Volume 2, No. 2, Art. 4 – Mai 2001

Rezension:

Tilmann Walter

Claudia Benthien (1998). Im Leibe wohnen. Literarische Imagologie und historische Anthropologie der Haut (Buchreihe: Körper, Zeichen, Kultur; Band 4). Berlin: Berlin Verlag, 333 Seiten, ISBN 3-87061-801-9, 84.00 DM

Inhaltsverzeichnis

1. Eine Geschichte der Haut?

2. Inhalt

3. "Historische Anthropologie"

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Eine Geschichte der Haut?

Claudia BENTHIENs preisgekrönte Dissertation (die Autorin wurde dafür 1999 mit dem Joachim-Tiburtius-Preis des Landes Berlin ausgezeichnet) stellt sich die Aufgabe, die "zentrale Rolle der Haut in der Kulturgeschichte der Moderne für die Entstehung von Selbst- und Fremdbildern" in Bezug auf Rasse und Geschlecht zu rekonstruieren. Veränderte neuzeitliche Arsenale des Wissen und die daraus entstandenen medizinisch-therapeutischen Praktiken hätten das vormoderne Verhältnis zum Körper, das durch den Glauben an die wechselseitige Offenheit mikromakrokosmischer Beziehungen gekennzeichnet war, entwertet (S.9). Die äußere Umhüllung und Grenze des Körpers, eben die Haut, werde seither als absolut behandelt. Dieser Vorgang sei symptomatisch für die moderne epistemologische Abspaltung und Abschottung des Subjekts (S.10). Die aufklärerisch-rationalistische Abwertung der "niederen" Sinneswahrnehmungen – wie das Berühren, Tasten und Spüren – gegenüber dem Sehen und der rationalen Erkenntnis habe somit ein Wissensregime ins Leben gerufen, in dem (bevorzugt) visuell wahrgenommene, wissenschaftlich kartographierte und theoretisch typologisierte Befunde zur kolonialistischen Unterdrückung anderer und zur Selbstunterwerfung der Subjekte genutzt würden (S.12). Kennzeichnend für dieses Verhältnis sei beispielsweise die artistische (Selbst-) Stilisierung von Körpern in Performances und Videokunstwerken seit den 1970ern (S.13-17): Hier werde mit Mitteln einer Schockästhetik ein Verhältnis symbolisch repräsentiert, das unserer Kultur immanent ist: die gewaltsame (und neuerdings vor allem konsumistisch motivierte) Zurichtung des Körpers und seiner unmittelbaren "Außenseite", der Haut. [1]

2. Inhalt

Vornehmlich anhand literarischer Quellen und medizinischen Fachschrifttums, die die Autorin bei ihren Interpretationen gleichberechtigt behandelt, untersucht BENTHIEN vier historische Aspekte des Themas: (1) die neuzeitliche Abgrenzung des Selbst als im Körperinnern "verborgener Kern" der Persönlichkeit; (2) die medizingeschichtliche und medizintechnische Abgrenzung eines anatomisch absolut gedachten "Inneren" des Körpers von seiner Umwelt; (3) die Klassifikation von "Rassen" ausgehend von der Hautfarbe und die Folgen für die Selbstwahrnehmung dunkelhäutiger Menschen sowie (4) die psychische Abspaltung des Körperäußeren von der Persönlichkeit im Rahmen klinischer Phänomene. Das unmittelbare Empfinden der eigenen Haut könne dann nicht als Teil des Selbst integriert werden, sondern werde als ein "Anderes" und dem Selbst Fremdes erlebt. (Hier orientiert sich BENTHIEN theoretisch an Didier ANZIEUs [1992] Konzept des "Haut-Ichs"). Diese Analysen erfolgen durchgehend auf hohem theoretischen Niveau und werden begleitet von einer beeindruckenden Fülle von Verweisen zur Geistes-, Literatur- und Kunstgeschichte. (BENTHIEN studierte in Hamburg, Berlin, St. Louis und New York Germanistik, Amerikanistik, Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften.) [2]

3. "Historische Anthropologie"

In Deutschland existieren wenigstens drei institutionelle Zentren, die unter dem Schlagwort "Historische Anthropologie" wirksam sind und die sich im übrigen mittels weitgehender wechselseitiger Nichtbeachtung gegeneinander abgrenzen: In Saarbrücken wird u.a. eine gleichnamige Zeitschrift herausgegeben, deren Beiträge vor allem historisch-archivalischer Kleinarbeit verpflichtet sind, aus der dann auch theoretische Positionsbestimmungen hervorgehen. An der Universität Freiburg wurde ein entsprechender Studiengang "Historische Anthropologie" eingerichtet; die verantwortlichen Historiker und Soziologen verweisen dabei auf die Zusammenarbeit mit der biologischen Anthropologie. Ebenfalls in Freiburg wurden umfangreiche Sammelbände zum Thema ediert. Die Berliner Richtung der "Historischen Anthropologie", der sich die Autorin des anzuzeigenden Bandes zuordnet, argumentiert demgegenüber dezidiert konstruktivistisch, d.h. literaturwissenschaftlich und kulturphilosophisch. Zentrales Dokument ist der von Christoph WULF 1997 herausgegebene Sammelband "Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie". Außenstehende haben diese Erklärungsmodelle etwas abschätzig als "gedankenschwere Metaphern" (SCHREINER & SCHNITZLER 1992, S.17) bezeichnet. [3]

Insgesamt ist festzustellen, dass eine solche Pluralität anthropologischer Zugangsweisen prinzipiell begrüßenswert ist. Zugleich sollte aber auf die spezifischen Beschränkungen einzelner methodischer Zugänge aufmerksam gemacht werden: Literarische Imagologie und Historische Anthropologie zu verknüpfen, wirkt legitim, aber nicht erschöpfend. Dies wird in der darstellerischen Praxis deutlich, wenn sich BENTHIEN auf Barbara DUDEN und Michael FEHER als theoretische Vordenker der "Körpergeschichte" bezieht (S.18): Beide Autoren haben seit den achtziger Jahren auf die zentrale Bedeutung der materiellen Widerstände des Körperlichen hingewiesen, die innerhalb der Körpergeschichte in ebenso zentraler Weise Berücksichtigung finden müssten. Diesem Aspekt ihres Themas nähert sich BENTHIEN über psychosomatische und psychoanalytische Modelle an (S.20, S.30, S.59-67). Doch impliziert diese Widerständigkeit des Körperlichen nicht, wie die Autorin etwas pessimistisch vermutet, ein unauflösliches Spannungsverhältnis zwischen dem Konstruktivismus als (literaturwissenschaftlicher) Methode und einem vordergründigen "Authentizitätsanspruch leiblicher Phänomene" (S.9): Im Sinne Pierre BOURDIEUs (1976, S.139-202) kann demgegenüber betont werden, dass ebenso wenig, wie beim Menschen ein vorkultureller Körper existieren kann, eine Einschreibung kultureller Zeichensysteme problemlos stattfindet. Die "Einverleibung des Mythos" ist, so BOURDIEU, ein strukturell gewaltsamer Vorgang, der stets große soziale Kosten mit sich bringt. BENTHIENs souveräne interpretatorische Aufbereitung ihres Belegmaterials hätte für empirische Sozialwissenschaftler an Erkenntniswert noch gewonnen, wäre sie durch einen systematischen Blick auf solche sozialpsychologischen und soziologischen Modelle ergänzt worden. [4]

Dennoch hält es der Rezensent für legitim, auf die Berechtigung eines in gewissem Ausmaß abgeschlossenen fachwissenschaftlichen Zugangs zu bestehen, zumal dies hier im Rahmen eines bereits interdisziplinär erweiterten "Kultur"-Begriffs geschieht (S.26-29). Als einziger Wermutstropfen der insgesamt vorbildlichen Studie wäre deshalb die typographische Gestaltung des Buches zu beklagen: die Vereinheitlichung der diversen Anführungszeichen hätte mit einem handelsüblichen Textverarbeitungsprogramm eigentlich keine größeren Probleme bereiten sollen. [5]

Literatur

Anzieu, Didier (1992). Das Haut-Ich (3. Auflage). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Schreiner, Klaus & Schnitzler, Norbert (1992). Historisierung des Körpers. Vorbemerkung zur Thematik. In: Dies. (Hrsg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit (S.5-22). München: Fink.

Wulf, Christoph (Hrsg.) (1997). Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim: Beltz.

Zum Autor

Dr. phil. Tilmann WALTER, Studium der Geschichte und der Germanistik in Heidelberg; 1997 Promotion in Germanistik über "Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland" (Berlin / New York: de Gruyter 1998); derzeit Forschungsassistent am Sonderforschungsbereich 511 "Literatur und Anthropologie" an der Universität Konstanz; Arbeitsschwerpunkte: Historische Anthropologie, Wissenschaftsgeschichte, Geschichte der Sexualität.

Kontakt:

Tilmann Walter

Universität Konstanz
FG Geschichte
Fach D11
D-78457 Konstanz

E-Mail: Tilmann.Walter@uni-konstanz.de

Zitation

Walter, Tilmann (2001). Rezension zu: Claudia Benthien (1998). Im Leibe wohnen. Literarische Imagologie und historische Anthropologie der Haut [5 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 4, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs010243.

Revised 3/2007

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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