Volume 2, No. 2, Art. 25 – Mai 2001
Rezension:
Volker Barth
Lutz Ellrich (1999). Verschriebene Fremdheit. Die Ethnographie kultureller Brüche bei Clifford Geertz und Stephen Greenblatt. Frankfurt, New York: Campus, 420 Seiten, ISBN 3-593-36244-9, DM 88.- / öS 642.- / sFr 82.-
Inhaltsverzeichnis
1. Konzeption und Aufbau
2. Clifford GEERTZ – das Fremde als Symbol
3. Stephen GREENBLATT – das Fremde in der Moderne
4. Fazit
Das Thema des Fremden hat sich in den letzten Jahren zu einem regelrechten Boomthema der Geisteswissenschaften entwickelt. Stephan GREENBLATT plädierte dabei schon in seinen Wunderbaren Besitztümern dafür, das Fremde bei seiner Darstellung nicht seines fremdartigen Charakters zu berauben (GREENBLATT 1994, S.242). Lutz ELLRICH nahm dies, wie er freimütig zugibt (S.7), als Ausgangspunkt für seine 1998 an der Universität Frankfurt/Oder eingereichte Habilitation in Soziologie. Habilitationsvater und Betreuer der Arbeit war mit Anselm HAVERKAMP einer der besten Kenner des Themas in Deutschland (HAVERKAMP 1997). Mit Verschriebene Fremdheit. Die Ethnographie kultureller Brüche bei Clifford Geertz und Stephen Greenblatt, das 1999 in Frankfurt bei Campus erschien, präsentiert Lutz ELLRICH das erste große Ergebnis seiner Recherchen. [1]
Ellrich stellt sich als Aufgabe, das Fremde als Diskursphänomen anhand zweier Schlüsselautoren zu untersuchen. Mit der Wahl von Clifford GEERTZ und dem schon erwähnten Stephen GREENBLATT, zwei der eloquentesten Vertreter des linguistic turn in den Vereinigten Staaten, konzentriert sich ELLRICH dabei nicht nur auf heftig umstrittene Protagonisten der aktuellen Debatten in den Humanwissenschaften, sondern auch auf zwei Spezialisten des Fremden. Während GEERTZ, Ethnologe und Direktor des außerordentlich renommierten Center of Advanced Studies an der Universität von Princeton, das Fremde jedoch in seiner Spielart des "Primitiven" näher unter die Lupe nimmt, widmet sich GREENBLATT, die Vaterfigur des amerikanischen New Historicism, den Erscheinungsformen des Fremden im 15. und 16. Jahrhundert. [2]
ELLRICH behandelt die beiden Autoren dabei bewusst mit "unterschiedlicher Intensität" (S.7). Im ersten Teil seines Buches, der mit Der Blick nach Außen betitelt ist, kommt fast ausschließlich Clifford GEERTZ zu Wort. Nachdem er in einem ersten Kapitel die aus GEERTZ' Arbeiten resultierenden Prämissen und Probleme in breiten Zügen nachzeichnet, handelt das zweite Kapitel von der in den 1980er Jahren Furore machenden sogenannten RORTY-GEERTZ-Kontroverse. Anschließend findet der Leser eine lange Analyse des wohl bekanntesten GEERTZ' Textes Deep Play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf und der in ihm ausgearbeiteten Theorie der Dichten Beschreibung. Diese inzwischen schon klassische Studie wird dann im vierten Kapitel mit hermeneutischen, dekonstruktivistischen und systemtheoretischen Ansätzen verglichen. Ein Vergleich, der sich in den letzten beiden Kapiteln des ersten Teils fortsetzt. Hier findet der Leser Anmerkungen zu GREENBLATTs Poetik der Macht sowie seinem Konzept der Gewalt (Kapitel 5) und zu einer von GEERTZ entwickelten Metatheorie der Ethnologie aus literaturwissenschaftlicher Sicht (Kapitel 6). Der Blick nach Innen, der zweite Teil von ELLRICHs Arbeit, der lediglich ein Viertel des 420 Seiten starken Textes beansprucht, handelt von Stephen GREENBLATT. Kapitel 7 verschreibt sich zuerst dem New Historicism, bevor im 8. Kapitel mit dem Fundamentalismus, dem Totalitarismus und der Postmoderne drei "Leitbegriffe" (S.12) der Moderne näher ins Auge gefasst werden. [3]
2. Clifford GEERTZ – das Fremde als Symbol
Ausgehend von der Beobachtung einer "neuen Wertschätzung der Rhetorik" (S.17) innerhalb der Geisteswissenschaften – eben jenem linguistic turn – gelingt es ELLRICH im ersten Kapitel, GEERTZ' "Versuch die Literarizität, [und] mithin die textuelle Konstruktion ethnologischer Abhandlungen selbst zum Thema zu machen" (S.18), zu erläutern. Die Rolle des Autors und der Begriff der Kunst werden dabei als die grundlegenden Konzepte des ehemaligen Studenten von Talcott PARSONS an der Universität von Harvard präsentiert. Für GEERTZ hängt das Gelingen eines Textes von seiner literarischen Qualität ab. Da er davon ausgeht, dass die biographischen Erfahrungen des Autors sich unweigerlich in seinen Texten widerspiegeln, räumt er ihm eine privilegierte Rolle im Text ein. Michel FOUCAULTs und Roland BARTHES' Postulat vom "Tod des Autors" wird so im hermeneutischen Ansatz des amerikanischen Ethnologen auf eine bloße Behauptung reduziert (FOUCAULT 1974; BARTHES 1968). Für ihn ist der Tod des Autors nichts anderes als eine "theoretische Chiffre für seine Wiedergeburt als textimmanente Konstruktion" (S.31). Wie ELLRICH richtig bemerkt, handelt es sich dabei aber keineswegs um ein Verwerfen der Diskursanalyse im Sinne FOUCAULTs, sondern vielmehr um eine andere Ausgangsposition innerhalb der Textanalyse; während FOUCAULT und BARTHES den Text aus der Situation des Konsumenten heraus behandeln, spricht GEERTZ vom ihm aus der Sicht des Produzenten, d.h. des Autors selbst. GEERTZ kann sich ebenso wenig wie Paul RICOEUR einen Text ohne Autor vorstellen. Und gerade deswegen hält er mit Vehemenz an der strikten Trennung zwischen der Feldarbeit des Ethnologen und dem Niederschreiben seiner Ergebnisse am Schreibtisch fest (S.36). [4]
Was den Kunstbegriff von Clifford GEERTZ angeht, erscheint es ELLRICH grundlegend, dass GEERTZ keinerlei Unterscheidung zwischen Kunst und Alltag zulässt (S.44). Er versucht vielmehr die "innerkulturelle Vernetzung" (S.46) aufzuzeigen, die für ihn entscheidend für das Funktionieren jeder Gesellschaft ist. Dafür verwendet er eine "Metasprache des Übersetzens" (S.46). Auf diese Weise gelingt es ihm Symbolwelten auf regionalem Niveau zu analysieren, ohne dabei die Beziehung Ethnologe-Eingeborener außer Acht zu lassen. Schließlich glaubt GEERTZ, dass diese Beziehung keineswegs von vorne herein durch "grundsätzliche Sinnsperren oder in ästhetischer Erfahrung eskalierende Verstehensaufschübe" (S.46) vereitelt wird. ELLRICH macht hier dem Leser auf plausible Art und Weise deutlich, warum Kunst, in ihren verschiedenen Spielarten, von größter Bedeutung bei der Selbsterfahrung des Fremden ist. [5]
Die Kontroverse zwischen Richard RORTY und Clifford GEERTZ, die Mitte der 1980er Jahre stattfand, bildet den Kern des zweiten Kapitels, das mit nur zehn Seiten das mit Abstand kürzeste des gesamten Buches ist. RORTY erhob ab 1983 den Ethnozentrismus in zwei aufsehenerregenden Artikeln zu einer "affirmativen Denkfigur" (S.67) (RORTY 1991a, 1991b). Damit versuchte er die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft auf die Konsequenzen der Behauptung, alle menschlichen Werte seien "durch historische Zufälligkeiten bedingt" (S.67), aufmerksam zu machen. GEERTZ argumentierte seinerseits, dass die Grenzen der erfahrbaren Welt durch die Zeichen festgelegt werden, die wir zu interpretieren in der Lage sind. Damit verwies er im selben Atemzug auf eines der grundlegenden Paradigmen in der aktuellen Debatte über das Fremde. Denn er behauptete schließlich nichts anderes, als dass wir "nur im Umgang mit der fremden Kultur mehr Klarheit über uns selbst gewinnen" (S.69). Der Ursprung der RORTY-GEERTZ-Debatte lag – laut ELLRICH – also in der jeweiligen Auffassung des Identitätsbegriffes. GEERTZ verstand das Fremde neo-hermeneutisch als "kollektive Identitäten, [die sich] selbst als paradoxe, in sich gebrochene Gebilde begreifen" (S.76). Er verteidigte also einen universalistischen Standpunkt, indem er den modernen Staat als einen Versuch der ständigen Abschottung gegen das Fremde definierte (S.74). [6]
ELLRICH beschäftigt sich anschließend mit den wissenschaftlichen Arbeitstechniken GEERTZ'. Als Beispiel führt er – wenig überraschend – mit Deep Play den Gründertext der neuen Ethnologie an, in dem GEERTZ 1972 versuchte, die balinesische Gesellschaft anhand ihrer traditionellen Hahnenkämpfe zu untersuchen. Laut ELLRICH lässt sich dieser Text "ebenso als einer der letzten großen, essayistisch verdichteten Entwürfe ethnologischer Theorie lesen, wie als brillanter Abgesang auf diesen Typus" (S.78f). GEERTZ' Anliegen als Autor/Ethnologe besteht darin, den Text für den Leser erlebbar bzw. erfahrbar zu machen; er strukturiert ihn daher wie einen Roman. Indem er auf die maximale Transparenz des Textes abzielt, schließt er gleichsam einen Pakt mit dem Leser, der sein Überleben als Autor sichert. "Logische Widersprüche und Paradoxien sind in Geertz' Text die Signaturen für den noch nicht angekommenen, zum Leben erweckten Autor" (S.87). In einer soliden Textanalyse zeigt ELLRICH die Entwicklung des Autors innerhalb seines Textes auf. Solange GEERTZ als Ethnologe noch nicht von der balinesischen Gesellschaft akzeptiert ist, erscheint das Ich des Autors ohne Unterlass. Mit der Zeit und in dem Maße, in dem der Ethnologe selbst immer mehr zu einem Teil der von ihm zu untersuchenden Gesellschaft wird, löst sich der Autor mehr und mehr in seinem eigenen Text auf. In einer ständig ansteigenden Abstrahierung überlässt das Ich seinen Platz dem allgemeineren Man, in eben dem Maße als auch der Text von der rein regionalen Ebene auf die nationale Ebene umschwenkt. GEERTZ gelingt es somit, auch als außenstehender Ethnologe die "Selbstbilder innerhalb einer spezifischen Kultur" (S.100) aufzuzeigen. [7]
Anschließend stellt ELLRICH die schon obligatorisch gewordene Frage, inwieweit eine solche Technik noch den traditionellen Anspruch der Wissenschaftlichkeit befriedigt. Beantwortet wird diese Frage hier mit einem längeren Exkurs über den Wissenschaftscharakter der Ethnologie im Allgemeinen (S.102ff). GEERTZ selbst macht diese Frage von dem "Gelingen einer textuellen Objektivation" (S.102) abhängig. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass das Kriterium der Wissenschaftlichkeit eines Textes in nichts anderem besteht als seiner Fähigkeit, den Leser zu überzeugen. Wichtig sei lediglich, dass die vom Autor benutzten sprachlichen Techniken der Sinnerzeugung offen dargelegt werden: "Er will alle Karten sprachlicher Bedeutungskonstitution aufdecken, ohne dass die Substanz der ethnologischen Botschaft darunter leidet" (S.142). [8]
Der Clou der GEERTZschen Methoden liegt demnach in ihrem ästhetischen Verständnis. Denn dieses bietet nicht nur ein Modell für ethnologische Untersuchungen, sondern ein Analysesystem für die Selbsterfahrung jeder kulturellen Gemeinschaft, auch und besonders der, deren Mitglied man selbst ist. Ziel dieser Methode ist es einen Interpretationsvorschlag zu bieten, der "im geistigen Horizont der Sinnproduzenten" (S.148) bleibt. Dies verbietet aber auch jede Form von emotioneller Bindung an die zu untersuchende Gesellschaft. GEERTZ' Ziel besteht in der Analyse der von der zu untersuchenden Gesellschaft selbst zur Sinnproduktion eingesetzten Symbole. Denn schließlich kann keine realexistierende Gruppe ohne symbolische Operationen Zugang zu ihrer eigenen Identität erlangen. Dies führt ELLRICH dann auch zur Schlüsselfrage jedes hermeneutischen Ansatzes: Welche Symbole erlauben es, Sinn von einer Erfahrungswelt zur anderen zu transportieren? ELLRICH widmet dieser Frage beinahe sein gesamtes viertes Kapitel. Ausgehend vom Begriff der Metapher und unter Bezugnahme auf Jacques DERRIDA sowie Niklas LUHMANN gelingt ihm hier eine klare und interessante Analyse. [9]
Zu Beginn des fünften Kapitels und 178 Seiten später taucht dann auch endlich der schon fast vergessene Stephen GREENBLATT wieder auf. ELLRICH argumentiert überzeugend, dass nach der Struktur der Metapher nun ihre soziale Funktion untersucht werden muss. Warum dies aber anhand des Begriffs der Macht geschieht, bleibt unklar. So gelingt es ELLRICH immerhin, einige Bemerkungen zu GREENBLATTs Konzept der Poetik der Macht unterzubringen, bevor Clifford GEERTZ das Geschehen wieder in die Hand nimmt. [10]
Für GEERTZ ist Macht nichts anderes als die Herrschaft über die zur Verfügung stehenden Symbole. Sie ist somit zugleich rituelles Zentrum und peripheres Netz, das dazu dient, immer weitere Abhängigkeiten und Anbindungen zu erzeugen. Deswegen ist Pomp auch kein Mittel der Macht, sondern vielmehr umgekehrt die Macht ein Mittel des Pomps, der so zu einem Selbstzweck wird. Die Machtkonzeption GEERTZ' ist für ELLRICH der "krönende Schlußstein im Gefüge der Grundannahmen, die die semiotische Kulturtheorie tragen" (S.89). Diese vier Grundannahmen definiert ELLRICH folgendermaßen (ELLRICH 1998):
die Einheit von Entdecken und Erschaffen
die Differenz von buchstäblich Sagbarem und nur metaphorisch Anzeigbarem
das Zusammenspiel von zentrifugalen und zentripedalen gesellschaftlichen Kräften
die Paradoxie charismatischer Macht [11]
Hier führt ELLRICH nun Stephan GREENBLATTs Theorie einer Poetik der Macht ein. "Macht bildet sich im Kontext symbolischer Repräsentationsformen, die sie zugleich untergraben und im Prozeß der Subversion aber auch wieder stärken und steigern" (S.192). Macht erscheint demnach als eine instabile Konstruktion, die um ihr eigenes Überleben zu sichern sich unter allen Umständen das Fremde und außerhalb der Macht Stehende assimilieren muss. Macht erscheint demnach per definitionem als etwas, was sie nicht ist! Oder wie ELLRICH es ausdrückt: "Macht gewinnt also ihre Identität durch die demonstrative Darstellung dessen, was sie nicht ist" (S.194). [12]
Das sechste und letzte Kapitel des ersten Teils von Verschriebene Fremdheit ist wiederum fast ausschließlich Clifford GEERTZ gewidmet. Hier findet der Leser eine ausführliche Analyse der aktuellen Writing culture-Debatte. ELLRICH bezieht sich dabei hauptsächlich auf die jüngste Monographie GEERTZ', die 1988 erschien: Works and Lives. The Anthropologist as Author. ELLRICH platziert diese Arbeit zunächst im "Niemandsland zwischen der traditionellen Hermeneutik und Dekonstruktion" (S.254) und weist dann ausdrücklich auf die frappierende konzeptuelle Ähnlichkeit mit Hayden WHITEs Furore machender Studie Metahistory hin, die 1973 in London erschien (WHITE 1991). WHITE untersucht darin die Werke von vier Gründervätern der historischen Wissenschaften: MICHELET, RANKE, TOCQUEVILLE und BURCKHARDT. Indem er ausschließlich die Literarizität dieser Schriftsteller/Historiker untersucht, kommt WHITE nicht nur zu dem Ergebnis, dass jeder historische Text zwangsläufig auch als eine literarische Gattung aufgefasst werden kann, sondern er schließt daraus auch, dass diese Gattungen sich nicht von denen fiktionaler Literaturformen unterscheiden. So endet die Suche nach dem, wie es denn gewesen sei, laut WHITE im Abfassen von Komödien (RANKE), Tragödien (TOCQUEVILLE), Romanzen (MICHELET) und Satiren (BURKHARDT). [13]
In Works and Lives geht Clifford GEERTZ ebenfalls zunächst auf die vier klassischen Literaturformen ein, so wie sie Northrop FRYE in seinen Studien beschrieben hat. Und genauso wie WHITE definiert er sie als Romanze, Tragödie, Satire und Komödie. Anschließend untersucht GEERTZ – und auch hier folgt er dem Professor für History of Consciousness an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz – die Arbeiten von vier klassischen ethnologischen Autoren: Claude LÉVI-STRAUSS, Edward Evan EVANS-PRITCHARD, Ruth BENEDICT und Bronislaw MALINOWSKI. Er stützt sich dabei vor allem auf die theoretischen Vorarbeiten von Kenneth BURKE, den ELLRICH richtig als den spirituellen Vater von GEERTZ ausmacht. Laut BURKE können diese vier literarischen Kategorien vier kardinalen Stilmitteln zugeordnet werden: Metonymie, Synekdoche, Metapher, Ironie. Diese Stilmittel können ihrerseits mit Hilfe der Begriffe Perspektive, Reduktion, Repräsentation und Dialektik expliziert werden. So gelangt GEERTZ zu folgendem Schema, das mit WHITEs Ausführungen nahezu übereinstimmt (S.248):
LÉVI-STRAUSS |
Tragödie |
Metonymie |
Reduktion |
EVANS-PRITCHARD |
Komödie |
Synekdoche |
Repräsentation |
MALINOWSKI |
Romanze |
Metapher |
Perspektive |
BENEDICT |
Satire |
Ironie |
Dialektik [14] |
Aber GEERTZ beschränkt seine Untersuchungen nicht auf die klassische Ethnologie. Er nutzt die Gelegenheit, um auf ziemlich subtile Weise den Vorwürfen zu begegnen, die ihm in jüngster Zeit von der nachfolgenden Generation amerikanischer Ethnologen gemacht wurden. Denn GEERTZ stellt in einem zweiten Schritt seiner Arbeit den vier klassischen Formen vier dekadente bzw. nervöse Formen gegenüber. Wie man sich denken kann, schneiden dabei die sogenannten new critics nicht besonders gut ab – weder Kenneth READ als Autor nervöser Romanzen, noch Johannes FABIAN, der laut GEERTZ nervöse Tragödien produziert. Stephen TYLER, der für GEERTZ nichts weiter als ein nervöser Satiriker ist, ergeht es nicht besser als Paul RABINOW, Vincent CRAPANZANO und Kevin DWYER, den harschesten Kritikern GEERTZ', die von ihm als Schreiber nervöser Komödien "bloßgestellt" werden. [15]
3. Stephen GREENBLATT – das Fremde in der Moderne
Mit dem siebten Kapitel beginnt der zweite und deutlich schwächere Teil von Verschriebene Fremdheit. ELLRICH läuft hier ständig Gefahr, den Faden seiner Analyse zu verlieren, die sich bis hierhin nicht nur durch einen klaren und verständlichen Stil, sondern auch durch eine logische und nachvollziehbare Konzeption auszeichnete. So ist dem Leser nur schwer verständlich, warum ELLRICH an diesem Punkt seines Textes anhand der theoretischen Arbeit Hayden WHITEs sich der Frage zuwendet, welches Gewicht soziologische Analysemethoden für historische Beschreibungen besitzen (S.311). Er erläutert zunächst die vier Formen, die WHITE als "angemessen" (S.312) für die Darstellung eines Themas hält. Denn glaubt man dem kalifornischen Geschichtstheoretiker, kann ein Autor nur mittels der Identifikation, der Reduktion, der Integration oder der Inversion Sinn erzeugen. Sinn entsteht also immer nur im Kontext einer subjektiven Erfahrung oder in der Stellung eines Problems, das anschließend auf idealtypische Weise gelöst wird. Dies alles ist ebenso interessant wie der lange Ausflug zu Niklas LUHMANN, den der Leser im Anschluss findet. Leider gelingt es ELLRICH jedoch nicht, eine klare thematische Verbindung zwischen WHITE und LUHMANN auf der einen Seite sowie Stephen GREENBLATT und dem New Historicism auf der anderen aufzuzeigen. Dies ist umso bedauerlicher, als letztere das eigentliche Thema dieses Teils sein sollten. [16]
Obwohl etwas kurz geraten, ist die anschließende Analyse der Arbeiten GREENBLATTs sehr lesenswert. ELLRICH begibt sich unmittelbar ins Zentrum dieser historisch/linguistischen Theorie und der für ihn grundlegenden Prämisse dieses Ansatzes: "Historischer Text und textuell beschaffene Historie besiedeln beide [...] die gleiche Ebene der Zeichen" (S.338). Aber nachdem ELLRICH GREENBLATT nur knappe 30 Seiten widmet, muss die Beschreibung zwangsläufig ein bisschen weniger dicht ausfallen als bei dem auf über 300 Seiten behandelten GEERTZ. [17]
Im achten Kapitel verliert ELLRICH endgültig den Faden. Anstatt auf den Resultaten der Analysen des New Historicism aus den vorherigen Kapiteln aufzubauen, geht ELLRICH ohne weitere Erklärung zum Fremden in der Moderne über. Dabei wird der Term Moderne bzw. Modernität leider nicht näher erläutert. ELLRICH erklärt ohne jeden Nachweis, dass die drei Schlüsselbegriffe der Moderne der Totalitarismus, die Postmoderne und der Fundamentalismus seien. Dabei nehmen die Ausführungen zum Totalitarismus bei weitem den meisten Platz ein. Aber auch hier konzentriert sich ELLRICH ohne jedes methodische Zögern sofort auf den Nationalsozialismus. Warum er sich dabei aber auf eher unbekanntere Autoren wie Richard MÜNCH (S.373ff) oder Cornelia KLINGER (S.379ff) bezieht, wird nicht deutlich. Dies ist umso erstaunlicher, da ELLRICH die Standardliteratur zum Thema Nationalsozialismus und Moderne kennt, wie er dem Leser in einer Fußnote anzeigt (S.380/18). ELLRICHs Versuch, in diesen Überlegungen auch noch den Islam als Beispiel für den Fundamentalismus zu behandeln, scheitert dann völlig. Ebenso ergeht es seinen Ausführungen zur Postmoderne, die sich auf karge zehn Seiten beschränken. [18]
Verschriebene Fremdheit. Die Ethnographie kultureller Brüche bei Clifford Geertz und Stephan Greenblatt ist trotz allem ein gutes Buch. Es bietet dem Leser einige interessante Überlegungen zu den aktuellsten Debatten in den Geisteswissenschaften. ELLRICH gelingt es dabei nicht nur, eine große Menge an Forschungsliteratur zu verarbeiten, sondern sie auch klar strukturiert und verständlich aufzubereiten. In diesem Sinne ist der konzeptuelle Verlust im zweiten Teil der Arbeit nicht mehr, als eine Runde aussetzen in einem unterhaltsamen und anregenden Deep Play. [19]
Barthes, Roland (1968). La mort de l'auteur. Manteia, 5, 12-17.
Ellrich, Lutz (1998). Pomp und Charisma: Zur Poetik der Macht. In Gerhard Fröhlich (Hrsg.), Symbolische Anthropologie der Moderne. Kulturanalysen nach Clifford Geertz (S.103-122). Frankfurt/M.: Campus.
Foucault, Michel (1974): Was ist ein Autor? In ders., Schriften zur Literatur (S.7-31). München: Nymphenburger Verl.-Handlung.
Geertz, Clifford (1988). Works and Lives. The Anthropologist as Author. Stanford: Stanford University Press.
Greenblatt, Stephen (1994). Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisen und Entdecker. Berlin: Wagenbach.
Haverkamp, Anselm (Hrsg.) (1997). Die Sprache des Anderen. Übersetzungspolitik zwischen den Kulturen. Frankfurt/M.: Fischer.
Rorty, Richard (1991a). Postmodernist bourgeois liberalism. In: ders, Objectivity, Relativism and Truth (S.197-202). Cambridge: Cambridge University Press.
Rorty, Richard (1991b). Solidarity or objectivity. In ders, Objectivity, Relativism and Truth (S.21-34). Cambridge: Cambridge University Press.
White, Hayden (1991). Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M.: Fischer Wissenschaft (orig. 1973).
Volker BARTH ist Doktorant an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er beschäftigt sich zur Zeit mit französischen Weltausstellungen im 19. Jahrhundert.
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Volker Barth
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Barth, Volker (2001). Rezension zu: Lutz Ellrich (1999). Verschriebene Fremdheit. Die Ethnographie kultureller Brüche bei Clifford Geertz und Stephen Greenblatt [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 25, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0102256.