Volume 2, No. 2, Art. 29 – Mai 2001
Rezension:
Angela Kaupp
Günter Mey (1999). Adoleszenz, Identität, Erzählung. Theoretische, methodologische und empirische Erkundungen. Berlin: Köster, 342 Seiten, ISBN 3-89574-342-9, DM 64.80
Inhaltsverzeichnis
1. Thema
2. Inhalt
3. Bewertung
In der qualitativen Forschung, die inzwischen in den Sozial- und Humanwissenschaften einen nicht zu leugnenden Stellenwert hat, ist die Methode des narrativ orientierten Interviews eines der wichtigsten Erhebungsinstrumente. Solche Interviews geben die Möglichkeit, auf eine Forschungsfrage nicht nur inhaltliche Antworten zu erhalten, sondern auch die Art und Weise der Konstruktion durch die Befragten zu analysieren und dadurch einen Zugang zu ihrer "Weltsicht" zu erhalten. In diese Forschungsperspektive ist die vorliegende Arbeit einzuordnen, die 1999 im Fachgebiet Entwicklungspsychologie an der TU Berlin als Dissertation eingereicht wurde und sowohl theoretisch als auch empirisch Identitätsentwicklung im Jugendalter untersucht. Vier Falldarstellungen zeigen, wie Jugendliche sich selber darstellen, sich im Fortgang ihres Lebens neu entwerfen und trotzdem mit sich identisch bleiben. [1]
Die Arbeit gliedert sich in Theoretische Grundlegungen (Kapitel I-III) und Darstellung der qualitativen Untersuchung (Kapitel IV-VI). Nach der Einleitung (Kapitel I, S.1-9) folgt eine Skizzierung der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung (Kapitel II, S.10-22) von ihren Anfängen bis heute: Dabei diskutiert MEY als ein mögliches Integrationsangebot das Individualisierungstheorem und seine Interpretationsperspektiven, um danach den Stand der gegenwärtigen Jugendforschung auszuleuchten, wobei er auf methodologische und (inter-) disziplinäre (Un-) Vereinbarkeiten, die Ausfaserung des Gegenstandes "Jugend" und die marginalisierte Position der entwicklungspsychologischen Jugendforschung eingeht] [2]
Im III. Kapitel (S.23-112) beschreibt MEY zunächst Grundzüge des Identitätsmodells von ERIKSON und diskutiert die Fortführungen bzw. Kritiken, die er – bezogen auf die Jugendphase – drei Grundlinien zuordnet: Typologisierende Modelle, psychoanalytische und sozialwissenschaftliche Revisionen. Ohne berechtigte Kritik am Konzept ERIKSONs zu leugnen, sieht MEY das Modell durch seine Kritiker nicht schlüssig widerlegt. Auch gebe es auf Seiten dieser Kritiker trotz anders lautendem Credo – "Abschied von ERIKSON" (vgl. KEUPP 1998) – immer deutlicher "sich langsam einschleichende Annäherungen" (S.74). ERIKSONs Identitätsbegriff scheint MEY bei Betonung der Konnotation von Identität als "Selbheit" und Abgrenzung gegenüber Identität als "festem" Besitz" (S.81) anschlussfähig für die Untersuchung "Narrativer Identität", deren Gegenstand weniger der Inhalt von Identität als vielmehr die Art und Weise ihrer Konstruktion ist (S.82). Das psychoanalytische Konzept der "Nachträglichkeit" (FREUD, ERDHEIM) ermögliche als "hilfreiches Konzept zur Ausbalancierung von Erinnerung und Erfahrung" (S.88), die Neubewertungen der Jugendlichen in ihren lebensgeschichtlichen Erzählungen zu erhellen. Im Anschluss an die narrative Psychologie wird angenommen, dass "Leben nicht einfach erzählerisch wiedergegeben wird, sondern sich erst erzählerisch herstellt" (S.94). Geschichten haben eine "identitätsstiftende Funktion" (S.95) und greifen auf vorgefertigte Strukturen zurück. Aufgrund von Analogien zwischen Identitäts-Konzeptionen und den Vorstellungen einer "narrativ verfassten Identität" sieht MEY Erzählungen forschungslogisch als Möglichkeit an, Identität "zugleich als (Zwischen-) Produkt und Prozess beschreibbar und verstehbar zu machen" (S.111). [3]
In Kapitel IV "Methodische Konzeption und Durchführung der Untersuchung" (S.113-232) zeigt der Autor zunächst Forschungslinien und -paradigmen qualitativer (Jugend-) Forschung und Überlegungen zur qualitativen Geltungsbegründung auf und erläutert anschließend das eigene Forschungsvorgehen. Sechzehn weibliche und männliche Jugendliche zwischen 16-20 Jahren wurden interviewt. Methodisch wurde sich an das Problemzentrierte Interview (WITZEL) angelehnt, das sich als kommunikativ orientierte Interviewmethode – in der Sicht des Autors auch gegenüber dem Narrativen Interview nach SCHÜTZE – auszeichnet (S.146-150). In einer interaktiven Gesprächssituation sieht MEY die Möglichkeit, strukturell eine Parallele zur Vorstellung einer narrativ hergestellten Identität aufzugreifen. Mit den vier in Fallanalysen vorgestellten Jugendlichen, die in dem Buch dokumentiert sind, wurde nach ca. einem Jahr jeweils ein zweites Interview geführt, um Veränderungen in der Konstruktion der Lebensgeschichte untersuchen zu können. Die Auswertung der Interviews erfolgt nach Arbeitsschritten der "Methode des zirkulären Dekonstruierens" (JAEGGI, FAAS & MRUCK), der Grounded Theory (GLASER & STRAUSS) und der sequenzanalytischen Textinterpretation (nach ROSENTHAL). Die Methodenkombination und die einzelnen Auswertungsschritte werden anhand eines Interviewbeispiels einer 19-jährigen Jugendlichen nachvollziehbar dargestellt (S.174-232). Kapitel V (S.233-309) fasst die Ergebnisse der drei weiteren Fallanalysen (zwei weibliche, ein männlicher Jugendliche/r) zusammen. Die Darstellung der Erzählungen und die schrittweise und textnahe Entwicklung der Präsentationslogik der Erzählungen kann hier leider nicht wiedergegeben werden, ist jedoch für das Verstehen der Interpretation wichtig. [4]
Kapitel VI (S.310-320) bündelt die Ergebnisse: Alle Jugendlichen bemühten sich, eine individuelle "große biographische Geschichte" (S.315) zu präsentieren, auf die sich einzelne Episoden hinordnen. Die Falldarstellungen spiegeln dabei sehr unterschiedliche Erzählungen mit unterschiedlichen Weisen, die eigene Identität zu (re-) konstruieren. Veränderungen im Leben werden von den Jugendlichen im zweiten Interview nicht als "additives Anhäufen" präsentiert, sondern "die Hineinnahme von Neuem verändert die zuvor erzählte, 'alte' Geschichte" (S.312). Unterschiedliche Strategien dienen dieser Präsentationsveränderung. Zentrale Themen in allen Interviews waren Autonomie vs. Heteronomie, Anerkennung vs. Ausgrenzung/Isolation, Aktivität vs. Passivität. Dies kann als Hinweis auf inhaltliche Beschreibungen von Identität gewertet werden. Auf dem Hintergrund seiner Arbeit insistiert MEY "auf einem Konzept von Identität als mit-sich-Identisch-Sein" (S.319) und stellt abschließend fest: "Die Auflösung der Einheitsjugendlichen [...] endet nicht zwangsläufig in einer postmodernen Nicht-Identität" (S.320). [5]
Die Arbeit löst inhaltlich und im Aufbau ihren Untertitel ein: MEY bietet im theoretischen Teil eine dichte Zusammenfassung der aktuellen Situation der Jugendforschung, der Identitätsdebatte und der qualitativen Sozialforschung unter der Perspektive der narrativen Psychologie. Der Autor bemüht sich insbesondere um einen Identitätsbegriff, der angesichts postmoderner Verhältnisse Bestand hat, ohne sich in einen Plural von Identitäten aufzulösen. Im empirischen Teil der Arbeit stellt MEY die am Material gewonnenen Interpretationen weitgehend anhand der Interviewtexte dar. Dies ermöglicht auch fachfremden Lesern und Leserinnen die Folgerungen nachzuvollziehen und Einblick zu bekommen in die Art und Weise, wie Jugendliche Biographinnen und Biographen ihrer selbst werden. Anhand der Interviews lassen sich geschlechtsspezifische Unterschiede bei der narrativen Konstruktion von Identität vermuten, die MEY an einigen Stellen benennt, indem er z.B. bei den Frauen auf die Antizipation einer Doppelrolle von Beruf und Familie verweist. Da der Blickwinkel "Geschlecht" keine primäre Forschungsperspektive dieser Arbeit war, scheint mir eine geschlechter-differenzierende Analyse jugendlicher Identitätskonstruktion eine interessante Weiterführung dieser Untersuchung zu sein. [6]
Keupp, Heiner (1998). Diskursarena Identität: Lernprozesse in der Identitätsforschung. In Heiner Keupp & Renate Höfer (Hrsg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung (S.11-39) (2. Auflage). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Angela KAUPP, akademische Rätin an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Fachgebiet Religionspädagogik / Katechetik. Nach dem Studium der Pädagogik und Theologie über zehnjährige Berufstätigkeit in Schule, verbandlicher Jugendarbeit und Erwachsenenbildung in Würzburg und München. Seit 1998 wissenschaftliche Tätigkeit in Freiburg. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Biographie und Religiosität, Jugend, Religion und Gender.
Kontakt:
Angela Kaupp
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Theologische Fakultät
Arbeitsbereich Pädagogik und Katechetik
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D-79085 Freiburg
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Kaupp, Angela (2001). Rezension zu: Günter Mey (1999). Adoleszenz, Identität, Erzählung. Theoretische, methodologische und empirische Erkundungen [6 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 29, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0102291.