Volume 2, No. 2, Art. 2 – Mai 2001
Kontextualisierung, Autorität, Kommunikation. Ein Beitrag zur FQS-Debatte über Qualitätskriterien in der interpretativen Sozialforschung
Urs Kiener & Michael Schanne
Zusammenfassung: In diesem Beitrag wird die Frage nach der Qualität interpretativer Sozialforschung vor dem Hintergrund der "Heteronomisierung der Wissenschaft" diskutiert. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Wissensproduktion geraten damit ins Blickfeld. "Qualität" meint dann mehr als "Gültigkeit", sie bezieht sich auf die Konfiguration unterschiedlicher Dimensionen des Forschungsprozesses.
Keywords: Qualität interpretativer Forschung, Wissensproduktion, Heteronomisierung der Wissenschaft, Kontext, Kontextualisierung, Konfigurationen des Forschungsprozesses
Inhaltsverzeichnis
In seinem die Debatte eröffnenden Beitrag in FQS 1(2) legt REICHERTZ (2000) die wissenssoziologische Position dar, dass Forschung unhintergehbar perspektivengebunden sei, dass interpretative Sozialforschung kein Außen widerspiegle und dass für sie keine allgemeinverbindlichen Gültigkeits- oder Qualitätsstandards angebbar seien. Um angesichts veränderter – härterer – Bedingungen zur Erlangung symbolischen und ökonomischen Kapitals diese Position "verteidigungsfähig" zu machen, plädiert er für die Erarbeitung und Etablierung von "Standards wissenschaftlicher Güteprüfung in der qualitativen Forschung" (a.a.O. [75]). In seiner Replik in FQS 1(3) teilt BREUER (2000) ausdrücklich REICHERTZ' wissenssoziologische Position; auch scheint zwischen REICHERTZ und BREUER ein weitgehender Konsens zu bestehen in der Analyse der Bedingungen aktueller interpretativer Forschung. Die Differenz bezieht sich hauptsächlich auf die Einschätzungen darüber, welche strategischen Folgerungen aus der aktuellen "Logik" der Forschungsfinanzierung bzw. den "Zwängen" der Forschungspolitik zu ziehen sind: BREUER hält REICHERTZ' Vorschläge für konformistisch, nämlich den Mainstream bevorzugend und den dominierenden "Spielregeln der Wissenschaftlergemeinschaft" gehorchend (BREUER 2000 [17]). [1]
Unser Beitrag versteht sich als Ergänzung sowohl zu REICHERTZ als auch zur Replik von BREUER, indem er den Ausgangspunkt einer reflexiven Wissenssoziologie öffnet und die "Umwelt" des Forschungsprozesses bzw. die gesellschaftlichen Bedingungen der Wissensproduktion stärker in den Blick nimmt. REICHERTZ und BREUER argumentieren ja beide zunächst mit dem Prozess der (interpretativen) Forschung im engeren Sinn, nämlich als Tätigkeit zur Produktion und Legitimierung von gültigem wissenschaftlichen Wissen. Anschließend sprechen sie über die Bedingungen dieses Prozesses (geänderte Modi der Forschungsfinanzierung und -politik, Ansprüche des Mediensystems etc.). Zugespitzt unterscheidet BREUER – die Anführungsstriche sind von ihm – einen "wissenschaftsinternen" und einen "wissenschaftsexternen" Bereich (2000 [4]). Innerhalb des ersten wird zunehmend "Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen und eindeutigen Güte- bzw. Qualitätskriterien" entwickelt, vom zweiten werden in wachsendem Maß "Ansprüche auf Erkenntnisgewissheit und Unsicherheitsreduktion" erhoben (ebd.). Unser Interesse richtet sich nun also auf diese Grenzziehung bzw. Zweiteilung. [2]
Konzepte und Modelle der Wissensgesellschaft gehen bekanntlich von einer wachsenden Wissensbasierung ihrer Systeme aus, von einer Zunahme wissensbasierter Operationen und Handlungen, von einem steigenden gesellschaftlichen Bedarf nach handlungsrelevantem Wissen. Es ist hier nicht der Ort, um diese Konzepte und Modelle sowie die Entwicklungen, auf die sie sich beziehen, zu diskutieren. Jedenfalls besteht ein großer Konsens in der Einschätzung, dass – plakativ formuliert –- das Wissenschaftssystem nicht mehr (ausschließlich bzw. hauptsächlich) Wahrheit produziert, sondern – ebenfalls in Form wissenschaftliches Wissens – zunehmend handlungsrelevante Ressourcen. Die – zumindest im Ideal – klar getrennten Kontexte der Produktion und der Anwendung von Wissen gehen neue Verbindungen ein, der Modus der Steuerung wissenschaftlicher Wissensproduktion ändert sich. Wissenschaft wird so zu einem Markenzeichen unter anderen (vgl. dazu auch KIENER & SCHANNE 1999). Und: Es kann in dieser Perspektive keine anerkannten übergreifenden Maßstäbe zur Herstellung und Beurteilung "richtigen" Wissens geben: "Wahr", "gültig", "nützlich" fallen nicht zwingend zusammen – müssen aber zusammengebracht werden, wenn wissenschaftliches Wissen "reliable knowledge" sein soll, wie das die Vertreter der Theorie der Wissensgesellschaft postulieren. [3]
Vor diesem nur andeutungsweise skizzierten Hintergrund wird folgendes deutlich: REICHERTZ und BREUER machen sich – wenngleich auf unterschiedliche Weise – stark für die Verteidigung von Forschung, deren Qualität sich auf dem Stand des wissenssoziologischen Wissens ausschließlich an den Kriterien und Regeln des Wissenschaftssystems orientiert. Außerdem argumentieren sie innerhalb eines zwar prominenten und dominierenden, trotzdem aber spezifischen institutionell-organisatorischen Arrangements von Forschung, nämlich der universitären. Interpretative Sozialforschung findet jedoch nicht nur in universitären Zusammenhängen statt, sondern ebenso in der angewandten wie in der beauftragten Sozialforschung. In der Universität kommt sie möglicherweise in hoch elaborierten Formen zum Zug, wird entwickelt, differenziert, voneinander abgegrenzt. In der Auftragsforschung werden Methoden interpretativer Sozialforschung oft eng gezielt und vor allem unter der Bedingung knapper Ressourcen eingesetzt. Wenn es nun zutrifft, dass die Forschung an den Universitäten zunehmend auf die Produktion handlungsrelevanten Wissens für außerwissenschaftliche Bereiche orientiert und unter Marktsteuerung gesetzt wird, dann wird der zweite "Forschungstypus" in wachsendem Maß auch für die universitäre Forschung an Bedeutung gewinnen. Es geht an dieser Stelle nicht darum, diese Entwicklung zu begrüßen oder anzuklagen, es geht vielmehr darum, die Frage nach den (möglichen) Folgen für die Qualitätskriterien interpretativer Forschung zu diskutieren. REICHERTZ und BREUER gehen demgegenüber implizit von einem relativ engen Bereich des Wissenschaftssystems und der Formen und Orientierungen wissenschaftlicher Wissensproduktion aus, d.h. sie ziehen die Grenze zu den "Umwelten" von Forschung eng. [4]
Zusammenfassend: Wir gehen davon aus, dass Entwicklungen, die unter dem Stichwort "Heteronomisierung der Wissenschaft" subsumiert werden können, traditionelle Kristallisationen von Dimensionen des Forschungsprozesses aufbrechen lassen. Und wir versuchen, die Frage nach den Kriterien für Güte bzw. Qualität interpretativer Forschung in dieser Perspektive – und ausdrücklich in Ergänzung zu REICHERTZ und BREUER – zu diskutieren. [5]
An dieser Stelle ist ein Hinweis angebracht: Unsere Überlegungen waren ursprünglich entstanden, um – nicht zuletzt aus der Sicht der nicht-universitären Forschungspraxis – eine Diskussion des Forschungskomitees "Interpretative Sozialforschung" der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie im September 1999 anzuregen. Die FQS-Debatte nun war der Anlass, jene Skizze wieder aufzugreifen. Entgegen unserer ersten Absicht, die Skizze unverändert und lediglich mit einer Einleitung versehen vorzulegen, präsentieren wir die alten Überlegungen nun doch in einer neuen Form, um sie als Überlegungen vor der Debatte in einen Beitrag zur Debatte umzuwandeln. Nach wie vor jedoch sind sie als ansatz- und versuchsweise zu verstehen – wir wissen um ihre Unausgereiftheit und um manche Ungereimtheiten.1) [6]
Zunächst: Interpretative Forschung gilt gemeinhin als kontextsensitive Forschung: Es ist weitgehend unbestritten, dass die Methoden interpretativer Sozialforschung gemäß der jeweiligen Fragestellung und dem Forschungsgegenstand entsprechend gewählt, aus- und anprobiert, allenfalls neu entwickelt werden müssen. Es gilt als notwendig, angepasste Verfahren der Strukturierung des Forschungsfeldes, der Auswahl von Gesprächspartnern, Dokumenten etc., der Daten-Erhebung, -Aufbereitung und -Auswertung zu finden. Kontextsensitivität wird oft dem Ideal der Kontextfreiheit gegenübergestellt (vgl. REICHERTZ 2000 [51]), das v.a. in der quantitativen Forschung vertreten werde. Auf der anderen Seite: Was wir als Kristallisationen von Dimensionen des Forschungsprozesses umschrieben haben, kann selbstverständlich ebenfalls als "Kontext" bezeichnet – und entsprechend der Begriff "Kontextsensitivität" verwendet (NOWOTNY 1998) werden. Eine Diskussion des Konzeptes "Kontext" können und wollen wir hier nicht führen. Wir möchten aber auf der Vermutung insistieren, dass die Qualität interpretativer Forschung sinnvollerweise nicht additiv zuerst im einen und darauf im anderen "Kontext" bestimmt werden kann. Unsere These lautet, dass die Qualität interpretativer Sozialforschung stets nur innerhalb der Konfiguration der (vorgegebenen und/oder gewählten) Bedingungen und Kriterien des Forschungsprozesses im "engen" und im "weiten" Sinn zusammen bestimmt werden kann. Entsprechend meinen wir, Qualität interpretativer Forschung, die ja nicht "in der Sache" und nicht abschließend bestimmt werden kann, müsse als Optimierung aufgefasst werden (BREUER 2000 [18] spricht von "Passungsrelationen"). Auch bei einer überschaubaren Zahl von Bedingungen und Kriterien sind ihre Muster hoch variabel. Mit dieser Perspektive wird die dichotome Unterscheidung zwischen interpretativer Forschung, die kontextsensitiv, und quantitativer Forschung, die das gerade nicht sei, relativiert: Im einen Fall sind bestimmte und bestimmbare Elemente mehr und andere weniger relevant als im anderen Fall. Selbstverständlich aber ist die These in erster Linie deshalb für die interpretative Forschung brisant, weil sich ihr Probleme der "Passungen" zentraler und expliziter stellen. [7]
Wenn das unabgeschlossene "Ganze" der Bedingungen oder Kontexte betont wird, muss die Frage danach, wann ein "Optimum", wann eine "genügende" "Sättigung" erreicht ist, über die Frage nach der Gültigkeit hinaus ausgeweitet werden: Zu den Fragen, wann ein Verfahren zu einem zuverlässigen, repräsentativen oder gültigen Resultat führt, treten entsprechende Fragen nach der "genügenden" Legitimation, Nützlichkeit/Verwertbarkeit, Akzeptanz, Autorität etc.2) Qualität erschöpft sich nicht in Gültigkeit. Und: Qualität ist immer "unvollständig" bzw. "begrenzt" und muss gewählt werden. REICHERTZ (2000 [76]) ruft ganz am Schluss seines Beitrags in Erinnerung, "dass alle Arten von Gütekriterien Ergebnis gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse" seien. Daran anknüpfend könnten wir uns vorstellen, die genannten Optimierungen als Kontextualisierungen zu verstehen. [8]
Solche Optimierungen – um das ein bisschen konkreter zu zeichnen – beziehen sich zumindest a) auf gegebene und/oder gewählte Bedingungen des Forschungsprozesses, b) auf Phasen des Forschungsprozesses, und c) auf angebbare Referenzen (Theorieansätze, Argumentationsmuster etc.). [9]
Beispiele solcher unter a) genannter Bedingungen könnten sein: die Definitionsinstanz von Erkenntnisinteresse/Fragestellung (selbst- oder fremddefiniert?); die erwartete Komplexität des zu produzierenden Wissens (Steigerung oder Reduktion von Komplexität als Ziel der Erkenntnis?); die Eingrenzung des Gegenstandes (weit oder eng? fließend oder starr?); die Zeitperspektive/Anlage (diskret oder kontinuierlich?); die Quellen, die Zahl und die Knappheit der Ressourcen (eigene oder fremde, eine oder mehrere?) etc. [10]
Beispiele für Phasen (b) sind der Entscheid für Fragestellung und Theorieansatz, die Selektion des Feldes/Materials bis hin zur Selektion der Textstrategie etc. Mit anderen Worten: Punktuelle Qualität in einer Phase darf nicht mit der Qualität des Forschungsprozesses insgesamt verwechselt werden; Qualität kann nicht allein durch die Optimierung nur einer Phase erreicht werden, zum Beispiel den Fleiß des Forschers beim Schreiben von Memos, die Intuition der Forscherin, die Vertrautheit mit bzw. die Haltung gegenüber dem Feld, die methodologische Kompetenz, die Textstrategie, die Wirkung des Erzählens etc., auch nicht allein durch die Charaktereigenschaften, die Charakterfestigkeit oder Analyseerprobtheit des Forschers.3) [11]
Zu c) gilt analog zu bereits erwähnten Unbestimmtheiten in einem wissenssoziologisch reflektierten Ansatz, dass es keine Instanz gibt, die verbindlich angeben kann, welche Referenzen für welche Kontexte bzw. Bedingungs-Muster geeigneter sind als andere. Eine reflektiert unkonventionelle Optimierung kann gerade die entscheidende Qualität eines Projektes ausmachen. [12]
Optimierungen also sind mehrseitig, mehrstufig, grundsätzlich reflexiv, grundsätzlich nie abgeschlossen. Und sie sollten sich auf den Forschungsprozess als Ganzes sowie auf die Bedingungen und Kriterien insgesamt beziehen. Zur Diskussion steht die Stellung bzw. Haltung von Projekt bzw. ForscherIn zum Feld einerseits, zur wissenschaftlichen Community bzw. zum Textkorpus andererseits. Im Feld sind Begriffe wie Neutralität, Identifizierung, Empathie, Solidarität, außerdem Intervention, Steuerungs-Vorbereitung etc. zu nennen, die je nachdem verlangen, dass die Resultate durch die Untersuchten validiert, dass sie dem Auftraggeber nützlich gemacht werden müssen etc. Beim Textkorpus ist auf Begriffe wie Legitimation, Verortung, Autoritätsbezug, Überzeugungsstrategie etc. hinzuweisen. Hier wäre zudem die Ausdifferenzierung von Rollen im Spannungsfeld Korpus – Feld anzuschließen (Wissenschaftlerin, Experte, Methodenspezialistin, Ressourcen-Akquisiteur usw.). Die Etablierung oder Definition der Stellung von Projekt bzw. Forscher in Feld und Textkorpus lässt sich als mehrseitige Kommunikation verstehen, als Prozess, der intendiert, instrumentalisiert und kontrolliert wird, sich gleichzeitig aber der Intention, Instrumentalisierung und Kontrolle entzieht: Denn Ergebnisse von Kommunikationsprozessen sind nie restlos steuerbar; der Text geht über den Autor hinaus. Die Qualität der Wissensproduktion ist nicht zu trennen von den Bedeutungszuweisungen an dieses Wissen; soziale und epistemische Ebenen sind verschränkt. [13]
Die Optimierungen stehen somit in einem unauflösbaren Spannungsfeld: zwischen Explizierung und Kontrolle einerseits, Unentscheidbarkeit und Unbestimmtheit andererseits. Traditionelle Konfliktlinien, z.B. zwischen Methode und Intuition/Geschick/Wahrnehmungsfähigkeit, decken sich damit nicht. Sie können nicht dem einen oder andern Pol des genannten Spannungsfeldes zugeordnet werden, sind diesbezüglich also keine dichotomen Alternativen. Wir sehen sie eher als sich überlappende Formen reflektierender Optimierung. (Beispielsweise können die – reflektiert oder unreflektiert zur Anwendung kommenden – methodischen Verfahren als verfestigte ehemalige explizite Reflexion aufgefasst werden. Andererseits können auch in der reflektierten handwerklich-meisterlichen Forschungspraxis immer wieder blinde Flecken identifiziert werden, die Problemzonen im Dunkeln lassen.) [14]
Die Etablierung oder Definition der Stellung des Forschungsprojekts in Feld und Textkorpus richtet sich zentral auf die Autorität, die im Feld und gegenüber Texten aufgebaut bzw. behauptet bzw. durchgesetzt wird. Insofern können "Richtungen" der interpretativen Forschung oder Argumentationsmuster als spezifische Anrufungen von Autorität gelten: die Autorität von methodischen Verfahren, die Autorität von individuellem Geschick, die Autorität von Texten und Diskursen.4) Die Autorität aller "Richtungen" gleichzeitig ist nicht zu haben. Autorität lässt sich jedoch nicht nur im gleichsam "engen" Kontext der Forschung aufbauen bzw. behaupten bzw. durchsetzen, also nicht nur in der Scientific Community bzw. in spezifischen Scientific Communities ("Richtungen", "Schulen") vermittels Reputation, sondern eben auch vermittels Prestige einer Organisation bzw. vermittels Vertrauen in institutionell-organisatorische Arrangements, vermittels Beziehungen zu Quellen symbolischen und ökonomischen Kapitals außerhalb des Wissenschaftssystems etc. Folgt man nicht nur REICHERTZ und BREUER, sondern auch den Vertretern der Theorie der Wissensgesellschaft, verfolgt man zudem die Entwicklungen der Steuerungsmodelle der Forschung und der Hochschulen, so kann man zum Schluss kommen, die Autoritäten außerhalb des Wissenschaftssystems wögen zunehmend mehr als jene innerhalb. Allerdings: Das geht offenbar durchaus einher mit der ungeschmälerten Aufrechterhaltung des Kriteriums "Wissenschaftlichkeit" für alle Forschungsaktivitäten, wird also nicht mit einem Verlust an Wissenschaftlichkeit codiert – ein Beispiel für Kontextualisierung als Neu-Konfiguration von Bedingungen, Orientierungen, Kriterien. [15]
Wenn wir reflektierende Optimierung zur Festlegung von Qualität als mehrseitigen – expliziten und impliziten – Kommunikationsprozess fassen, dann bietet es sich an, die Frage nach der Autorität möglichst weitgehend selbst in kommunikativen Verfahren und Vereinbarungen zu thematisieren und klug zu nutzen.5) So kann expliziert und diskutiert werden, welche Autorität weshalb relevant, welche weshalb äußerlich bzw. formal ist. So können – durchaus unter dem Aspekt von Autorität – "Rückversicherungen" (z.B. zur Korrektur von Wahrnehmungen, Bedeutungszuschreibungen etc.), so kann der Forschungsprozess als Lernprozess (von Forschern und Auftraggebern, Forschern und Untersuchten) organisiert werden. Möglicherweise erleichtern solche kommunikativen Verfahren und Vereinbarungen, die Begrenztheit von (erarbeitetem) Wissen anzuerkennen. [16]
Zum Schluss möchten wir einem Missverständnis vorbeugen bzw. begegnen: dass mit der Sichtweise von Optimierung, Kontextualisierung und Kommunikation sich die Spezifika von Wissenschaft auflösen, dass wir einer Entdifferenzierung von Wissen Vorschub leisten. Das Gegenteil ist der Fall. Wir plädieren dafür, Qualitätskriterien wissenschaftlicher Forschung zu explizieren, wir plädieren dafür, die Konfigurationen von Bedingungen, Kriterien etc. des spezifischen Forschungsprojektes so breit und so weit wie möglich zu benennen und in die Definition der Qualität des Forschungsprojektes eingehen zu lassen. Dafür hat gerade das Beharren auf Differenzen eine entscheidende Rolle zu spielen: Differenzen zwischen Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen und Qualität eines Forschungsprojektes, zwischen Qualitätskriterien hier und dort, zwischen wissenschaftlichem und Anwendungssystem etc.6) [17]
Die Qualität interpretativer Forschung scheint uns nämlich eher dann in Frage gestellt, wenn – inner- und außerhalb von Universitäten – stillschweigend Komplexität reduziert und Differenz eingeebnet wird, indem selektiv Elemente aus der jeweiligen Konfiguration von Bedingungen und Kriterien des Forschungsprojektes ausgeblendet werden. Verbreitete Formen sind heute etwa die Reduktion von "Wissenschaft" auf die "korrekte" Anwendung von Methoden, der Ersatz von diskursiv begründeten Qualitätskriterien durch die Autorität der Forschungsinstitution oder das (medial konstruierte) Charisma des Forschers, die Verwischung von unterschiedlichen Forschungszielen u.a. Notwendig scheint uns – und das gilt besonders auch für die Universitäten –, das (reflexive) Potential der reflexiven Wissenssoziologie auf die Bedingungen der eigenen Wissensproduktion zurückzubeziehen. [18]
1) Den Teilnehmern der Komitee-Veranstaltung vom 29.9.2000 danken wir für ihre Einwände und Bemerkungen, ebenso zwei anonymen Gutachtern des FQS. <zurück>
2) REICHERTZ (2000 [51]) spricht diese Ausweitung zwar kurz an, wenn er vom "Wechselspiel von Forschern und Beforschten, Forschung und gesellschaftlicher Verwertung bzw. Anerkennung" und von den "Besonderheiten der 'social world' (...) der Wissenschaftler" spricht; er geht dieser Ausweitung aber nicht nach. <zurück>
3) Vgl. dazu den Hinweis bei REICHERTZ (2000 [12], [8]) auf individuelle "Hellsichtigkeit" und "Kunstfertigkeit" und den dazu korrespondierenden "Genieglauben" als eine Methode zur Fundierung von Validität. <zurück>
4) REICHERTZ (2000 [40]) nennt fast übereinstimmend drei "Großstrategien" oder "Rechtfertigungsmuster", um trotz dem Wissen "um die eigene Perspektivengebundenheit" "dem Gültigkeitsanspruch nicht abschwören zu wollen bzw. zu können": persönliches Charisma, Verfahren, wissenschaftlicher Diskurs. <zurück>
5) Dazu können viele evidente und differenzierte Erfahrungen z.B. aus den Abschätzungen von Technologiefolgen beachtet werden. In den Diskussionen und speziell dafür konstruierten Diskussionsverfahren geht es ja genau darum, in Forschungsprozessen mit pluralistisch differenzierten gesellschaftlichen Orientierungen und Bewertungen einerseits Gültigkeitsfundierungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen und andererseits angemessene Kriterien und Evaluationen von Qualität miteinander zu verknüpfen und miteinander – oder gegeneinander – auszuhandeln. Diese Verfahren beruhen – bei aller Unterschiedlichkeit – ausdrücklich auf der direkten Teilnahme und der unmittelbaren Mitentscheidung aller Beteiligten. <zurück>
6) Dass diese Sichtweise verlangen würde, noch vor der Qualität eines Projektes über die Frage zu diskutieren, wie und warum die Fragestellung und das Projekt selbst entstanden sind – darauf hat uns ein anonymer Gutachter hingewiesen. <zurück>
Breuer, Franz (2000). Über das In-die-Knie-Gehen vor der Logik der Einwerbung ökonomischen Kapitals – wider bessere wissenssoziologische Einsicht. Eine Erregung. Zu Jo Reichertz: Zur Gültigkeit von Qualitativer Sozialforschung [18 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 1(3), Art. 39. Abrufbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-00/3-00breuer-d.htm [Zugriff: 03.01.01].
Kiener, Urs & Schanne, Michael (1999), Wissensinszenierung – Folge und Antrieb der Wissensexplosion. In Claudia Honegger, Stefan Hradil & Franz Traxler (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des deutschsprachigen Kongresses für Soziologie 1998 (Teil 1, S.447-458). Opladen: Leske + Budrich.
Nowotny, Helga (1998), Immer tiefer, immer höher, immer besser? Was wissenschaftlicher Fortschritt sein soll, ist zunehmend weniger klar. Neue Zürcher Zeitung 22, 23.8.98, 81-82.
Reichertz, Jo (2000). Zur Gültigkeit von Qualitativer Sozialforschung [76 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 1(2), Art. 32. Abrufbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-00/2-00reichertz-d.htm [Zugriff: 04.07.00].
Urs KIENER, lic.oec.publ., geboren 1947, arbeitet als freiberuflicher Sozialwissenschafter. Forschungsgebiete: Hochschulen, Berufsbildung, Wissen/Wissenschaft.
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Urs Kiener
Sozialforschung
Steinberggasse 2
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Michael SCHANNE, lic.phil.I, geboren 1948, arbeitet als freiberuflicher Medien- und Kommunikationswissenschaftler. Forschungsgebiete: Wissenschaftsjournalismus; Kommunikation komplexer wissenschaftlich technologischer Themen für Laien-Zielgruppen.
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Michael Schanne
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E-Mail: agk@dial.eunet.ch
Kiener, Urs & Schanne, Michael (2001). Kontextualisierung, Autorität, Kommunikation. Ein Beitrag zur FQS-Debatte über Qualitätskriterien in der interpretativen Sozialforschung [18 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum Qualitative Social Research, 2(2), Art. 2, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs010223.
Revised 3/2007