Volume 2, No. 2, Art. 22 – Mai 2001
Rezension:
Martin Welker
Klaus Beck, Peter Glotz & Gregor Vogelsang (2000). Die Zukunft des Internet: internationale Delphi-Befragung zur Entwicklung der Online-Kommunikation. Konstanz: UVK Medien, 206 Seiten, ISBN 3-89669-287-9, DM 48.-
Inhaltsverzeichnis
1. Quantitativer und qualitativer Methoden-Mix
2. Cybersex spannend, aber unterbelichtet
3. Mut zur langfristigen Prognose
4. Delphi-Befragungen in Deutschland
1. Quantitativer und qualitativer Methoden-Mix
In 2000, zu einem Zeitpunkt großer öffentlicher Begeisterung für das Artefakt Internet, haben Klaus BECK, Peter GLOTZ und Gregor VOGELSANG einen rund 200 Seiten umfassenden Band zur "Zukunft des Internet" vorgelegt. Der Titel des Buches ist dabei gleichzeitig eine Unter- und eine Übertreibung: Eine Untertreibung, weil im Text langfristige Prognosen zur Medien- und Kommunikationsentwicklung einer modernen Informationsgesellschaft insgesamt dokumentiert und kommentiert werden: Die Zukunft des Internet beeinflusst auch die Entwicklung der klassischen Massenmedien. Eine Übertreibung, weil das Internet und die Online-Kommunikation mehr Facetten aufweisen als die hier diskutierten – gesellschaftlich gewiss relevanten – fünf Bereiche: Information, Unterhaltung und Spiele / virtuelle Beziehungen und Cybersex / Electronic Commerce / Arbeitswelt / Lehren und Lernen. Nicht angesprochen werden beispielsweise die Möglichkeiten politischer Partizipation über das Internet, die Umgestaltung des öffentlichen Sektors durch neue Kommunikationstechniken oder auch die ganz eigene Sphäre der technischen Weiterentwicklung des Internet. Der Aussage der Autoren, mit den oben genannten fünf Bereichen die wichtigsten Felder der zukünftigen Informationsgesellschaft abgedeckt zu haben, ist allerdings zuzustimmen. [1]
Der Band fasst die Ergebnisse zweier internationaler Expertenbefragungen nach der Delphi-Methode zusammen und ist in 4 Kapitel gegliedert. Nach Kapitel 1, das die Einleitung enthält und vor dem eigentlichen Prognoseteil, den Kapiteln 3 und 4, gehen die Autoren im etwa 30 Seiten umfassenden Kapitel 2 auf die Delphi-Methode ein und stellen ausführlich das befragte Panel und seine Zusammensetzung dar. [2]
Die Ergebnisse waren durch zwei Befragungswellen gewonnen worden, aus der ersten Welle vom Sommer 1998 mit 480 Teilnehmern (Rücklaufquote 23,8%) und der zweiten Welle vom Winter 1998/99 mit noch 360 befragten Personen (Rücklaufquote auf Basis der ersten Welle 75%). Für die beiden Befragungsrunden unter dem Titel "Der Computer als Medium der Medienintegration" zeichneten die Universität Erfurt (Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft) und die Unternehmensberatung Booz, Allen & Hamilton (München) verantwortlich. Der Kreis der befragten Experten war heterogen zusammengesetzt: Wissenschaftler bildeten die größte Untergruppe, gefolgt von Managern, d.h. Führungskräften aus der Wirtschaft und Vertretern von Interessengruppen. Europäer, insbesondere deutsche Experten waren zahlenmäßig stark vertreten, Nordamerikaner und Asiaten weniger stark, und am geringsten war die Beteiligung aus Ozeanien. Frauen waren im Panel im übrigen stark unterrepräsentiert. [3]
Im April 1999 wurden die Ergebnisse einer 30köpfigen Expertenrunde vorgelegt, die in einem zweitägigen Workshop Einschätzungen dazu erarbeitete, die in die endgültige Formulierung und Darstellung der Befragungsresultate eingingen. Über die Rolle dieses Forums und seinen methodischen Einfluss auf die Interpretation der Befragungsergebnisse erfährt der Leser allerdings wenig. Während das Erhebungsinstrument und die Orientierung der Befragten breit erläutert werden, fehlen hier weitgehend Hinweise auf den Einfluss des abschließenden Forums. Wie wurden quantitative und qualitative Methoden zusammengebracht? [4]
Auch die – vor allem geographisch – heterogene Zusammensetzung des Panels wird unter methodischen Gesichtspunkten kaum diskutiert. Hier könnte eine generelle Schwäche der nachfolgend dargestellten langfristigen Prognosen liegen: Die Konsensurteile wurden aus Einschätzungen gewonnen, die aufgrund von unterschiedlichen Entwicklungsstadien in den einzelnen Teilen der Welt, aus denen die Experten stammen, getroffen wurden. US-Amerikaner sind in der Entwicklung des Internet weiter vorangeschritten als Europäer und Asiaten. Deutsche weisen einen anderen Entwicklungsstand auf als beispielsweise Franzosen oder Portugiesen. Was aber war der Ist-Stand in der jeweiligen Sphäre der Befragten? Zwar ist das Internet ein globales Phänomen und selbst ein bedeutender Treiber der Globalisierung, dennoch ist zu bezweifeln, ob die "telematische Gesellschaft" des Jahres 2010 tatsächlich keine regionalen Unterschiede mehr aufweisen wird. Die in diesem Band dargestellten Prognosen beziehen sich aber auf keine bestimmte Region, allenfalls auf "entwickelte Industriestaaten". [5]
Neben diesem nicht angesprochenen generellen Bezugsproblem fällt im Methodenteil eine kleine Lücke auf: Bei der Befragung konnten die Experten zwischen einem Papier- und einem Online-Fragebogen wählen. Hier sollten "Akzeptanz und Persistenz eines neuartigen Forschungsinstruments" getestet werden (S.25). Da sich Papier- und Online-Version deutlich voneinander unterschieden, wäre es spannend gewesen, etwas über die möglicherweise vorhandenen Effekte auf die Antworten bei der Wahl des Online-Bogens zu erfahren. Hatte die Form der unterschiedlichen Darstellung (Buttons statt Ankreuzfelder etc.) einen Einfluss auf das Antwortverhalten oder die Abbruchrate? Hier wurden offenbar keine Auswertungen vorgenommen. Und im Anhang des Bandes wurden weder die Papier- noch die Online-Version des Fragebogens dokumentiert. [6]
2. Cybersex spannend, aber unterbelichtet
Die Kapitel 3 und 4 – das ist der Hauptteil des Buches – enthalten die empirischen Ergebnisse. Der mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen anschaulich gemachte Text fasst die Antworten und Einschätzungen zur zukünftigen Entwicklung von fünf Bereichen zusammen: Die Bereiche nehmen allerdings unterschiedlichen Raum ein, was die Autoren mit der Auswertbarkeit der Ergebnisse erklären. So wird der gewiss spannende Bereich "virtuelle Beziehungen und Cybersex" auf wenigen Seiten abgehandelt. Für dieses Modul konnten nicht genug Befragte gewonnen werden, um zu breiteren Aussagen zu kommen. In diesem Zusammenhang können den Leser die detaillierten Berechnungen von Prozentzahlen irritieren, da selbst bei Fragen, bei denen unter 50 Experten geantwortet hatten, Zehntelprozentwerte ausgewiesen werden. [7]
Insgesamt sind die Experten wenig optimistisch, was die breite Verankerung der neuen Kommunikationsmöglichkeiten in der Bevölkerung angeht: Wachsende Wissensklüfte, soziale Ungleichheiten und divergierende Medienkompetenzen werden nach Expertenmeinung mittelfristig die Entwicklung des Internet begleiten. Kurz- und mittelfristig wird es nach dieser Einschätzung zudem zu leicht negativen Beschäftigungseffekten kommen. Bei der Mediennutzung werden die derzeitigen Hauptgratifikationen Unterhaltung, Information und Kommunikation weiter bestehen bleiben. Einschneidende Veränderungen werden von den Befragten im wissenschaftlichen Publikations- und Bibliothekswesen erwartet: Bereits vor 2005 erwarten die Experten, dass die wichtigsten wissenschaftlichen Werke – zumindest in einer Zusammenfassung – online verfügbar sind. [8]
3. Mut zur langfristigen Prognose
Insgesamt ist die Sprache des Buches angenehm klar, der Text ist weitgehend frei von Anglizismen oder technischen Abkürzungen, was seiner Lesbarkeit zugute kommt. Und obwohl drei Autoren für den Text verantwortlich zeichnen, ist die Darstellung homogen, Brüche – inhaltlicher oder formaler Art – konnten vermieden werden. Allerdings stehen die fünf angesprochenen Bereiche ziemlich unverbunden nebeneinander; außer der Einleitung gibt es kein Kapitel, in dem eine Zusammenfassung und Wertung der Gesamtergebnisse vorgenommen wurde. [9]
Lesenswert sind neben den konkreten Ergebnissen der einzelnen Bereiche auch die Zwischentexte, in denen oftmals in kompakter Form (medien- und kommunikations-) theoretische Reflexionen wie beispielsweise zum Begriff "virtuell" (S.106f) angestellt werden. Lesenswert sind auch die Einschübe, in denen die erhobenen Daten und gewonnenen Ergebnisse in Bezug gesetzt werden zu den Voraussagen einzelner prominenter Vertreter der Informationsgesellschaft wie Bill GATES oder Nicholas NEGROPONTE. Hier zeigt sich, dass die Konsensmeinung der befragten Experten in vielen Bereichen ähnlich gelagert ist. [10]
Insgesamt weitet das Buch den Blick für die langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen, die mit dem Internet einhergehen, und versachlicht gleichzeitig die derzeitige Diskussion um Fluch und Segen des neuen Mediums. Das Buch gewinnt durch sein Zurücktreten von den Aufgeregtheiten temporärer Ereignisse eine gewisse Zeitlosigkeit. Selbst im Jahre 2010 wird seine erneute Lektüre spannend sein, insbesondere um festzustellen, ob die Voraussagen tatsächlich so eingetroffen sind, wie sie die Mehrheit der Experten erwarteten. Denn bereits jetzt – ein Jahr nach der New-Economy-Hysterie des Jahres 2000 – lassen die Ergebnisse den Leser gerade bei solchen Passagen aufmerken, die eine exorbitante Ausweitung des E-Commerce in kürzester Zeit voraussagen. [11]
4. Delphi-Befragungen in Deutschland
Mit Delphi-Studien kann ein fundierter Blick in die Zukunft gewagt werden. Die Delphi-Methode hat ihren Ursprung Anfang der sechziger Jahre in einem militärischen Umfeld. Somit hat diese moderne sozialwissenschaftliche Methode eine ganz ähnliche Ursprungsgeschichte wie das Internet selbst. Diese Parallelen sind allerdings bislang noch nicht beleuchtet, geschweige denn erforscht worden. [12]
Die erste deutsche Delphi-Studie zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik wurde 1993 im Auftrag des Bundesforschungsministeriums vom Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) durchgeführt. Das ISI arbeitete mit dem japanischen National Institute for Science and Technology Policy (NISTEP) zusammen, da in Japan eine längere Erfahrung mit Delphi-Studien besteht. Der anschließende deutsch-japanische Vergleich zeigte, dass in vielen Fällen die internationalen Meinungen übereinstimmen, in anderen jedoch große nationale, geographische und insbesondere kulturelle Unterschiede existieren. 1996 startete in Deutschland mit den gleichen Partnern die groß angelegte Studie "Dephi II", die inzwischen ausgewertet vorliegt (ZOCHE 1999, BLIND & ZOCHE 1999). Insgesamt wurden in 12 Themenfeldern über 1000 Thesen formuliert, ein Fokus lag auf dem Bereich Information, Kommunikation und Wissen. [13]
Blind, Knut & Zoche, Peter (1999). Die zukünftige Bedeutung multimedialer Kommunikationsnetze. Ausgewählte Ergebnisse der Delphi '98-Studie. In Hartmut Neuendorff, Gerd Peter, Rüdiger Klatt & Marese Feldmann (Hrsg.), Verändern Neue Medien die Wirklichkeit? (S.51-69). Münster: LIT Verlag.
Zoche, Peter (1999). Moderne Informationsgesellschaft: Weder ein Orakel noch reine Prophetie – Technik und Wissenschaft im 21. Jahrhundert. Die Daten des Delphi-Reports. In Unternehmer-Magazin, 47(7/8), 18-19.
Martin WELKER, 1996 – 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Lehreinheit für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Mannheim; Promotion mit einer Arbeit über die "Determinanten der Internet-Nutzung" (Verlag Reinhard Fischer); seit 2000 Projektleiter bei der MFG Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg.
Kontakt:
Dr. Martin Welker
Medienentwicklung Baden-Württemberg
Informationszentrum
Huberstr. 4
D-70174 Stuttgart
E-Mail: welker@mfg.de
URL: http://www.mfg.de
Welker, Martin (2001). Rezension zu: Klaus Beck, Peter Glotz & Gregor Vogelsang (2000). Die Zukunft des Internet: internationale Delphi-Befragung zur Entwicklung der Online-Kommunikation [13 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 22, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0102223.