OBU

E-Mail: as305@cam.ac.uk

Zitation

Stöckl, Andrea (2001). Rezension zu: Nils Zurawski (2000). Virtuelle Ethnizität. Studien zu Identität, Kultur und Internet [11 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 21, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0102210.

Revised 3/2007

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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