Volume 2, No. 2, Art. 26 – Mai 2001

Angela Schwarz

Rezension:

Rolf Lindner (2000). Die Stunde der Cultural Studies. Wien: Universitätsverlag Wien, 126 Seiten, ISBN 3-85114-509-7, 23.00 DM

Inhaltsverzeichnis

1. Ein Paradigmenwechsel in der Wissenschaftskultur

2. Risiken, Nebenwirkungen und ein echter Gewinn

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Ein Paradigmenwechsel in der Wissenschaftskultur

Dass heute nicht mehr nur über GOETHE und SHAKESPEARE, Politik und gesellschaftliche Eliten, die "großen Männer" geforscht wird, sondern Themen wie Körper, Konsum, Geschlecht und Rasse ebenso unter die Lupe ernsthafter wissenschaftlicher Analyse genommen werden können und genommen werden, ist sicherlich mit ein Verdienst der Cultural Studies. Mit der Gründung des Centre for Contemporary Cultural Studies 1964 in Birmingham institutionell verortet, trat die Erforschung der Alltagskultur oder, wie Raymond WILLIAMS 1958 schrieb, der Kultur als etwas Alltägliches neben die bisherige Konzentration auf die Erscheinungsformen der Hochkultur. In der Rückschau wird umso deutlicher, wie sehr mit der Herausbildung dieses Forschungsfeldes und in seinem Gefolge der Kulturwissenschaften, nicht als neuer Disziplin, sondern als inter- und transdisziplinäres Unternehmen, die Wissenschaftskultur verändert wurde. Bezeichnenderweise entwickelten sich die Cultural Studies in einer Zeit, in der einer ihrer Schwerpunkte, die Populär- oder Massenkultur, die Hochkultur mehr und mehr als kulturellen Leitcode verdrängte. [1]

Angesichts der heutigen Popularität von Cultural Studies ist ein Blick zurück und eine Bilanz, die das Analysekonzept und seinen Aufschwung selbst zum Gegenstand der Analyse macht und die Verflechtung von Popkultur und Cultural Studies oder weiter gefasst von Kulturbetrieb und Wissenschaftskultur berücksichtigt, mehr als wünschenswert. Eine solche Bilanz bietet der Essay von Rolf LINDNER. Der Ethnologe konzentriert sich darin auf vier Bereiche: (1) auf die Gründergeneration des Forschungsansatzes, die sich in einem kulturellen Niemandsland stehen sah und von daher für eine Infragestellung der traditionellen Kultur prädestiniert war; (2) auf die erste mit der Popkultur aufgewachsene Generation, die Skepsis zum Ausdruck der eigenen Andersartigkeit, der Modernität erhob; (3) auf das gespaltene Verhältnis zwischen Cultural Studies und Sozial- und Kulturanthropologie und (4) auf die Verschränkung von Kulturwissenschaften und Kulturproduktion. Die Gründergeneration, die die Erfahrung als zentrale Kategorie betonte, erhob die Kultur der eigenen Herkunftsschicht, der Arbeiterschicht, zum Thema der Wissenschaft. Die ihr nachfolgende "skeptische Generation" führte die Popkultur unmittelbar in die neue Forschungsrichtung ein. Die Folge: Die Vertreter der klassischen Anthropologie protestierten, da sie in den Cultural Studies eine Konkurrenz fürchteten, die die eigene Disziplin schließlich obsolet und redundant erscheinen lassen könnte. Inzwischen spielen solche Vorbehalte keine Rolle mehr, denn der Anthropologie, aber ebenso den Cultural Studies und anderen Bereichen der Wissenschaftskultur sind neue Herausforderungen erwachsen. Aufgrund der Nähe der (Kultur-) Forschung zum Kulturbetrieb finden sie sich alle in einer Situation mit neuen, z.T. vom Kontext der Wissensproduktion unabhängigen Regeln wieder. [2]

2. Risiken, Nebenwirkungen und ein echter Gewinn

Wie LINDNER aufzeigt, vermögen die Cultural Studies trotz ihrer Zeitgebundenheit, wie sie in ihren Anfängen in den fünfziger und frühen sechziger Jahren begründet liegt, ein Instrumentarium der kritischen Kulturanalyse anzubieten, das die Zeichen der Zeit erkennen kann, und dies immer wieder aufs Neue. Dahinter verbirgt sich kein Prozess, der in regelmäßigen Abständen den Paradigmenwechsel der Anfangsphase wiederholen würde, sondern ein Standort und eine Blickrichtung, die aus der Homologie von Person und Sache hervorgehen. Während der Ethnologe von außen auf die zu untersuchende Ethnie blicke, gehe der Kulturwissenschaftler aus der von ihm betrachteten Kultur hervor, ohne allerdings, so ein wesentliches Merkmal, in ihr vollkommen aufzugehen. Das ist es, was sich hinter dem Wort vom "Inside Outsider" verbirgt, das LINDNER von Colin MACINNES (1986) zur Beschreibung der Cultural Studies übernimmt. Die Gefahren, auch sie werden nicht verschwiegen, liegen auf der Hand: Der Forscher kann im Geist der Zeit, im Untersuchungsgegenstand, den er zu erfassen sucht, untergehen, verliert also die zur Erkenntnis notwendige Distanz, oder er denkt so sehr in den Kategorien des Instrumentariums, etwa indem er alles als Zeichen interpretiert, dass er den Gegenstand nicht mehr richtig erfassen kann. [3]

Ein weiteres Problem für die wissenschaftliche Arbeit liegt im Falle der Cultural Studies in der engen Verbindung von Wissenschaft und Gegenstand. Das Timing einer Untersuchung bzw. ihrer Veröffentlichung erhält eine große Bedeutung. Je mehr der Kulturbetrieb darüber entscheidet, je mehr die Medien Themen zu bestimmten Zeitpunkten zu aktuellen Fragen erheben, desto rascher erreichen diese ihr Verfallsdatum – zumindest in den Augen einer auf die Medien gestützten Öffentlichkeit. Inwieweit tatsächlich eine vorzeitige Entwertung von Themen und Zugangsweisen zu befürchten ist, die der Bearbeitung bestimmter Fragen ein frühes Ende bereiten, wie LINDNER in Anlehnung an Pierre BOURDIEU (1988) meint, müsste meines Erachtens eingehender erörtert werden. Dazu bedarf es jedoch weiterer Untersuchungen. [4]

Insgesamt, daran lässt auch Rolf LINDNER keinen Zweifel, überwiegen die Vorteile. Denn die thematische Ausweitung von Erkenntnisinteressen, die mit der Entwicklung der Kulturwissenschaften einherging, ist mehr als ein Sinnbild für die Modernisierung der Wissenschaftskultur: Mit ihrer Zusammenführung unterschiedlicher Ansätze aus verschiedenen Disziplinen und vor allem ihrer Ausweitung von Erkenntnisinteressen hat sie die Forschung und die Kultur bereichert. Das sollte trotz aller Tendenzen, die auf einen Boom des Forschungsfeldes hindeuten, besonders hervorgehoben werden. Die Ausführungen von Rolf LINDNER tragen ihren Teil dazu bei. [5]

Literatur

Bourdieu, Pierre (1988). Homo academicus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

MacInnes, Colin (1986). England, Half English. London: Hogarth.

Williams, Raymond (1989). Culture is ordinary. In ders., Resources of Hope. Culture, democracy, socialism (S.3-18). London: Verso. (Orig. 1958).

Zur Autorin

Priv.-Doz. Dr. Angela SCHWARZ ist Hochschuldozentin für Neuere und Neueste Geschichte an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Mentalitätsgeschichte, Kulturgeschichte, Popularisierung der Naturwissenschaften.

Kontakt:

Angela Schwarz

Gerhard-Mercator-Universität Duisburg
FB 1 Geschichte
Lotharstr. 63
D-47048 Duisburg

E-Mail: dr.a.schwarz@uni-duisburg.de

Zitation

Schwarz, Angela (2001). Rezension zu: Rolf Lindner (2000). Die Stunde der Cultural Studies [5 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 26, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0102265.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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