Volume 2, No. 2, Art. 3 – Mai 2001
Professionsbezogene Kommunikation mittels Mailingliste. Eine qualitativ-empirische Analyse von Mailinglisten-Beiträgen zur Entstehung eines kunstpädagogischen Servers
Georg Peez
Zusammenfassung: Mailinglisten werden häufig genutzt, um professionsbezogene Kommunikation zeit- und raumflexibel mit vielen Beteiligten zu pflegen. Hier handelt es sich oft um eine Möglichkeit, bei der sich nicht nur Angehörige einer Berufsgruppe austauschen, sondern bei der viele "Professionsnahe", wie Studierende oder Angehörige verwandter Berufsgruppen, an der Kommunikation aktiv oder passiv teilhaben. Die Spielarten und Auswirkungen solcher professionsbezogenen Kommunikation mittels Mailingliste sind für viele Beteiligte neu und für einzelne Berufsgruppen insgesamt kaum erforscht. Leitfragen lauten: Welche Kommunikationsformen treten auf? Welche Spezifika bilden sich aus und wie beeinflussen sie die Fach- und Professionsentwicklung? Diesen Fragen wird fallspezifisch und sequenzanalytisch anhand der Kommunikation auf einer Mailingliste für Kunsterziehende nachgegangen.
Keywords: Mailingliste, Professionsforschung, Sequenzanalyse, Online-Forschung, computervermittelte Kommunikation, Kunst, Kunstpädagogik
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung, Ausgangssituation und Untersuchungsabsicht
1.2 Was ist eine Mailingliste?
1.3 Analysematerial, Analyseverfahren und Ziel der Studie
2. Aufbau eines Servers für Kunsterziehung
2.1 Anstoß zu einer gemeinsamen Linksammlung für Kunstpädagogik
2.2 Ein Listenbeitrag für viele Personen und zugleich für Einzelne
2.3 Versuch der Einleitung einer konstruktiven Kooperation
2.4 Beiträge als "Resonanzböden" für unterschiedliche Folgebeiträge
2.5 Spezifische Spontaneität der Kommunikation
2.6 Erste sachlich-konstruktive Reaktionen zur Kooperation – Klärung von Zielen, Begriffen und Strukturen
2.7 Differenzen und Dissonanzen zwischen Theorie und Praxis, zwischen Hochschule und Schule
3. Resümee
3.1 Mailinglistenspezifische Kommunikationsmerkmale
3.2 Professionsbezogene Kooperationen per Mailinglisten
1. Einführung, Ausgangssituation und Untersuchungsabsicht
Die digitalen Medien bieten neue Kommunikationswege. Neue Formen und neue Inhalte professionsbezogener Kommunikation und Interaktion können hierdurch auch zwischen Kunsterziehenden1) entstehen und geprägt werden. Diese bewusst offen formulierte Annahme wird im Folgenden anhand einer Fallstudie innerhalb einer qualitativ-empirischen Untersuchung überprüft und differenziert. Als Fallbeispiel dienen die Beiträge in der Mailingliste "GERMARTEACH-L" des "Netzwerkes der Kunsterziehung im deutschsprachigen Raum" vom Januar 1999. Diese Mailingliste setzt sich zum Ziel, die "Zusammenarbeit, die sich durch das Medium 'Internet' anbietet" (http://www.tu-bs.de/schulen/thg_wf/germart.html) zu fördern. Weiter heißt es einführend in diese von einer Kunsterzieherin initiierte Mailingliste, die zurzeit über 120 eingetragene Mitglieder hat, dass nicht nur Kunsterziehende angesprochen werden, sondern "kunstbegabte SchülerInnen und StudentInnen der Kunsthochschulen, – die junge Generation also – mit ihren berechtigten, interessanten Vorstellungswelten werden in den Diskurs dieser Mailingliste ebenso einbezogen wie Künstler, Museen und Designer. Der bundesländerübergreifende Charakter der Mailingliste bietet Ihnen ein Forum zu effektiver Darstellung Ihrer Arbeit im Kunstbereich." (a.a.O.) [1]
1.2 Was ist eine Mailingliste?
Eine Mailingliste ist – knapp umschrieben – ein öffentliches schriftliches Diskussions- und Gesprächsforum mittels E-Mail zu einem bestimmten Themengebiet. Themengebiete von Mailinglisten beziehen sich auf alle menschlichen Lebens- und Interessenbereiche. Neben Diskussionsrunden und Informationsbörsen nutzen viele Mitglieder von Mailinglisten dieses Medium auch, um Fragen oder Hilfsgesuche zu stellen, um Dienste anzubieten und Kooperationen zu ermöglichen (KRONENBERG 1995, S.93ff.). Eine Mailingliste können alle abonnieren, die einen E-Mailzugang haben. Ist man in einer Mailingliste eingeschrieben, so erhält man automatisch alle E-Mails, die in/an die Liste geschrieben werden, und man selbst kann auf dem Wege der Liste alle Listenmitglieder zugleich erreichen. [2]
Es gibt Gesprächsgruppen, die allen Interessenten offen stehen, und solche, bei denen eine Moderatorin bzw. ein Moderator den Zugang regelt. Für unmoderierte Listen – wie die hier analysierte – werden alle Beiträge vom Mail-Server automatisch an die eingetragenen Mitglieder verschickt. Bei moderierten Gruppen liest eine Moderatorin bzw. ein Moderator jede Mail, bevor sie zur Veröffentlichung in der Liste freigegeben wird. In welcher Form die Listenbeiträge verschickt werden – ob gesammelt oder einzeln –, kann von Liste zu Liste unterschiedlich sein. Bei der hier analysierten Liste bekommt man automatisch die neuesten Beiträge der Liste einzeln in seine Mailbox geschickt. [3]
Ein Blick auf die Inhaltsverzeichnisse von Mailinglisten-Servern, also Anbietern von Mailinglisten, wie http://www.liszt.com oder http://www.listserv.gmd.de [Broken link, FQS, August 2005] macht deutlich, dass neben Themen aus Bereichen des Privaten und sozialen Alltags, aus dem Freizeitsektor sowie Themen zur Computeranwendung vor allem auch Mailinglisten mit berufsorientierten Themen eingerichtet werden. Neben diesen an der Berufspraxis orientierten Mailinglisten wird Mailinglisten-Kommunikation insbesondere in den verschiedenen Wissenschaften gepflegt, um Erfahrungen, Zwischenergebnisse von Forschung oder auch Fragen innerhalb kürzester Zeit anderen wissenschaftlich Tätigen mitzuteilen. Beispielsweise gibt es auf die Pädagogik bezogen den Unterschied zwischen Mailinglisten für Lehrerinnen und Lehrer einerseits, in denen praxisnahe Themen rund um Unterricht und Schule behandelt werden, und für Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler andererseits, in denen Themen aus der Forschung vorherrschen. Dass die Grenzen fließend sein können, belegt die Entwicklung in kleineren Fachgebieten. Je kleiner ein Fachgebiet ist, desto geringer ist die Anzahl der Listenteilnehmenden; oder die Gruppe öffnet sich – wie im hier analysierten Fall: Teilnehmende sind u.a. sowohl wissenschaftlich als auch berufspraktisch Tätige. [4]
Mitte der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts, in "vor-Internet-Zeiten" (LANGNER 1999), als computervermittelte Kommunikation (Computer Mediated Communication) noch rein für wissenschaftliche Zwecke, vor allem für den Datentransfer und die Steuerung entfernter Rechner, genutzt wurde, boten der damals eingerichtete E-Mail-Dienst und die hierauf bald folgenden Mailinglisten früheste Möglichkeiten einer elektronisch vermittelten wissenschaftlichen Kommunikation (DÖRING 1997, S.15f.). Mailinglisten waren von ihrem Ursprung her für den Austausch unter wissenschaftlich Tätigen bestimmt. [5]
Kommunikation über E-Mail – und damit auch über Mailinglisten – zeichnet sich grundsätzlich durch Schriftlichkeit und die Geschwindigkeit des Austauschs sowie durch fehlende physische Nähe und geografische Distanz bei zeitlicher Unmittelbarkeit aus (DÖRING 1999, S.34ff.; FREYERMUTH 2000, S.95). Dieses Merkmal der Unmittelbarkeit begünstigt unbefangene, teils der Verbalsprache verwandte Interaktionsformen. Die Dauerhaftigkeit der Mails verleiht jedoch allem auch beiläufig und schnell Dahingetippten Permanenz. Diese Permanenz kann sich die empirische Forschung insofern zunutze machen, indem sie auf umfangreich vorhandenes authentisches Kommunikations- und Interaktionsmaterial zurückgreifen kann. [6]
1.3 Analysematerial, Analyseverfahren und Ziel der Studie
Alle Beiträge, die für die Mailingliste des "Netzwerkes der Kunsterziehung" seit Beginn im November 1997 geschrieben wurden, sind öffentlich abrufbar unter http://www.listserv.gmd.de/archives/germarteach-l.html [Broken link, FQS, December 2004]. Sämtliche Beiträge der Liste sind dort chronologisch und nach Themen geordnet einzeln gespeichert. Die gesamten Kommunikationsvorgänge, also was sich auf der Liste zugetragen hat, lassen sich somit Wort für Wort und komplett im Archiv der Liste nachlesen (HOFMANN 1998; KOLLMANN 2000, [7]). Auf dieses weltweit im Internet verfügbare Archiv greift die vorliegende Analyse zurück, indem systematisch die Beiträge eines Monats interpretiert wurden, und zwar nach den Regeln sozialwissenschaftlicher hermeneutischer Forschung. [7]
Die hermeneutische Interpretation zeichnet sich in Bezug auf qualitative Forschung dadurch aus, dass sie sich mit relevanten Ausschnitten von Lebenswelt befasst, die vor den Gewissheiten eines kulturell eingespielten Hintergrundes als problematisch, zumindest als neu anzusehen sind. Laut Ralf BOHNSACK versucht sie für zunächst inadäquat oder unpassend erscheinende Äußerungen einen inneren, fallspezifischen Kontext zu finden, der diese Äußerungen plausibilisiert. Die hermeneutische Interpretation zielt somit auf die spezifische Besonderheit und Entwicklungsgeschichte eines Falles (BOHNSACK 1999, S.98). Hierin sind weder subsumtionslogisches Vorgehen (das heißt die Zuordnung des Datenmaterials zu bereits vorgefertigten Klassifikationen) noch komparative Forschungselemente vorgesehen. [8]
Eine eng am originalen Material verbleibende Interpretation sowie die Verallgemeinerungsfähigkeit der Ergebnisse von Einzelfallstudien, bei denen es nicht auf Vergleiche mit anderen Fällen ankommt, zeichnet die objektive Hermeneutik aus (GARZ & KRAIMER 1994, S.14f.). Zentrales Analyseverfahren der objektiven Hermeneutik ist die Sequenzanalyse (ebd.), mit der die latenten Sinnstrukturen eines Falls rekonstruiert werden. Ziel ist es, die den Beteiligten selbst nicht oder nur teilweise bewussten Bedeutungsgehalte herauszuschälen, die aber nachweisbar die Handlungsabläufe und (Selbst-) Deutungsprozesse bestimmen. [9]
Die sequenzanalytische Vorgehensweise hat man sich so vorzustellen, dass ein Text Satz für Satz nacheinander analysiert wird. Die Analyse des ersten Satzes ist in der Regel am zeitaufwändigsten, denn die Interpretierenden kennen noch nicht den gesamten Text, sondern eben nur den ersten Satz. Dieser erste Satz bietet sehr viele, auch sehr unwahrscheinliche Interpretationsmöglichkeiten. All diese Lesarten müssen zur Geltung kommen können und probeweise an die folgenden Passagen angelegt werden. Satz für Satz lassen sich dann die "latenten Sinngehalte" herausarbeiten, denn der jeweils zuletzt hinzugenommene Satz reduziert die Anzahl der zu Beginn gefundenen Sinnstrukturen immer weiter, bis im Idealfall Sinngehalte rekonstruiert werden, die nur anhand des Textes sinnvoll sind (PEEZ 2000, S.160ff.). Da die Wege der Sequenzanalyse sehr langwierig sind, werden im Folgenden die Analysen ergebnisorientiert nachgezeichnet und vorgestellt. [10]
Für die Interpretation wurde der Monat Januar 1999 der Mailingliste deshalb ausgewählt, weil er Formen sehr unterschiedlicher Listenbeiträge enthält, u.a. kommunikative Interaktionen zwischen Schülerinnen bzw. Schülern der Sekundarstufe II und Kunstlehrenden. Allerdings musste wegen des großen Umfangs des Analysematerials (insgesamt 103 Einzelbeiträge im Monat Januar 1999) das Material, das im Folgenden vorgelegt wird, nochmals stark reduziert werden. Und zwar werden nur die Beiträge analysiert, die mittelbar und unmittelbar die Initiationsphase des Aufbaus des Servers "kunstlinks" unter http://www.kunstunterricht.de (auch http://www.kunsterziehung.de, http://www.kunstlinks.com oder http://www.kunstlinks.net) zwischen dem 20. und 28. Januar 1999 zum Thema haben. Für eine noch in Arbeit befindliche umfangreichere Studie werden sämtliche Beiträge dieses Monats analysiert und zueinander in Beziehung gesetzt. [11]
Die vorliegende qualitativ-empirische Studie will rekonstruieren, aufgrund welcher latenten Sinnbezüge kommuniziert wurde. Zu diesem Zweck zeichnet sie chronologisch die Bedeutungen nach, die das kommunikative Handeln für die Akteure hatte bzw. gehabt haben könnte. Hierbei spielt es zunächst keine Rolle, ob den Handelnden zum Zeitpunkt ihrer Kommunikation alle diese Bedeutungen klar und reflexiv bewusst waren. Fokussiert wird also der Nachvollzug der Sinnstrukturen, die sich erst bei intensiver Durchsicht deutend eröffnen. [12]
Die Interpretation des Untersuchungsmaterials bezieht sich auf die Formen der professionsbezogenen Kommunikation und auf deren Inhalte. Wie bei jeder qualitativ-empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung wurden alle Namen Beteiligter anonymisiert, das heißt verändert. Freilich wäre eine Rekonstruktion der Namen im Netz über das öffentlich zugängliche Archiv möglich. Ferner wird davon ausgegangen, dass es sich bei den an der Kommunikation Teilnehmenden um reale Personen handelt, nicht etwa um willkürliche Konstruktionen virtueller Persönlichkeiten oder etwa um Organisationen bzw. mehrere Personen, die hinter einer teilnehmenden E-Mail-Adresse stehen. Die Analyse ergab keine Anhaltspunkte für derartige Besonderheiten. [13]
Mit ihrer Zielrichtung reiht sich diese Untersuchung in den Bereich "online-research" (MOES 2000, [2]) bzw. Online-Forschung (http://www.dgof.de) ein: Es werden Diskussionsthemen und -strategien bestimmter Gruppen und sozialer Netzwerke rekonstruiert (HOFMANN 1998; LANGNER 1999). Ein zentrales Ziel ist es, die Spezifik und den Nutzen von Mailinglisten-Kommunikation für die Kunstpädagogik zu erkunden. Differenzierter betrachtet geht es nicht um die Analyse von Kommunikationsformen und -verhalten auf wissenschaftlich orientierten Mailinglisten, sondern um die kommunikative Interaktion angesichts heterogener Listenteilnehmender aus den Bereichen Handlungspraxis, Wissenschaft und Ausbildung/Studium in Bezug auf ein Berufsfeld. Der durch die Forschungsresultate rekonstruierte Einsatz der digitalen professionsbezogenen Kommunikation über Mailinglisten käme der fachlichen Entwicklung insofern zugute, als diese Kommunikationsform gezielter und bewusster eingesetzt werden könnte. Hierdurch ließen sich etwa Listen mit Spezialthemen legitimieren oder auch eine Unterstützung durch Berufsverbände und öffentliche Instanzen erreichen. Die Ergebnisse dieser Forschung werden den Mitgliedern der Liste über einen Beitrag in der Liste zugänglich gemacht, d.h. es findet eine Rückkopplung mit den Betroffenen statt. [14]
2. Aufbau eines Servers für Kunsterziehung
2.1 Anstoß zu einer gemeinsamen Linksammlung für Kunstpädagogik
Innerhalb der "GERMARTEACH-LISTE" lässt sich der Zeitpunkt zurückverfolgen, an dem ein wichtiges innovatives Projekt der gegenwärtigen Kunstpädagogik angestoßen und von da ab entwickelt wurde: der einzige Server für Kunstpädagogik in Deutschland, genannt "kunstlinks", u.a. mit dem URL http://www.kunstunterricht.de. [15]
Der erste Beitrag mit dem Subject2)) "Interessant Netz-Adresse" (alle Schreibfehler innerhalb der zitierten Mails wurden übernommen und nicht berichtigt) lautete:
Ich bin auf eine Netzadresse gestoßen, von der ich denke, daß sie für alle interessant ist: http://educeth.ethz.ch/bild/leh/ (Domes 20 Jan 1999 20:23:54) [16]
Der Listenteilnehmer Herbert Domes zitiert aus der Beschreibung der Betreiber dieses Schweizer Servers für Schulunterricht:
(...) Das Hauptziel von EducETH ist es, mit den heutigen technologischen Möglichkeiten des World Wide Web den Lehrerinnen und Lehrern qualitativ hochstehendes didaktisch aufbereitetes Material für den Unterricht anzubieten und die Lehrerinnen und Lehrer zu animieren, selbst aktiv in ihrer Berufsgruppe Materialien und Informationen auszutauschen. [17]
Herbert Domes ergänzt mit seiner Meinung hierzu:
Eine ähnliche Einrichtung wie die "Zentrale für Unterrichtsmedien" ist Karlsruhe also, aber auch eine Anregung für eine Mailing-List für KunsterzieherInnen. Der Austausch von Unterrichtsmaterial könnte doch für alle mehr als anregend sein – möglicherweise könnte man soetwas ja aufbauen. Die Beispiele, die sich auf der schweizerischen Site finden lassen, vor allem die zur Farbe, finde ich außerdem gelungen, weil sie zumindest ansatzweise die Möglichkeiten des Computers benutzen.
Gruß
KD (a.a.O.) [18]
In diesem Listenbeitrag werden zwei Elemente deutlich: Zum einen enthält er eine Anregung für die anderen Listenteilnehmenden, eine Site zu erkunden, die beispielhafte Unterrichtsmaterialien des ansatzweisen Einsatzes digitaler Medien im Kunstunterricht beinhaltet. Zum anderen enthält der Beitrag aber auch in einem Nebensatz den vorsichtig formulierten Versuch, die Entwicklung einer ähnlichen Einrichtung anzuregen:
Der Austausch von Unterrichtsmaterial könnte doch für alle mehr als anregend sein – möglicherweise könnte man so etwas ja aufbauen. (a.a.O.) [19]
Umgehend erscheint weniger als zwanzig Minuten später ein Beitrag von Klaus Müller:
Ich bin gerade dabei, eine kommentierte Kunstseite aufzubauen: das ist ein Prototyp!!!
Die Idee entstand hier, weil ZUM [gemeint ist die von Domes angesprochene "Zentrale für Unterrichtsmedien" in Karlsruhe; G.P.] nicht wirklich gut kommentiert und vor allem auch unsystematisch ist!
Ich würde mich freuen, wenn wir die Seite hier diskutieren könnten und dann – bei fertigem Konzept – möglichst viele mitarbeiten würden!!
Klaus Müller (Müller 20 Jan 1999 20:45:21) [20]
Deutlich wird an diesen beiden Mails, in welch kurzer Zeit das Medium Mailingliste nicht nur ein "Zwiegespräch" initiieren kann, sondern vor allem, wie schnell Kolleginnen und Kollegen bzw. Listenteilnehmende zur Mitarbeit an einem umfassenden Projekt aufgefordert werden können. An eine in einem Nebensatz geäußerte Idee anschließend wird ersichtlich, dass andere in Deutschland die gleiche Idee wie der erste Mailschreiber Herbert Domes hatten und an der Realisierung eines solchen Projekts bereits arbeiten. Synergieeffekte können innerhalb kürzester Zeit professionsbezogen genutzt werden; ein Vorteil, den zurzeit kein anderes Kommunikationsmedium in dieser Weise bietet. Klaus Müller schreibt, dass er zwar alleine das Projekt "kommentierte Kunstseite" als "Prototyp" startete ("Ich bin gerade dabei, eine kommentierte Kunstseite aufzubauen"), die dann folgende Formulierung legt aber nahe, dass es sich vielleicht um eine Gruppe handelt, in der die Grundidee wuchs: "Die Idee entstand hier, (...)". [21]
Eine weitere wichtige Funktion der Mailingliste besteht ferner nach Absicht Klaus Müllers darin, dass der bisherige "Prototyp" einer "kommentierten Kunstseite" durch konstruktive Kritik und Diskussionen zum Thema optimiert werden soll: "Ich würde mich freuen, wenn wir die Seite hier diskutieren könnten (...)". Es soll eine Alternative zu einem bisherigen Projekt entstehen, und zwar will man aus den als Mängel empfundenen Charakteristika der Linksammlung der Zentrale für Unterrichtsmedien lernen: "(...) weil ZUM nicht wirklich gut kommentiert und vor allem auch unsystematisch ist!" [22]
Der erste Satz der Mail von Klaus Müller endet mit drei Ausrufezeichen, der zweite Satz mit einem und der dritte Satz mit zwei Ausrufezeichen. Diese Ausrufezeichen können zum einen auf die große Bedeutung hinweisen, die der Schreiber seinen Zeilen zumisst. Zum anderen lässt sich auf eine gewisse Aufregung des Schreibers schließen. Ferner deuten die Ausrufezeichen Spontaneität an, insofern als sie auf eine schriftsprachlich impulsive Äußerung schließen lassen. Es handelt sich hier um ein typisches Phänomen von E-Mails, in denen emotionale Aspekte von Sprache nicht durch Betonungen, wie beim Sprechen, oder durch das Schriftbild, wie beim handgeschriebenen Brief, vermittelt werden können. Darauf, wie sich diese Spezifika auf Sprache und Schriftbild auswirken, wird weiter unten eingegangen (vgl. Abschnitt 2.4). [23]
Kurze Zeit später, noch am gleichen Abend, antwortet Herbert Domes:
Super, daß sich da jemand die Arbeit macht – um Konkretes dazu diskutieren zu können, muß ich mir das Ganze nochmal genauer anschauen und mir ein paar Gedanken dazu machen, aber ich komme darauf zurück – versprochen.
Ein Link vorweg: Ein paar gute Tips zum Netzdesign gibt es unter: http://abelns2.hgkz.ch/webdesign/project/digigestaltung.htm
spätabendlicher Gruß KD (Domes 20 Jan 1999 21:43) [24]
In diesem Listenbeitrag spielt u.a. der Faktor Zeit eine Rolle: In der Schnelligkeit, in der sich der Austausch entwickelte, kann er nach Ansicht des Schreibers nicht weitergeführt werden, weshalb sich Herbert Domes für eine inhaltliche Auseinandersetzung Zeit nehmen will: "(...) muß ich mir das Ganze nochmal genauer anschauen und mir ein paar Gedanken dazu machen (...)". Offenbar hat er den von Klaus Müller erwähnten Hyperlink nur kurz angeklickt und die dazugehörende Site überflogen. Doch fügt er zugleich eine weitere Information mit einem von ihm als "gut" bewerteten Link zur Site-Gestaltung an, damit der indirekt angesprochene Listenteilnehmer Klaus Müller, aber auch andere Mitlesende, sich inzwischen hiermit beschäftigen können. So gehen diese beiden Aspekte zeitlich parallel vonstatten. Die Beendigung des Beitrags mit "spätabendlicher Gruß" deutet darauf hin, dass die Listenteilnehmenden auch in den Abendstunden ihre Mails schreiben. Beruf und Privatbereich scheinen hier sowohl ortsbezogen als auch zeitbezogen zu diffundieren - ein Trend, der anhand der Listenbeiträge, aber auch gezielter Befragungen noch genauer zu untersuchen wäre. [25]
In den Dialog zwischen Herbert Domes und Klaus Müller schaltet sich am folgenden Tag um die Mittagszeit erstmals eine Dritte ein:
Ich werde mich gerne an einer solchen Kunstliste beteiligen. Ich stelle derzeit einen Webguide mit relevanten Adressen für KunstpädagogInnen zusammen. Sobald die Homepage mit Linksammlung fertiggestellt ist, werde ich Sie dem Netzwerk zur Diskussion zur Verfügung stellen.
Elsa Mandel (Mandel 21 Jan 1999 12:53:10) [26]
Deutlich wird, dass andere offensichtlich an ähnlichen Projekten arbeiten, auch wenn Elsa Mandel von einem "Webguide mit relevanten Adressen für KunstpädagogInnen" bzw. von einer "Homepage mit Linksammlung" schreibt. Ähnlichkeiten und Unterschiede zu Klaus Müllers Projekt "Prototyp" "kommentierte Kunstseite" lassen sich zu diesem Zeitpunkt nur erahnen, da Elsa Mandel ihre Site ja noch nicht im Netz zugänglich gemacht hatte. Sie macht aber ihre Bereitschaft zur Mitarbeit sehr deutlich: "Ich werde mich gerne an einer solchen Kunstliste beteiligen." Ein solcher Hinweis auf Bereitschaft zur Mitarbeit findet sich hingegen nicht in der folgenden Mail zum Thema:
Liebe Leute,
ich war bis jetzt nur Leser. Mein Name ist Sven Wenge, ich bin Referendar und forsche hauptsächlich in den Bereichen Kunstpädagogik/Internet/Neue Medien und Jungenästhetik.
Ich habe http://www.kunstlehrende.de [URL geändert; G.P.] registrieren lassen und werde mich nach Abschluß meiner Magister-Prüfungen etwa ab März mit dem Aufbau beschäftigen. Als erste Information findet Ihr anbei einen kurzen Text. Bitte habt Verständnis, wenn ich mich erst in ein paar Wochen darüber hinaus äußern kann.
Ich möchte nur jetzt, da verschiedene Websites zum Thema auftauchen, kurz auf die Adresse hinweisen.
Schöne Grüße, Sven (...) (Wenge 21 Jan 1999 21:21:45) [27]
Der Listenteilnehmer Sven Wenge stellt sich kurz vor. Üblich ist eine solche Kurzvorstellung, wenn man seinen ersten Listenbeitrag verfasst. Die Art einer solchen ersten Mail ist jedoch nicht festgelegt. Sven Wenge wählt eine sachliche und professionsbezogene Form, indem er seine gegenwärtige Tätigkeit und seine Forschungsinteressen umreißt. Insbesondere weist er auf die von ihm registrierte Domain hin, mit deren Aufbau er sich beschäftigen wolle, um "in ein paar Wochen" mehr hierüber mitteilen zu können. Auffällig ist, dass ein Studierender – zumal der Kunstpädagogik – schreibt, dass er "forsche". Insbesondere im Magisterstudiengang "Kunstpädagogik" haben die künstlerisch-praktischen Anteile einen höheren Stellenwert als die theoriebezogenen didaktischen Studieninhalte. Mit forschenden Tätigkeiten sind üblicherweise die Lehrenden eher als die Studierenden betraut. Sven Wenge ist Studierender und Referendar zugleich, und er forscht darüber hinaus; hiermit signalisiert er hohe und vielfältige professionelle Kompetenz. Eine Entwicklung ist ab hier in unterschiedliche Richtungen möglich: Wenn mehrere Personen unabhängig voneinander an ähnlichen Projekten arbeiten, könnte sich eine Kooperation entwickeln, denkbar wäre aber auch eine von Konkurrenz geprägte Entwicklung. [28]
Auf Elsa Mandels Beitrag eingehend bittet Klaus Müller – ohne Sven Wenges Beitrag wohl bisher gelesen zu haben – um eine Koordination, wenn er ihr als Antwort schreibt:
können wir das nicht vorher ein bisschen koordinieren? Muss sich ja nicht jeder die gleiche Arbeit machen – oder?
KM (Müller 21 Jan 1999 22:08:28) [29]
Die bisher erfolgten Einzelaktivitäten von Elsa Mandel scheinen Klaus Müller bereits zu weit zu gehen, er versucht Elsa Mandel zwar nicht zu stoppen, aber schlägt Koordination vor. Elsa Mandel beabsichtigte ursprünglich, ihr Projekt so weit fertig zu stellen, dass es im Netz erscheinen kann, um es dort betrachten und innerhalb der Liste diskutieren zu können. Müller vermutet, dass Elsa Mandels und sein Projekt Ähnlichkeiten aufweisen, wenn er schreibt: "Muss sch ja nicht jeder die gleiche Arbeit machen – oder?" [30]
In der selben Nacht noch antwortet Klaus Müller auch auf Sven Wenges Beitrag:
In welchem Rahmen soll das passieren? Als Hobby?
Vielleicht könnte man ja auch hier was koordinieren!
Schöne Grüße,
Klaus (Müller 22 Jan 1999 00:03:04) [31]
Gerade weil Sven Wenge in seinem Beitrag seine Interessen- und Forschungsgebiete nennt – u. a. "Internet/Neue Medien" – und weil er offensichtlich noch in der Prüfungsphase steckt, die von wissenschaftlichen Arbeitsformen, u.a. der Auseinandersetzung mit Fachtheorien, geprägt ist, überrascht die Frage Klaus Müllers "In welchem Rahmen soll das passieren? Als Hobby?" In Bezug auf den hohen professionellen Anspruch, den sich Sven Wenge gibt (Nennung von eigenen Forschungsbereichen; in der Schule tätiger Referendar, also Absolvent der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt und Magisterstudierender), wirkt das Wort "Hobby" kontrastierend und könnte provokativ aufgefasst werden. In Gegensatz zu Sven Wenge verfügen alle bisher am Austausch Beteiligte über Berufserfahrung. Vor allem der erste Fragesatz zielt auf dem professionellen Hintergrund – den "Rahmen" – des Studenten Sven Wenge. Klaus Müller selbst ist in der Lehrerfortbildung seines Bundeslandes aktiv. Herbert Domes arbeitet an der Hochschule für Bildende Künste im Bereich Computergrafik, und Elsa Mandel ist Mitarbeiterin an der Universität M.stadt im Fach Kunsterziehung. (Diese Zusatzinformationen ergeben sich aus der Sichtung vorhergehender Mails.) Aus Sven Wenges Mail-Adresse und dem Inhalt seiner Mail geht hervor, dass er an der Universität in W.stadt studiert. Die Ursache des Fragezusatzes von Klaus Müller "Als Hobby?" könnte also darin liegen, dass er kritisch beurteilt, dass ein Student ein solches Unternehmen ohne Berufserfahrung und evtl. ohne institutionellen Hintergrund startet. [32]
Auffallend ist in formaler Hinsicht, dass sich Klaus Müller mit "Schöne Grüße," unter seinem Beitrag dem Beitrag von Sven Wenge völlig angleicht. Ob dies mit der Kopierfunktion übernommen wurde oder ob Klaus Müller bis auf's Komma den Gruß von Sven Wenge abtippte, ist für die Interpretation nicht mehr nachvollziehbar. Bedeutung hätte eine Aussage zu diesem Phänomen insofern, als diese Angleichung entweder schnell übernommen wurde oder mimetisch intensiver nachvollzogen wurde. Die Grußformen und Unterschriften werden in solchen Fällen in die vorliegende Analyse mit einbezogen, wenn eine Auffälligkeit zu einer Klärung der untersuchten Sachverhalte führen kann (vgl. auch 3. Resümee). Der an Sven Wenge gerichtete Satz "Vielleicht könnte man ja auch hier was koordinieren!" gleicht inhaltlich dem vorherigen, auffordernden Angebot an Elsa Mandel: "können wir das nicht vorher ein bisschen koordinieren?" [33]
Der hierauf folgende Beitrag greift sowohl das Stichwort "koordinieren" auf als auch die in Hinblick auf professionelle Ansprüche dargestellte Diskrepanz, die durch das Wort "Hobby" im Einwurf Klaus Müllers oben rekonstruierend dargestellt wurde. Daniela Stüber schreibt (Stüber 22 Jan 12:48:37) mit einer Anrede an alle:
Liebe Listenteilnehmer –
ja, da sollte wirklich Koordination stattfinden. Gerade wenn sich vieles wiederholt und Arbeit gespart werden kann. Und unnötige Überschneidungen. [34]
Hiermit stimmt sie sowohl Herbert Domes als auch insbesondere Klaus Müller zu. Kritischer äußert sie sich zu Klaus Müller, indem sie Sven Wenges Listenbeitrag deutend schreibt:
Außerdem denke ich, wenn jemand eine Seite mit einem so gewichtigen Namen (www.kunstlehrende.de) konstruiert, kann das nicht als Hobby sein. Klingt ja auch nicht so. [35]
Daniela Stüber zeigt sich irritiert durch das Wort "Hobby". Sie kann Klaus Müllers Aussage bzw. Frage in dieser Hinsicht nicht nachvollziehen, sie schlägt sich auf die Seite von Sven Wenge. Aus den weiteren Listenbeiträgen wird deutlich, dass sie auch Studierende ist. [36]
Die bisherige Analyse der Mails macht deutlich, welche disparaten Aspekte eine Situation, die im Folgenden zu einem gemeinsamen Projekt führen wird – Aufbau eines Servers für Kunstpädagogik – latent mit prägen. Vor allem ist die Diskussion über professionelle Ansprüche der sich auf der Liste Äußernden ein weitgehend indirektes, aber wichtiges Thema. [37]
2.2 Ein Listenbeitrag für viele Personen und zugleich für Einzelne
In diesem Abschnitt sollen spezifische Formen der Interaktion mittels des Mediums Mailingliste näher betrachtet werden. In der gerade erwähnten Mail wendet sich Daniela Stüber im dann Folgenden direkt mit einer Frage in ganz anderer Sache an Sven Wenge:
Mich würde noch interessieren, wie das läuft (dies richtet sich an Sven Wenge): Du bist gleichzeitig Referendar und machst deinen Magister? Kläre mich doch bitte auf (da ich demnächst auch mein Referendariat beginnen werde – hoffentlich – interessieren mich alle Organisationsmöglichkeiten und -variationen), auch wie diese Forschungsarbeit aussieht. [38]
Daniela Stüber spricht Sven Wenge nun direkt mit "Du" an, wie unter Studierenden üblich. Sie möchte erstens etwas zur individuellen und organisatorischen Koordination von Lehramtsstudiengang und Magisterstudiengang mit den entsprechenden Abschlüssen wissen. Sie bringt dies mit ihrer eigenen Lebenssituation kurz vor dem Referendariat in Zusammenhang, eine Aussage, die empathische Elemente enthält. Zweitens fragt sie auch inhaltlich nach dessen "Forschungsarbeit", was im weitesten Sinne die von Wenge benannten Gebiete "Kunstpädagogik/Internet/Neue Medien und Jungenästhetik" betrifft. Durch die Benutzung des Wortes "Arbeit" in "Forschungsarbeit" misst sie den Aussagen Sven Wenges große Bedeutung zu und setzt dies nochmals indirekt von den "Hobby"-Implikationen Klaus Müllers ab. [39]
Ferner spricht sie im selben Beitrag sofort hierauf Elsa Mandel an:
Liebe Elsa Mandel – dieser WebGuide mit den Links interessiert mich natürlich auch, da ich in der BCE an der HBK F.stadt [gemeint
ist die Bereichsstelle Computergrafik und Ästhetische Erziehung an der Hochschule der Bildenden Künste, F.stadt, an welcher
auch Herbert Domes arbeitet; G.P.] versuche, die Linkliste zu pflegen (jetzt ist sie gerade wieder etwas veraltet):
http://www.hbk-fs.de/BCE/adress.htm
Grüße,
Daniela Stüber (a.a.O.) [40]
Daniela Stüber nutzt also ihren Beitrag, den sie mit "Liebe Listenteilnehmer –" beginnt, für direkte Fragen an zwei Personen, die freilich von allen Listenteilnehmenden gelesen werden. Diese "Listen-Öffentlichkeit" ermöglicht es anderen Lesenden, sich selbst später auch einzuschalten. Hier handelt es sich um Ähnlichkeiten zu dem, was im Analogen mit 'öffentlichem Brief' bezeichnet wird; ein persönliches Anschreiben können viele lesen. Die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit verändern sich, indem mehr private Anteile öffentlich werden. Auffällig ist bei Daniela Stüber die Nutzung eines Bindestriches nach der Anrede, eine Form, die im Briefeschreiben nicht verwendet wird, obwohl sie die Briefanrede "Liebe" wählt. Während Sven Wenge und Klaus Müller ihren Beitrag mit "Schöne Grüße," endeten, beschließt Stüber ihren mit "Grüße,". Weisen Briefe auf Papier einen hohen Grad der formalen Standardisierung auf – gerade in Anrede und "Abspann" –, so ist dies bei E-Mails weniger der Fall. Die Schreibenden können hier mit der Schriftsprache und dem Zeichensatz der Tastatur "freier" umgehen (vgl. KOLLMANN 2000, [12f.]). Weniger Ritualisierung kann jedoch auch zu Unsicherheiten und Missverständnissen führen, wie weiter unten dargelegt wird (vgl. Abschnitt 2.4). [41]
Umgehend erhalten Daniela Stüber sowie die ganze Liste eine kurze Antwort von Sven Wenge.
> (...) Du bist gleichzeitig Referendar und machst deinen Magister?
Ja, nach dem Haupt- und Realschullehrerstudium hätte ich keine Promotionsberechtigung. Und wer will schon auf ewig in der Schule festhängen?!
> Kläre mich doch bitte auf (da ich demnächst auch (...)) (Wenge 22 Jan 15:15:05) [42]
Sven Wenge lässt mit diesen zwei Sätzen ohne Anrede und Gruß in seinem Reply-Mailbeitrag3) Daniela Stübers Fragen unbeantwortet, denn diese fragte ja nicht nach seiner Motivation, den wissenschaftsorientierten Magisterabschluss zu absolvieren, sondern danach, wie er beide Studiengänge koordiniert: "interessieren mich alle Organisationsmöglichkeiten und -variationen". Zudem lässt Sven Wenge auch Daniela Stübers Frage nach dessen "Forschungsarbeit" unbeantwortet. Sven Wenges Statement drückt eine negative Einstellung gegenüber der Schule aus: "Und wer will schon auf ewig in der Schule festhängen?!"; eine Aussage, die er in einer Mailingliste kundtut, die hauptsächlich von in allgemein bildenden Schulen das Fach Kunst Lehrenden gelesen wird. Ein solcher Satz kann provokativ gemeint sein oder zumindest so verstanden werden. In professionsbezogener Hinsicht spielt er Wissenschaft gegen schulische Berufs- und Handlungspraxis aus, das zweite eindeutig als negativ bewertend. [43]
Mailinglisten erzeugen neue Formen der schriftlichen Kommunikation, in denen sich private und öffentliche Anteile vermischen. Diese Mischungsverhältnisse führen zu kommunikativen Interaktionen in einer Zwischensphäre, die private Elemente etwa in einer persönlichen Ansprache enthalten, die aber zugleich unter dem Einfluss der Veröffentlichung durch die Liste stehen. Wenig zueinander kongruente Fragen und Antworten können die Folge sein. [44]
2.3 Versuch der Einleitung einer konstruktiven Kooperation
Zwei Tage später wendet sich Klaus Müller nochmals über die Liste direkt an Sven Wenge, den er nun duzt:
"Lieber Sven.Wenge"4)"sei doch nicht so karg mit Deinen Informationen! Jetzt sind wir alle neugierig geworden!" [45]
Klaus Müller nimmt für sich in Anspruch, gegenüber dem "Neuen" für "alle" zu sprechen.
Also: Was ist das für eine geplante Homepage? (drei, vier Sätze genügen ja vielleicht für den ersten Moment!) Grüße!
Klaus Müller (Müller 24 Jan 1999 00:57:11) [46]
Inzwischen hatte Elsa Mandel im Gegensatz zu Sven Wenge mit einem "Ja, gerne, aber wie könnte man da vorgehen?" ihre Bereitschaft zur Kooperation signalisiert, woraufhin Klaus Müller sehr deutlich "Nägel mit Köpfen" zu machen versucht. Er möchte eine kooperative Arbeitsphase einleiten, indem er auf die in Abschnitt 2.2 analysierten Beiträge von Sven Wenge und Daniela Stüber nicht direkt eingeht, sondern an seine frühere Mail (Müller 20 Jan 1999 20:45:21) und an darin geäußerte Intentionen anschließt:
1. Ich schlage vor, alle Interessierten schauen sich mal die Gliederung von www.lrz-astadt.de/~GO/kunst an. Darüber sollten wir uns als erstes einigen.
2. Dann müssten wir uns über den Grad der Kommentierung einigen.
3. Dann sollten wir ein System finden, dass Links mit Kommentar (gezeichnet von einem Verantwortlichen) an eine zentrale Stelle geschickt werden. Diese Stelle sollte Link und Kommentar nochmals überprüfen und dann einbauen!
4. Wo das passiert, ist egal. Es muß nur zuverlässig passieren!
5. Verantwortlich zeichnen dann zusammen: z.B. Elsa Mandel, Daniela Stüber, Herbert Domes, Sven Wenge, Bernd Karl und ich. Eine echte Kooperation im Netz!! Wow!
Lasst mal was hoeren!
Klaus (Müller 24 Jan 01:50:39) [47]
Zwar macht Klaus Müller nur einen Vorschlag, wie er eingangs schreibt, doch enthält seine aufzählende durchnummerierte Phasierung des weiteren Entwicklungsprozesses eine feste Struktur. Klaus Müller legt einen klaren Plan vor. Bei den Verantwortlichen fügt Klaus Müller eine weitere Person "Bernd Karl" an, die zunächst lediglich als Mailadresse im CC-Feld5) ausgewiesen ist: "karl@fcb.net". Dies deutet darauf hin, dass diese Person nicht Mitglied der Liste ist, sonst wäre eine CC-Kopie dieser Mail an Karl nicht nötig. Klaus Müller erweitert hierdurch die "interne Öffentlichkeit" der Mailingliste, indem er eine Person von außerhalb mitlesen lässt. Eine bisher recht offene und unverbindliche Diskussion soll hier durch einen Strukturvorschlag in eine produktivere Koordination kanalisiert werden. Diese Strukturiertheit erfährt ein Gegengewicht durch umgangssprachliche, mit Ausrufezeichen versehene Elemente wie: "Wow!" oder "Lasst mal was hoeren!" Hierdurch wird die inhaltliche Strenge formal zurückgenommen. [48]
Parallel zu diesem Versuch, Aktivitäten zu bündeln und zu strukturieren, erläutert Sven Wenge sein Engagement. Er schreibt u.a. zu seinem eigenen geplanten Projekt und auf Fragen von Klaus Müller antwortend:
(...) www.kunstlehrende.de soll die Kunstpädagogik-Zentrale im Netz werden. Ich finanziere die Aktion selbst, werde Werbung in erträglichem Umfang einbauen; außerdem biete ich Mail-Accounts an (xy@kunstlehrende.de). Das ganze ist zwangsläufig mein "Hobby", weil mich dafür keiner bezahlt. So einfach ist das. Bezüglich meiner Gestaltungsgrundsätze will ich hier nur anmerken, daß ich Anhänger der "reinen Lehre" bin: Eine Seite sollte nur in begründeten Ausnahmefällen länger als etwa 35 kB sein, und eine Grafik muß immer eine sinnvolle Funktion haben... Näheres siehe auch in meinem Text "Internet-Programmierung für KunstpädagogInnen" in "Chancen und Grenzen der Neuen Medien im Kunstunterricht", BDK-Verlag Hannover 1998. Der Text wird auch online verfügbar sein.
Und hier beginnt wieder die Vertrösterei: Erst ab März wird www.kunstlehrende.de mehr aufweisen als die Ankündigung, die es jetzt enthält.
Ich muß mich dann mal wieder um eins meiner Prüfungsthemen kümmern: "Die Grenzen des Wachstums" – ich bin Kunstpädagoge und Politologe, was (zumindest in W.stadt) eine exotische Kombination mit weniger als einer handvoll Studies ist.
Schöne Grüße und schlagt mich nicht, wenn zwischen Ankündigung und Realisierung noch ein paar Tage vergehen,
Sven (Wenge 24 Jan 1999 11:50:59) [49]
Sven Wenge umspielt die zuvor interpretativ herausgearbeitete Diskrepanz zwischen seinem professionellen Anspruch und dem Wort "Hobby", indem er "Hobby" so deutet, dass es keinen finanziellen Verdienst ermöglicht. Er macht sich diesen Begriff hierdurch zueigen, anstatt ihn von sich zu weisen, was Daniela Stüber ihm ja zuvor nahe legte. Mit der Formulierung "und schlagt mich nicht, wenn zwischen Ankündigung und Realisierung noch ein paar Tage vergehen" ironisiert er das Missfallen, das er erregte, indem er sich selbst gegenüber den anderen als den Schwächeren darstellt. Zudem tun sich Assoziationen zu früher üblichen Erziehungspraktiken auf. Der Student bittet die Lehrerinnen und Lehrer, ihn nicht körperlich zu züchtigen. Eine zusätzliche Deutungsvariante dieser Sequenz bezieht sich auf die Klärung der Verantwortlichen für das behandelte Projekt. Indem Sven Wenge "www.kunstlehrende.de" als "die Kunstpädagogik-Zentrale im Netz" ankündigt, beansprucht er genau das zu tun, was auf der Mailingliste gemeinsam ausgehandelt werden soll. Sein Abschlusssatz "und schlagt mich nicht, wenn zwischen Ankündigung und Realisierung noch ein paar Tage vergehen" wäre dann eine rhetorische Figur, weil er damit implizit voraussetzt, dass die anderen mit der Aufgabe, die er sich selbst zugeschrieben hat, einverstanden sind. Er würde ihnen hierbei lediglich unterstellen, die zügigere zeitliche Realisierung anmahnen zu können. Doch soll auf der Mailingliste nicht nur die zeitliche und inhaltliche Entwicklung sowie Verwirklichung ausgehandelt werden, sondern auch, welche Beteiligten das Votum zum Organisieren des Servers erhalten sollen. In dieser Hinsicht bietet Sven Wenge nicht seine Kooperation an. Sein letzter Satz macht deutlich, dass er sich alleine "gegen die Anderen" positioniert. [50]
Auf Klaus Müllers Listenbeitrag mit dem Versuch einer Koordination und Phasierung der Arbeit reagiert eine weitere Person, und zwar die Initiatorin der "GERMARTEACH-LISTE", indem sie noch am gleichen Tag, einem Sonntagmorgen, schreibt:
Könnt Ihr mich bitte noch mit in die Reihe der Verantwortlichen mit aufnehmen?
Es wäre schön, wenn diese Mailingliste "Germarteach-l" und auch die "Virtuelle Kunstausstellung" dort vernetzt wären.
Übrigens ist es sicher möglich, in einem Referat zitierte Kunstwerke als Link einer bereits vorhandenen Abbildung im Netz zu dokumentieren (vgl. Virtuelle Kunstausstellung http://www.tu-bs.de/schulen/thg_wf/ausstell/ den Beitrag "Betroffenheit").
Bis bald
Herta (Winkler 24 Jan 1999 11:15:46) [51]
Herta Winkler ist also darauf bedacht, dass zwei ihrer bisherigen Projekte im Netz mit dieser neuen Linkliste verbunden werden. Eine weiterführende Idee für die inhaltliche Gestaltung nennt sie nicht, sie geht also nicht auf Klaus Müllers Vorschläge ein. Für die praxisnahe Nutzung bezieht sie sich jedoch auf die Möglichkeit, "in einem Referat zitierte Kunstwerke als Link einer bereits vorhandenen Abbildung im Netz zu dokumentieren". Hinzu fügt sie ein anklickbares Beispiel von der Site "Virtuelle Kunstausstellung". [52]
Klaus Müller antwortet auf Herta Winklers Frage "Könnt Ihr mich bitte noch mit in die Reihe der Verantwortlichen mit aufnehmen?", indem er mittels umgangssprachlicher Elemente ("sorry!", "natürlich!!", "eh") und insgesamt mit vier Ausrufezeichen schreibt:
sorry! natürlich!! Es gibt eh keine Reihe von Verantwortlichen – im Moment jedenfalls noch nicht – aber hoffentlich bald!
(Müller 24 Jan 1999 21:29) [53]
Überraschend ist dieser Satz Klaus Müllers insofern, als er selbst die für die Kooperation Verantwortlichen bereits zuvor vorgeschlagen hatte: "5. Verantwortlich zeichnen dann zusammen: z.B. Elsa Mandel, Daniela Stüber, Herbert Domes, Sven Wenge, Bernd Karl und ich. Eine echte Kooperation im Netz!! Wow!" (Müller 24 Jan 01:50:39) Klaus Müller spricht sich nun indirekt leicht gegen den von ihm selbst zuvor vermittelten und von Herta Winkler wiedergegebenen Eindruck aus, die Reihe der Verantwortlichen sei festgelegt. Denn "sorry! natürlich!!" bezieht sich darauf, dass Herta Winkler noch in die Reihe der Verantwortlichen aufgenommen werden möchte. Die Reihe der Personen ist aber laut Klaus Müller offen und erweiterbar, doch wird eine solche feste Gruppe von verantwortlichen Personen von Klaus Müller in naher Zukunft deutlich angestrebt. Verständnisschwierigkeiten darüber, welche Aussagen verbindlich sind und welche nicht, zeigen sich. [54]
2.4 Beiträge als "Resonanzböden" für unterschiedliche Folgebeiträge
Steht in den Abschnitten 2.1, 2.3 und 2.6 – der Chronologie der Listenmails folgend – der Aufbau des Servers "kunstlinks" im Mittelpunkt der Interpretation, so erfolgt die Analyse in Abschnitt 2.4, 2.5 und 2.7 ebenfalls weiterhin chronologisch, sie fokussiert thematisch allerdings allgemeinere Charakteristika von Kommunikation auf Mailinglisten und die hiermit zusammenhängenden Rollen. Solche allgemeinen Charakteristika prägen auch den professionsbezogenen Austausch mit diesem Medium. Ergebnisse aus beiden Analysesträngen werden im Resümee (vgl. Abschnitt 3.) zusammengefasst. [55]
Der Beitrag von Sven Wenge (Wenge 21 Jan 1999 21:21:45) dient – wie in Abschnitt 2.2 dargestellt – den verschiedenen Listenmitgliedern als "Resonanzboden" für thematisch sehr unterschiedliche Reaktionen in Form von Listenbeiträgen. Ein der Sequenzialität des Bisherigen folgendes Beispiel hierzu: Einen weiteren Punkt der ersten Mail Sven Wenges in der Liste greift sich Herta Winkler heraus. Herta Winkler zitiert Sven Wenge:
ich war bis jetzt nur Leser. Mein Name ist Sven Wenge, ich bin Referendar und forsche hauptsächlich in den Bereichen Kunstpädagogik/Internet/Neue Medien und Jungenästhetik. [56]
Winkler fragt hierauf:
Jungenästetik ???
Was gilt? Jungen-, Jugend- oder Junge Ästhetik?
bis bald
Herta (Winkler 24 Jan 1999 11:19:06) [57]
Herta Winkler scheint über das Wort "Jungenästhetik" überrascht zu sein, sie scheint es nicht zu kennen – worauf die angefügten drei Fragezeichen hinweisen; und/oder Herta Winkler vermutet evtl. einen Tippfehler in Sven Wenges Mail. Sie listet deshalb verschiedene linguistisch-formal, nicht inhaltlich verwandte Wörter auf: "Jungen-, Jugend- oder Junge Ästhetik?" Sie stellt diesen Wortvarianten die kurze Frage "Was gilt?" voran. Statt "Was meinen Sie?" zu fragen, wird knapp auf eine Formulierung zurückgegriffen, die auf Geltung im Sinne von "richtig" verweist. Eine wörterbuchähnliche Definition könnte eine klare und "gültige" Antwort bieten. Durch die folgenden kommunikativen Interaktionen erwartet die Fragende Herta Winkler Eindeutigkeit von Sven Wenge. Doch hierzu kommt es nicht. Bei Herta Winklers Rückfrage schleicht sich beim Wort "Jungenästetik" nämlich bei ihr selbst – die möglicherweise einen Tippfehler bei Sven Wenge vermutete – ein Tippfehler ein. Dies ist wiederum Anlass für den Noch-Studenten, der Lehrerin nun ihren eigenen Tippfehler deutlich werden zu lassen, indem er mit "sic! [also, mit h natürlich ;-)]" antwortet. Die gesamte Sequenz im Listenbeitrag lautet:
>Jungenästetik ???
sic! [also, mit h natürlich ;-)]
>Was gilt? Jungen-, Jugend- oder Junge Ästhetik?
>>bis bald
>Herta
(Wenge 24 Jan 1999 17:31:46) [58]
Dem Studenten Sven Wenge gelingt es, einen Fehler, der ihm wahrscheinlich unterstellt wird, auch bei der diesen Fehler unterstellenden Lehrerin selbst zu finden. Er antwortet mit der in wissenschaftlichen Texten beim Zitieren üblichen Gepflogenheit, auf offensichtliche Fehler durch das lateinische Wort "(sic!)" hinzuweisen. Hiermit hebt er den Anspruch des Mailbeitrags kurz auf ein wissenschaftliches Niveau, wohl auch um deutlich zu machen, dass er mit dem Begriff und den Inhalten von "Jungenästhetik" im Wissenschaftsbereich umzugehen gewohnt ist. Durch das angefügte Smiley-Emoticon ";-)" könnte ein freundliches Zwinkern gemeint sein, es lässt sich aber auch als ein überlegenes Lächeln interpretieren. [59]
Bei E-Mail-Kommunikation sind keine physischen und akustischen Signale möglich, weshalb das emotionale Ausdrucksspektrum der Schriftsprache in Mails durch "Stimmungsbilder" erweitert wird, so genannte Emoticons (DÖRING 1999, S.42). Da es sich hierbei um ein sehr neues soziales Ausdrucksmedium handelt und nicht unterstellt werden kann, dass alle mit diesem Medium absichtsvoll und kommunikationsgerecht rezeptiv und aktiv umgehen, können diese Emoticons von den Rezipienten und Empfängern der Mails in Listen sehr unterschiedlich verstanden werden – auch in einer Weise, die Schreibende nicht beabsichtigten. [60]
Zudem antwortet Sven Wenge nicht auf ein wahrscheinliches inhaltliches Interesse von Herta Winkler, sondern er antwortet in seinen Worten streng formal – im Gegensatz zum Smiley-Emoticon – und sehr kurz, in der Form, in der auch Herta Winklers Anfrage formuliert war. Offensichtlich sind für Herta Winkler die inhaltlichen Dimensionen des Begriffs "Jungenästhetik" immer noch ungeklärt und zudem interessant. Sie gibt ihren Tippfehler unumwunden mit einem umgangssprachlichen "Ok" zunächst zu: "Ok. Da habe ich mich verschrieben." (Winkler 24 Jan 1999 21:29:24) Herta Winkler möchte dann von Sven Wenge eine Erklärung dieses Begriffs erhalten, mit dem er eins seiner Forschungsgebiete ausweist. Sie erweitert zugleich die zur Sprache kommenden Inhalte und führt einen weiteren Begriff ein, den sie aus "Jungenästhetik" ableitet, und zwar "Mädchenästhetik". Die gesamte Sequenz lautet:
> >Jungenästetik ???
>sic! [also, mit h natürlich ;-)]
Ok. Da habe ich mich verschrieben.
> >Was gilt? Jungen-, Jugend- oder Junge Ästhetik?
Aber ich weiß immer noch nicht, was "Jungenästhetik" ist. Gibt es vielleicht auch "Mädchenästhetik"?
bis bald
Herta (Winkler 24 Jan 1999 21:29:24) [61]
Dass Sven Wenge weder den in der Kunstpädagogik schon seit Langem etablierten Begriff "Mädchenästhetik" (KÄMPF-JANSEN 1991) noch "Jungenästhetik" erklären möchte, tut er dadurch kund, dass er den Dialog hierzu auf der Liste in seinen bisherigen Mails und auch im Folgenden gar nicht erst aufnimmt und Herta Winklers Fragen unbeantwortet lässt. Hätte er zu dieser Thematik einen fachlichen Austausch auf der Liste gesucht, wäre er auf Herta Winklers Frage eingegangen. Hier zeigt sich eine typische Problematik solcher Kommunikation in Mailinglisten: Schnell wird man durch kurze Fragen in viel Zeit erfordernde Antworten verstrickt, die für Antwortende selbst wenig Nutzen haben. Auch können Antwortende nicht sicher sein, ob den/die knapp Fragende die Antworten wirklich interessieren. Bei der Frage-Antwort-Interaktion Winkler-Wenge mag diese Vermutung aus einem anderen Grunde zusätzlich zutreffen: Herta Winkler nimmt als Initiatorin der Liste häufig moderierende Funktionen ein (vgl. Abschnitt 1.2) und schreibt somit Beiträge, die wieder andere zu weiteren Beiträgen animieren sollen – so der Eindruck anhand mehrerer, aus Gründen des Umfangs hier nicht ausgeführter Beispiele. Es meldet sich kein anderes Listenmitglied zu den Themen "Mädchenästhetik" oder "Jungenästhetik" zu Wort, was also gegen ein Interesse hieran auf der Liste spricht. Sven Wenge antwortet wahrscheinlich nicht, weil er offensichtlich primär zum Thema "www.kunstlehrende.de" als "Kunstpädagogik-Zentrale im Netz" (Wenge 24 Jan 1999 11:50:59) kommunizieren möchte, deswegen hatte er sich ja gemeldet. [62]
Festgehalten werden kann, dass es sich um eine in der vorliegenden Interpretation herausgearbeitete Typik von Mailinglisten handelt: Ein Listenbeitrag wird "zerstückelt", in verschiedene Themen unterteilt, die Diskussion "verfranst" parallel in verschiedene Stränge, die durchaus eine interessante Eigendynamik entwickeln können, die aber auch zur Unübersichtlichkeit weil Parallelität von Kommunikation führen können. In einem verbal geführten Gespräch ist dieses Phänomen – im Unterschied zur Mailingliste – nicht in dieser Ausprägung erkennbar, weil hier die Parallelität von verschiedenen Themen nur sehr bedingt funktionieren kann; lediglich einer kann jeweils sprechen, und bestimmte Themen setzen sich demnach schneller durch. Einen geschriebenen Listenbeitrag kann man immer wieder durchlesen, er ist manifest, Listenteilnehmende können sich auf einzelne Worte beziehen; und hierdurch können rhizomeähnlich sehr viele thematische, kürzere oder längere Stränge in der Diskussion entstehen. [63]
2.5 Spezifische Spontaneität der Kommunikation
Die oben analysierte Interaktion zwischen Herta Winkler und Klaus Müller ("Könnt Ihr mich bitte noch mit in die Reihe der Verantwortlichen mit aufnehmen?" Antwort: "sorry! natürlich!! Es gibt eh keine Reihe von Verantwortlichen – im Moment jedenfalls noch nicht – aber hoffentlich bald!"; Müller 24 Jan 1999 21:29) erfährt eine Fortsetzung. Diese Fortsetzung ist insofern überraschend, als Klaus Müllers Aktivitäten nicht so offen und im Anfangsstadium sind, wie es zunächst den Anschein hatte:
Die oben genannte Seite [gemeint ist www.lrz-astadt.de/˜GO/kunst; G. P.] würde auch ohne weitere Kooperationen entstehen,
weil wir das [im Bundesland; G. P.] mit ein paar Kollegen beschlossen haben und auch mächtig dran arbeiten. Aber nachdem jetzt
die Idee auch von anderer Seite kam, dachte ich mir, wir könnten uns die Arbeit teilen!
(Müller 24 Jan 1999 21:29) [64]
Die Zusammenarbeit Klaus Müllers mit Kollegen des eigenen Bundeslandes ist offensichtlich bereits "mächtig" vorangeschritten und sie scheint konkreter zu sein, als zunächst von ihm in der Liste dargestellt. Das Wort "Kooperationen", von ihm bisher im einladenden Sinne benutzt ("Eine echte Kooperation im Netz!! Wow!"; Müller 24 Jan 01:50:39), wird nun eher in einem fast gegenteiligen Sinne gebraucht:
Die oben genannte Seite würde auch ohne weitere Kooperationen entstehen, weil wir das (im Bundesland) mit ein paar Kollegen beschlossen haben und auch mächtig dran arbeiten. [65]
Dieser Satz kann so verstanden werden, als brauche man eigentlich keine zusätzlichen Partner. Diese Verständnisweise wird jedoch relativiert, indem Klaus Müller hinzufügt, dass, "nachdem jetzt die Idee auch von anderer Seite kam", man sich die Arbeit teilen könne. Hiermit wird sein zuvor in fünf Punkten klar formulierter "Aktionsplan" verständlicher (Müller 24 Jan 01:50:39). Der Plan mag bereits aus dieser Zusammenarbeit der Kollegen entstanden sein. (Einer dieser Kollegen ist wohl Bernd Karl; vgl. Abschnitt 2.3. Ob es noch mehr gibt, bleibt offen, zumindest geben sie sich auf der Liste nicht zu erkennen.) Anzumerken ist ferner, dass Müller evtl. ohne Rücksprache mit seinen Kollegen im Bundesland handelt, denn er benutzt die Formulierung: "dachte ich mir". Eine andere Deutung dieser Aussage lautet, dass die "Arbeitsteilung" auf seine Initiative hin im Kollegenkreis veranlasst wurde. Folgt man der ersten Deutungsvariante, führt dies zu einem oben implizit dargestellten Charakteristikum der Kommunikation in Mailinglisten, und zwar werden teils spontan reagierend Aussagen von Einzelnen gemacht, möglicherweise ohne vorherige Rückabsicherung bei Mitbeteiligten oder Mitbetroffenen. Formen der spontanen Reaktion sind insbesondere in den Abschnitten 2.4 und 2.7 aufgezeigt. Fehlende körperliche Präsenz kann eine unbefangene Kommunikation begünstigen. [66]
2.6 Erste sachlich-konstruktive Reaktionen zur Kooperation – Klärung von Zielen, Begriffen und Strukturen
Die erste Listenteilnehmerin, die dezidiert auf Müllers Bitte um Rückmeldung zur Site "www.lrz-astadt.de/~GO/kunst" eingeht, ist Elsa Mandel:
Lieber Klaus Müller,
ich habe mir die Linkliste von lrz-astadt angeschaut. Die Liste ließe sich beispielsweise um folgende Kategorien erweitern:
- Künstler
- Kunst im Internet/ Netzkunst
- Nachschlagewerke. Lexika, virtuelle Bibliotheken (für Kunstpädagogen)
Den Punkt "Server mit Unterrichtsmaterialien" könnte man vielleicht unterteilen in:
- Schule/Schulserver
- Praktisches aus dem Kunstunterricht
- Theoretisches aus dem Kunstunterricht
Soweit meine ersten Vorschläge.
Zur Frage der Koordination und Pflege: warum nicht Sie mit Ihren [bundesländischen; G. P.] Kollegen, wenn Sie schon dabei sind, eine Kunstlinksammlung aufzubauen.
Liebe Grüße Elsa Mandel (Mandel 25 Jan 1999 14:45:01) [67]
Neben der persönlichen briefgleichen Anrede "Lieber Klaus Müller" und dem abschließenden "Liebe Grüße" fällt kontrastierend zu spontan antwortenden früheren Mails die Sachlichkeit von Elsa Mandels Beitrag auf, den sie selbst mit "erste Vorschläge" benennt. Hiermit eröffnet sie eine an den Inhalten und der Struktur des Servers orientierte Diskussion in der Liste, die sich von den bisherigen eher spontanen, teils emotional getönten Beiträgen unterscheidet (vgl. Abschnitt 2.4 und 2.5). Zeitlich fast parallel sind Listenbeiträge mit gänzlich unterschiedlichen Emotionslagen zur gleichen behandelten Thematik vorhanden. Zudem geht Elsa Mandel nicht auf Themen bzw. Stichworte wie Mädchen- oder Jungenästhetik ein, die unmittelbar zuvor die Listenkommunikation bestimmten. Ihr Beitrag ist sachlich-konstruktiv und zugleich persönlich-freundlich. Ohne Weiteres sind Listenbeiträge möglich, die konsequent vorhergehende Beiträge ignorieren, ohne dass dieses Ignorieren als unhöfliches oder inadäquates Verhalten von den anderen Listenbeteiligten aufgenommen würde. [68]
Elsa Mandel war zuvor auch nicht in die anderen Interaktionen – vor allem mit Sven Wenge – verwoben. Hiermit kommt sie den Intentionen Müllers entgegen, indem sie bei "Koordination und Pflege" dessen Vorstellungen zustimmt. [69]
An der Wortwahl Elsa Mandels wird aber auch deutlich, dass möglicherweise sehr unterschiedliche Konzepte bezogen auf das geplante Projekt bei den Listenteilnehmenden vorherrschen. Sprach Elsa Mandel zuvor von einem "Webguide mit relevanten Adressen für KunstpädagogInnen", von einer "Homepage mit Linksammlung" (Mandel 21 Jan 1999 12:53:10) und nun von "Linkliste", spricht Klaus Müller meist allgemeiner von "Seite" (z. B. Müller 20 Jan 1999 20:45:21) oder vom "Prototyp" für eine "kommentierte Kunstseite" (Müller 20 Jan 1999 20:45:21). Charakteristisch ist dies insofern, als hier Menschen miteinander über Gegenstandsbereiche kommunizieren, die rapide innerhalb kürzester Zeit entstanden. Fachworte etablieren sich, entwickeln sich durchaus auch weiter und werden während des Gebrauchs mit Inhalten gefüllt. Nicht alle an einer solchen Liste Teilnehmenden verfügen über die Kompetenz, neue Fachwörter aus dem Bereich der digitalen Kommunikationstechnologien richtig einzusetzen. Eine gewisse "Sprachverwirrung" kann die Folge sein, weshalb es viele kommentierte lexikalische Stichwortsammlungen zum Bereich der digitalen Medien gibt. Der beschriebene Umstand einer vorläufigen "Sprachverwirrung" kann durchaus produktive Effekte haben, da die Listenteilnehmenden in einem kollegialen Rahmen durch die Beiträge in einer solchen professionsbezogenen Liste lernen, mit den neuen Begriffen fachgerecht und adäquat umzugehen. So sind sie auf Gespräche zum Bereich digitale Medien, beispielsweise mit Schülerinnen und Schülern, besser vorbereitet. [70]
Am selben Tag noch reagiert Klaus Müller – wie so häufig schreibt er nachts – auf Elsa Mandels Beitrag: Einige ihrer Vorschläge hatte er bereits selbst bzw. in der Gruppe seiner Kollegen durchdacht und verworfen. Außer einem Vorschlag Elsa Mandels, den er mit "ok" kommentiert, steht er allen anderen kritisch gegenüber, indem er Gegenargumente anführt. [71]
Zu Elsa Mandels Kategorisierungsvorschlag "– Künstler – Kunst im Internet / Netzkunst" schreibt Klaus Müller zunächst eher die momentane Gliederung erklärend bzw. verteidigend:
wir wollten nicht zuviele Oberpunkte machen, für uns ist das alles unter Kunstgeschichte. Das ist vielleicht missverständlich.
Sollten wir die Rubrik "Kunst" nennen und dann binnendifferenzieren?
(Müller 25 Jan 1999 23:46:28) [72]
In seinen beiden letzten Sätzen wird ein Erkenntnisprozess ablesbar, der als charakteristisch für Mailinglisten-Kommunikation in großen Gruppen angesehen werden kann. Bestimmte eigene Absichten können zur Diskussion gestellt werden; es kann in einer großen Gruppe getestet werden, ob diese Absichten wirklich auf die intendierte Weise verstanden werden. Rückmeldungen der Listenteilnehmenden geben hierüber Auskunft. Offensichtlich hat Elsa Mandel Klaus Müllers Absichten nicht verstanden, so dass er selbst eine Umbenennung der Rubrik von "Kunstgeschichte" zu "Kunst" vorschlägt. [73]
Zu Elsa Mandels Kategorisierungsvorschlag "Nachschlagewerke. Lexika, virtuelle Bibliotheken (für Kunstpädagogen)" schreibt er:
das ist gut, nur kenn ich da nichts ausser der dreisprachigen Seite mit den Kunstbegriffen, die ich gerne aufnehmen würde. (a.a.O.) [74]
Wie zuvor vertritt Klaus Müller sein bisheriges Vorgehen durch eine Erklärung, die rechtfertigenden Charakter hat. Das Argument, dass er selbst momentan keine Websites kennt, mit denen die Kategorie "gefüllt" werden könnte, kann allerdings bei einem längerfristig angelegten Projekt kaum als überzeugend gelten. Er erklärt seine Weise der Kategorisierung nicht ohne zuvor eine positive Bewertung zu Elsa Mandels Vorschlag zu geben: "das ist gut". Doch überzeugt diese Bewertung wenig, weil die Einschränkung folgt. [75]
Elsa Mandels Vorschlag "Schule/Schulserver" lehnt Klaus Müller ab. Er verbindet diese Ablehnung mit einem Zusatz in Klammern, die Vorläufigkeit seiner Absage betonend. Zudem fragt er vergewissernd, ob ein mögliches Missverständnis seinerseits vorliege:
Schulhomepages würde ich nicht aufnehmen, das tun andere schon zur Genüge (oder habe ich das falsch verstanden?) (a.a.O.) [76]
Elsa Mandels Vorschlag "- Praktisches aus dem Kunstunterricht Theoretisches aus dem Kunstunterricht" kommentiert Müller lediglich mit einem "ok" (a.a.O.), um sich dann im "Abspann" seines Listenbeitrages zu bedanken:
Vielen Dank für die konstruktiven Ideen – ich hoffe auf eine Weiterführung dieses Kontakts!! (a.a.O.) [77]
Zur Frage der "Koordination und Pflege" der geplanten Site schreibt Klaus Müller noch: "Das sollte allgemein abgesprochen sein – wir würden es schon machen!", woraufhin er seine Mail vergleichbar zu Elsa Mandel mit "Liebe Grüße Klaus Müller" beendet (a.a.O.). [78]
Zum Punkt "Koordination und Pflege" schaltet sich Herbert Domes ein.
Prima, wir haben damit keine Probleme – schön wäre es allerdings, wenn auf längere Sicht mehr als eine Linksammlung dabei
herauskommen würde. Das muß nicht heißen, daß alle Dokumente auf einem Server liegen, wohl aber daß Dokumente untereinander
direkt verlinkt bzw. vernetzt wären. Das ließe sich innerhalb einer Framestruktur durchaus auch unter einer grafischen Oberfläche
realisieren. Eine Absprache wäre allerdings notwendig. Letztlich wäre ein schneller Server im Interesse aller natürlich wünschenswert
(...)
(Domes 26 Jan 1999 13:57) [79]
Auffallend ist an diesem Beitrag Herbert Domes', dass er erstmals eine Unterscheidung zwischen "Linksammlung" und "Server" vornimmt und sich deutlich dafür ausspricht, langfristig einen Server anzustreben: "Letztlich wäre ein schneller Server im Interesse aller natürlich wünschenswert". Ein solcher Server unterscheidet sich nach Herbert Domes' indirekten Aussagen dadurch von einer Linksammlung, dass viele der Dokumente auf dem Server selbst liegen und insbesondere dass "Dokumente untereinander direkt verlinkt bzw. vernetzt wären". Ein Server im traditionellen Sinne ist stets ein physikalischer Ort, an dem die betreffenden digitalen Dateien gespeichert sind. Eine Linksammlung hingegen ist eine digitale Liste, die per Hyperlink zu Dateien im Internet Verknüpfungen herstellt. Nach den Wünschen von Herbert Domes muss nicht unbedingt ein einziger Server angestrebt werden. Die Dateien könnten auch verteilt auf mehreren Servern liegen. Doch sieht er einen einzigen und zwar schnellen Server als wünschenswert an. Er hebt hervor, dass mehr als eine bloße Linksammlung das Ziel sein solle. Wichtig ist ihm ferner, dass die Dateien vernetzt sind, und zwar mittels einer – mit Frames arbeitenden – Oberfläche. Für Mitlesende sind seine Aussagen nicht leicht verständlich. Aus dem Text nachvollziehbar ist vor allem, dass ein Server "mehr" als eine Linksammlung ist. [80]
Ist diese Unterscheidung für viele der Listenteilnehmenden bereits kaum nachvollziehbar, so sind andere Passagen aus Domes' Mail – wie beispielsweise der Satz, dass sich die Vernetzung von Dokumenten "innerhalb einer Framestruktur" verwirklichen lasse, nur für die auf Anhieb verständlich, die sich in HTML-Programmierung bzw. im Bedienen von HTML-Editoren auskennen. Was mit "einer grafischen Oberfläche" gemeint ist, wird ebenfalls nicht erklärt. [81]
In diesem Sinne ist dann der erste Beitrag von Bernd Karl zur Liste aufschlussreich. Hier ein Ausschnitt:
(...) Ich heisse Bernd Karl und versuche mit dem Klaus Müller zusammen diese Seite auf die Reihe zu kriegen, wobei mir momentan eher die technische Rolle zugefallen ist. Dabei würde ich gerne beim Top-Frame bleiben, denke aber, dass man einen zweiten Frame (mit den Untergliederungen) einbauen könnte. Prinzipiell ist es für die Navigation schon gut, wenn man auf kürzestem Wege an die Stelle kommt, die einen interessiert, wenn also die Gliederungspunkte differenzierter sind. (...)
Karl 26 Jan 1999 17:24:26) [82]
Bernd Karl gliedert das von Herbert Domes aufgeworfene Thema "Framestruktur" mit den Worten "Top-Frame" und "zweiter Frame". In diesem Kommunikationsstrang haben jetzt "die Programmierer" mit ihrem Fachjargon das Wort, was Bernd Karl in seiner Einführung bewusst ist und was er auch deutlich macht: "wobei mir momentan eher die technische Rolle zugefallen ist". [83]
Bevor auf diesen Umstand eingegangen wird, fällt an Bernd Karls Beitrag die Formulierung auf: "(...) und versuche mit dem Klaus Müller zusammen diese Seite auf die Reihe zu kriegen." Klaus Müller hatte zuvor einerseits geschrieben: "Ich bin gerade dabei, eine kommentierte Kunstseite aufzubauen (...)" (Müller 20 Jan 1999 20:45:21), was den Eindruck vermittelt, es handele sich um die Aktivität einer Person. Andererseits schrieb er auch, dass es sich wohl um eine Gruppe handelt, in der die Grundidee wuchs: "Die Idee entstand hier, (...)" (Müller 20 Jan 1999 20:45:21). Dieser Eindruck bestätigt sich im Folgenden, denn er schreibt vier Tage später, dass die Seite "auch ohne weitere Kooperationen entstehen" würde (Müller 24 Jan 1999 21:29). [84]
Der Beitrag Bernd Karls hingegen vermittelt neben dem Eindruck einer gewissen Lockerheit ("auf die Reihe zu kriegen") den zusätzlichen Eindruck, das Projekt sei ein Zwei-Mann-Unternehmen: "Ich heisse Bernd Karl und versuche mit dem Klaus Müller zusammen diese Seite auf die Reihe zu kriegen". In den Mails zur Liste wird nie aufgeklärt, wer genau hinter diesem Projekt steht. Die Zusammenhänge zwischen Klaus Müller, Bernd Karl und einer Gruppe von "Kollegen" bleiben für die Listenmitglieder ungeklärt. Solche ungeklärten Aspekte können für an der Kommunikation aktiv oder passiv Teilhabende zu Verwirrung führen. Mit wem und mit wie vielen haben sie es zu tun, wenn sie sich möglicherweise auch zum Thema äußern wollen? Es regen immer nur bestimmte Aspekte die Kommunikation an, während andere – wenn auch unklare Aspekte – nicht bewusst beachtet werden. Niemand fragt auf der Liste nach, wer dieses Projekt um Klaus Müller neben Bernd Karl betreibt. Keiner der Kommunizierenden sieht es als notwendig an, solche – in diesem Falle wohl eher nebensächlich erscheinenden Aspekte – aufzugreifen und einer Klärung zuzuführen. Doch können gerade solche scheinbaren Nebensächlichkeiten nicht nur die Grundstimmung prägen, sondern sich auch zu Kommunikationsstörungen entwickeln. Aufgrund der hier analysierten Segmente könnte bei den Listenteilnehmenden der Eindruck entstehen, Klaus Müller "spiele nicht mit offenen Karten". Im Falle einer Mailingliste, bei der es sich um schriftliche und dadurch zumindest digital manifeste Kommunikation handelt, kann dieser Umstand – wenn er vor allem in vielen Details potenziert auftritt – für Außenstehende, also die vielen Mitlesenden, Barrieren bilden, sich aktiv an der Mailingliste zu beteiligen. Dass solche Umgereimtheiten auch Dissonanzen sowie Kommunikationsstörungen hervorrufen können, wurde anhand der Interaktion zwischen Herta Winkler und Sven Wenge deutlich. Diese Dissonanzen entwickelten sich in den folgenden Tagen zu einem echten Konflikt, wie im folgenden Abschnitt aufgezeigt wird. [85]
2.7 Differenzen und Dissonanzen zwischen Theorie und Praxis, zwischen Hochschule und Schule
Einen Tag später reagiert ein Mitglied der Liste unter gewissem Protest auf die Entwicklungen, indem er – nicht als Erster – einen "Abschiedsbrief" an die Initiatorin und Moderatorin der Mailingliste schreibt (Subject: "Abmeldung von der Liste"):
Liebe Herta Winkler!
Auch ich möchte mich abmelden. Einerseits habe ich zu wenig Zeit zum wirklichen lesen, andererseits habe ich etwas Probleme mit der Theorielastigkeit der Beiträge. Das hört sich alles ganz gut an, aber hat mit meinem Unterrichtsalltag eigentlich nichts zu tun. Vielleicht liegt das daran, daß sich im wesentlichen Hochschulleute und Net-Interresierte zusammengefunden haben, oder das ist nur meine Scheuklappensicht.
Trotzdem alles Gute
Rainer Unger-Veit (Unger-Veit 27 Jan 1999 15:33:48) [86]
Exemplarisch wird hier eine Problematik dieser Liste deutlich: Gemäß ihrem Namen ist die "Mailingliste des Netzwerkes der Kunsterziehung" zwar offen, insbesondere für alle Kunsterziehenden. Von Beginn an und über lange Zeiträume hinweg beteiligte sich aber nur ein recht kleiner Kreis von Personen aktiv an der Liste. Diese Personen sind zum Teil in Hochschulen angesiedelt und/oder an der Entwicklung der digitalen Möglichkeiten für den Kunstunterricht interessiert. Kunsterziehende in allgemein bildenden Schulen mögen zwar einen Internetanschluss mit E-Mail-Adresse zu Hause haben und sie mögen sich bei der Mailingliste angemeldet haben; die Integration des Digitalen in den Kunstunterricht – was häufig Thema der Listenbeiträge ist – hat mit ihrem Alltag jedoch meist wenig zu tun. Hier taucht ein bekanntes Phänomen der in der Kunstpädagogik häufig postulierten Differenzen und Dissonanzen zwischen Schule und Hochschule, zwischen Praxis und Theorie neu auf (OTTO 1995). Vor diesem "alten Konflikt" ist ein neues Medium wie die Mailingliste auch nicht gefeit. Eine Prägung der Profession durch die spezifischen Arbeitsfelder wird in der digitalen Kommunikation tradiert. [87]
Zur gleichen Zeit treten zwei weitere Personen mit Listenbeiträgen hervor, mit denen sie sich nicht an der Diskussion um die Linkliste bzw. den Server beteiligen.
Es gab in den frühen 80er Jahren eine von Georg Bussmann organisierte Ausstellung "Geschichte in Arbeit, Arbeit in Geschichte", ich glaube in Hamburg oder Berlin. In diesem Katalog gibt es verschiedene Theorieansätze. Ich suche den Katalog noch und melde mich später wieder.
Gruß
Kurt Treutel (Treutel 27 Jan 1999 11:32:07)
Liebe Listenmitglieder im F.stadter Raum,
Ankündigung "Film im Nationalsozialismus: Populäre Unterhaltung und politische Machwerke"
Referent: Dr.Stephen Lowry, F.stadt
Ort: Altstadtrathaus am Altstadtmarkt
Datum/Zeit: MI 10.2.1999, 20.00h
Am 27.1.99 fand an gleicher Stelle ein interessanter Vortrag eines amerikanischen Referenten statt zu Franz Radziwill.
Eine Veranstaltungsreihe des Städtischen Museums FS zur Kunst im Nationalsozialismus.
O.Klein (Klein 28 Jan 1999 20:33:45) [88]
Beide Mails können als Alternativen zu der Diskussion zwischen "Hochschullehrenden" und "Net-Interessierten" angesehen werden. Während Rainer Unger-Veit resigniert aufgibt, setzen Kurt Treutel und O. Klein Informationen auf die Liste, die keine Beteiligung an der Theoriediskussion bzw. der programmierungsbezogenen Spezialdiskussion um "Framestrukturen" sind. Im Falle der ersten Mail wird ein bestimmter Ausstellungskatalog gesucht, der Verwendungskontext des Katalogs für den Suchenden bleibt offen. Im Fall der Mail von O. Klein wird eine Information gegeben, die jedoch nur lokal begrenzt von Bedeutung sein kann, ein Umstand, den der Schreiber gleich zu Beginn deutlich macht: "Liebe Listenmitglieder im F.stadter Raum". Beide Listenbeiträge heben sich von den bisher analysierten Mails im beschriebenen Sinne durch ihre alltagsnah pragmatischen Inhalte ab. [89]
O. Kleins Mail kommt zusätzlich programmatischer Charakter in dem Sinne zu, weil der Schreiber sich auch explizit gegen die Diskussionen auf der Liste wendet. O. Klein formuliert ein Statement zu den Listenbeiträgen von Sven Wenge (Klein 27 Jan 1999 18:51:25), das Wenge – nach dessen eigenen Worten "arg angenervt" (Wenge 28 Jan 1999 21:18:56) und teils polemisch – beantwortet. Klein beginnt:
An einige Listenteilnehmer,
insbesondere lieber Sven Wenge,
ich werde im Augenblick den Eindruck nicht los, daß es um Profilierung des Einzelnen um jeden Preis geht und nicht um die Sache des "Faches Kunst". [90]
Wenge antwortet:6)
W.: Was heißt "Profilierung um jeden Preis", und was ist "die Sache des 'Faches Kunst'"?
K.: Anstatt einen selbst finanzierten Server zu installieren – dies erscheint doch recht unökonomisch –,
W.: Warum?
K.: sollten wir diejenigen Institutionen ansprechen und in die Pflicht nehmen, die von Haus aus und vom Steuerzahler finanziert sich dieses unseres Faches annehmen, und zwar in umfassender Weise, was Dokumentation, Forschung und Lehre anbetrifft.
W.: Große Worte. Taten?
K.: Da sind wir als Privatpersonen doch wohl reichlich überfordert.
W.: Wer sagt das?
K.: Wo ich zustimme ist die Tatsache, daß jeder von uns seinen Beitrag leisten sollte, der sich aus einer gewissen beruflichen Erfahrung
W.: Wie wär's noch mit einem Mindestalter?
K.: und vielleicht auch Neigung heraus entwickelt hat. Da kann es per se keine Beschränkung von Seitengrößen geben,
W.: Ich empfehle die Lektüre guter Literatur zum Thema Webseiten-Gestaltung.
K.: oder evtl. andere wenig einsichtige Beschränkungen.
W.: Welche?
K.: Es kommt immer auf das jeweilige Problem an und seine Bedingungen.
W.: Hatte ich nicht von "begründeten Ausnahmefällen" geschrieben?
K.: M.E. sind wir auf einem guten Wege, wenn wir Hochschulen ansprechen, die über das notwendige KnowHow schon verfügen. Wir alle sind bereit, einer Sammelstelle zuzuliefern. Wir sollten auch nicht den Fehler begehen, auf Dinge zu verweisen, die noch gar nicht existieren.
W.: Bitte untertänigst um Erlaubnis, mich erst dann wieder äußern zu dürfen, wenn die Seite wasserdicht und perfekt ist!
K.: Wir sollten Ergebnisse liefern, informieren und diskutieren.
W.: Schon mal den Begriff "Prozeß" gehört? [91]
O. Kleins Ausführungen basieren insbesondere auf der Unterscheidung zwischen Angehörigen von Hochschulen und "Privatpersonen". Den staatlich finanzierten Institutionen sind die Aufgaben "Dokumentation, Forschung und Lehre" zugeordnet. Der Aufbau und die Koordination eines Servers fällt seines Erachtens in den Aufgabenbereich der Hochschulen. Gegen diese Unterscheidung wehrt sich Sven Wenge, indem er mit "Große Worte. Taten?" bezweifelt, ob die Hochschulen dieser ihrer Aufgabe gerecht werden und nachkommen. Sven Wenge zweifelt die ihm unterstellte Überforderung beim Aufbau eines Servers an und kontert mit ironischen und bissigen kurzen Rückfragen, die meist rhetorischen Charakter haben (z.B. "Wer sagt das?" oder "Wie wär's noch mit einem Mindestalter?"). Sven Wenge spielt wie bereits zuvor (vgl. Abschnitt 2.3) auf den von ihm unterstellten Altersunterschied zwischen denen, die mit ihm kommunizieren, und ihm selbst an. Die Altersdifferenz wird hintergründig als Unterscheidung zwischen denen, die in der Berufspraxis stehen und denen, die sich bis jetzt primär theoretisch mit dem Fachgebiet auseinandersetzten (Studierende, Referendare) genutzt. Das von O. Klein ursprünglich geschriebene: "In freundlicher Absicht O.Klein" (Klein 27 Jan 1999 18:51:25) kopiert bzw. wiederholt Wenge nicht. Er beendet seine Mail mit:
Dann doch arg angenervt,
Sven Wenge (Wenge 28 Jan 1999 21:18:56) [92]
Bei einem solchen Wortgefecht spricht man in der Netzkommunikation von "Flaming", also von E-Mails, in denen man sich unsachlich äußert und sich gegenseitig provoziert (DÖRING 1999, S.54). Angesichts der Übertragungsschnelligkeit des Mediums E-Mail kann die inhaltlich-sachliche Auseinandersetzung evtl. leiden, weil Antworten auch schnell geschrieben werden. Ein Eingehen auf die diskutierten Themen erfordert hingegen Zeit, die die das Medium Nutzenden sich nicht immer nehmen. Hieraus können sich Ungereimtheiten und Dissonanzen entwickeln, die wiederum Kommunikationsstörungen verursachen. [93]
Im Gegensatz zu dieser Art polemischer Kommunikation argumentiert Elsa Mandel in ihren folgenden Mails weiterhin sachlich, indem sie ausführlich nur auf die von Herbert Domes vorgeschlagenen Gliederungspunkte (Domes 26 Jan 1999 13:57) für das entstehende Projekt eingeht und hierzu "einige kleine Ergänzungen" vornimmt (Mandel 29 Jan 1999 13:10:30). Aus diesen in wichtigen Punkten verwirklichten Vorschlägen Bernd Karls, Karl Müllers, Herbert Domes' und Elsa Mandels entstand in der Folgezeit der auch vom Bund Deutscher Kunsterzieher (http://www.BundDeutscherKunsterzieher.de) inzwischen unterstützte Server. [94]
Aus Gründen des Umfangs bricht die Sequenzanalyse hier ab. Im Folgenden werden einige Ergebnisse der empirischen Untersuchung mit Blick auf Aspekte professionsbezogener Kommunikation in der Kunstpädagogik zusammengefasst. [95]
Innerhalb des Internet als Informations-, Kommunikations- und Gestaltungsmedium hat die Anwendung elektronischer Post (E-Mail) eine zentrale Bedeutung. Mailinglisten zählen zu den E-Mail-basierten Kommunikationsdiensten, die auf einem Computer-Programm beruhen, das empfangene elektronische Post dubliziert und an alle Abonnenten einer Liste weiterleitet. Durch diese Eigenschaft unterstützen Mailinglisten spezielle Formen von Teilöffentlichkeiten bzw. lassen sie erst entstehen; Teilöffentlichkeiten, die durch Kommunikationsformen geprägt sind, welche sowohl eine individuelle Präsenz am Rechner voraussetzen als auch massenmedial generierte öffentliche digitale "Räume". "Es sind 'translokale' Orte, an denen Gleichgesinnte mit ähnlichen Interessen und Kompetenzen in einer Weise miteinander korrespondieren, als säßen sie sich gegenüber." (HOFMANN 1998) [96]
Solche elektronischen Diskussionsgruppen existieren für die unterschiedlichsten Themen. Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie war eine Mailingliste für Kunsterziehende, deren Mitglieder hauptsächlich in der Bundesrepublik Deutschland wohnen. Fallspezifisch wurde an der Kommunikation, die auf der Liste in einem Zeitraum von acht Tagen geführt wurde, zwei Fragen nachgegangen:
Welche Besonderheiten, u. a. hinsichtlich sozialer Beziehungen, Sprachgebrauch oder Regeln, weist diese schriftsprachlich basierte Kommunikation mittels elektronisch-digitaler Medien auf? Wie entwickeln sich technische und soziale Konventionen in Wechselbeziehung zueinander?
Welche Spezifika der kommunikativen Interaktion lassen sich hinsichtlich professionsorientierter Themen rekonstruieren? [97]
Hierbei kommt der Studie zugute, dass eine Mailingliste als ein "kollektiver und vielstimmiger Informant" (HOFMANN 1998) angesehen werden kann, der ein großes Spektrum an Diskussionsthemen, -formen und an Meinungen bietet. Die Ereignisse wurden chronologisch geordnet sequenzanalytisch interpretiert. Die Ergebnisse dieser Analysen der Mailinglisten-Kommunikation werden im Folgenden in ihrer Exemplarik für Listen mit professionsbezogenen Inhalten dargestellt. [98]
3.1 Mailinglistenspezifische Kommunikationsmerkmale
Listenbeiträge können von den Listenmitgliedern in einzelne Fragmente zerlegt werden und für sehr unterschiedliche Folgebeiträge dienen. Hier wirkt sich das bei Mailinglisten noch verstärkte Charakteristikum von E-Mails aus, dass diese einerseits in einem hohen Maße von spontanen Anteilen geprägt sein können, andererseits aber sehr dauerhaft sind. Ihre Dauerhaftigkeit erhalten E-Mails durch ihre Digitalität; dadurch, dass sie äußerst platzsparend zu speichern sind. Sie können vom Listenserver archiviert und immer wieder nachgelesen werden. [99]
Dieses Merkmal der Permanenz führt dazu, dass aus einer Mail rhizomeähnlich parallel unterschiedliche Diskussionsstränge entstehen, die jeweils ihre Eigendynamik entwickeln können. Die Diskussionen auf der Mailingliste können hierdurch sowohl zu Spezifizierungen und Differenzierungen als auch zu Unübersichtlichkeit führen. Diese Diskussionsstränge behandeln meist nicht nur völlig verschiedene Themen, sondern sie können in gänzlich unterschiedlichen Emotionslagen erfolgen. Als Besonderheit ist in Hinblick hierauf festzuhalten, dass diese unterschiedlichen Diskussionsstränge mit den sie jeweils prägenden Emotionslagen zeitlich parallel im Kommunikationsmedium Mailingliste stattfinden. [100]
Wie fast alle menschliche Kommunikation können Beiträge in Mailinglisten gekennzeichnet sein von Spontaneität und emotionalen Aspekten. Dies lockert die Kommunikation via E-Mail zwar auf, kann aber auch zu Missverständnissen führen. Das emotionale Ausdrucksspektrum der E-Mail-spezifischen Schriftsprache ist beispielsweise angereichert mit vielen Fragezeichen, Anführungszeichen und Emoticons. Bei dieser kulturell recht neuen sozialen Kommunikationsform kann man gerade in Mailinglisten nicht davon ausgehen, dass allen Teilnehmenden die Üblichkeiten und Besonderheiten E-Mail-spezifischer Schriftsprache bekannt und verständlich sind. Das heißt beispielsweise, einen Mailbeitrag ohne abschließenden Gruß zu beenden, muss nicht automatisch unhöflich sein. [101]
3.2 Professionsbezogene Kooperationen per Mailinglisten
Durch Mailinglisten können sich innerhalb kürzester Zeit und über geografische Distanzen hinweg Kolleginnen und Kollegen "zusammenfinden", um Informationen und Erfahrungen auszutauschen und um kooperative Projekte zu entwickeln. Die Entwicklung und Realisation solcher Projekte kann von der ersten Anregung, über die Prozesse der durchaus von kontroversen Meinungen geprägten Suche bis hin zur Umsetzung erfolgen. [102]
Ein zu entwickelndes Projekt oder Produkt kann durch dieses Charakteristikum des Einbringens unterschiedlichster Kompetenzen, Meinungen, Vorschläge und Fähigkeiten in kurzer Zeit optimiert werden. Die Kommunikation mittels digitaler Medien kann eine professionsintensive Kommunikation sein, in der sich soziale Kooperation synergetisch auswirkt. [103]
Mailinglisten mit professionsbezogenen Inhalten sind "in modernen beruflichen Kontexten ein effizientes Kommunikationsmittel" (KOLLMANN 2000, [31]). Sie sind ökonomisch, schnell und kostengünstig. Zwar ist die Kommunikation nur elektronisch-schriftlich, sie kann jedoch hocheffizient sein und sie zentriert die Aufmerksamkeit. [104]
Mit einem Listenbeitrag können gezielt einzelne Personen angesprochen werden, welche dies rezipieren und hierauf reagieren. Ein fachlicher Dialog zwischen zwei oder wenigen Personen findet listenöffentlich statt. Hierdurch entsteht eine neue Form der Fachöffentlichkeit. Selbst in einem einzelnen Listenbeitrag können Fragen sowohl an alle Listenmitglieder als auch an einzelne Personen gerichtet werden; Mitteilungen erfolgen und Informationen werden weitergeleitet. [105]
Mailinglisten geben ihren Mitgliedern die Möglichkeit, durch die aktive oder passive Teilnahme an der Kommunikation Fachbegriffe – gerade aus dem Gebiet der digitalen Technologie – zu lesen und deren angemessenen Gebrauch kennen zu lernen. Professionsbezogene Kompetenzen können hierdurch erweitert werden. [106]
Die Teilnahme an der Mailingliste eröffnet ebenfalls die Horizonterweiterung im Bereich des Zugangs zu unterschiedlichsten Materialien; beispielsweise Tipps zu Links oder Ausstellungshinweise durch Kolleginnen und Kollegen. [107]
Mailinglisten wie die analysierte stehen grundsätzlich für alle Interessierten offen. Als problematisch ist die Situation aber einzuschätzen, wenn in der Liste über lange Zeit Spezialthemen in Diskussionen vorherrschen, an denen sich nur Wenige beteiligen und für die sich nur Wenige interessieren. Aus dieser Erkenntnis einen Praxisvorschlag formulierend, wären dann möglicherweise Mailinglisten als sinnvoll anzusehen, die sich auf eingegrenztere Zielgruppen und deren Interessengebiete beziehen. Optionen zur Horizonterweiterung und zur Interessendifferenzierung können durchaus gleichzeitig vorhandene und sich widersprechende Bedürfnisse ausdrücken, die sich nur schwierig auf einen Nenner bringen lassen. Im hier untersuchten Fall steht entgegen der Differenzierung und Spezialisierung das kollektive Bemühen, einen gemeinsamen professionsorientierten Deutungshorizont auf der Basis von Mailinglisten-Kommunikation zu entwickeln. [108]
Da Professionsforschung in der Kunstpädagogik selten Inhalt von wissenschaftlichen Studien ist (vgl. eine zusammenfassende Übersicht in PEEZ 2000, S.107ff.), war ein Ziel dieser Untersuchung, dass Kunstpädagoginnen und Kunstpädagogen ihr professionsbezogenes kommunikatives Handeln untereinander mittels digitaler Medien bewusster wird. Hiermit besteht die Chance, einen anderen, in Aspekten evtl. "neuen" Blick auf ihre Praxis zu ermöglichen, um mit den neuen medialen Optionen zukünftig angemessen, variabel, professionell und reflexiv umzugehen. [109]
1) Die Bezeichnungen "Kunsterziehung" und "Kunstpädagogik" werden hier – wie meist in den Fachdiskursen – synonym verwendet. <zurück>
2) Im "Subject"-Feld einer E-Mail, das sich im oberen Teil der Mail ("Header") befindet, wird das Thema der Mail eingetragen, das in der Mail behandelt wird; vergleichbar einem "Betreff" in einem konventionellen Brief. <zurück>
3) Die "Reply"-Funktion in E-Mail-Programmen ermöglicht es, durch einen einzigen Mouse-Klick bzw. Knopfdruck eine Antwort auf eine erhaltene E-Mail herzustellen, indem Absender, Adressat, Thema und die zu beantwortende Mail automatisch in eine neue E-Mail eingefügt werden. <zurück>
4) Offensichtlich wird am Punkt zwischen Vor- und Nachnamen, dass Klaus Müller Sven Wenges Namen direkt per Kopier-Funktion aus dessen Adressfeld übernahm. <zurück>
5) An eine Adresse, die im CC-Feld einer Mail steht, wird automatisch eine Kopie dieser Mail versandt (CC, engl.: Carbon Copy), vergleichbar mit einen Durchschlag beim konventionellen Briefeschreiben. <zurück>
6) Bei der folgenden dialogisch aufgebauten Sequenz handelt es sich um eine einzige Mail. Sie enstand in der Weise, dass Sven Wenge die Mail von O. Klein "zerschnitt" und jeweils Einschübe in diese kopierte Mail von O. Klein (Reply-Mail; vgl. Anm. 3) hineintippte; ein häufig angewandtes Verfahren bei E-Mails, um auf eine Mail zu antworten. <zurück>
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Georg PEEZ, PD Dr. phil., geb. 1960, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstpädagogik der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Postfach 11 19 32, D-60054 Frankfurt a. M. sowie Lehrbeauftragter der Universität Bern, Schweiz. Ferner leitet er Seminare der kulturellen Bildung.
Forschungsschwerpunkte: Qualitative empirische Forschung in der Kunstpädagogik; Kunstunterricht, Kunstvermittlung und digitale Medien; kunstpädagogische Erwachsenenbildung und ihre Didaktik; Dimensionen ästhetischen Verhaltens von Kindern und Jugendlichen.
Kontakt:
Georg PEEZ
E-Mail: mail@georgpeez.de
URL: http://www.georgpeez.de
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Revised 3/2007