Volume 2, No. 1, Art. 8 – Februar 2001
Forschungsstrategien bei quantitativer und qualitativer Sozialforschung
Harald Witt
Zusammenfassung: Die Durchführung quantitativer oder qualitativer Sozialforschung unterscheidet sich nicht nur in der Verwendung der Methoden des Datengewinns und in den verschiedenen Verfahren der Datenauswertung, sondern in einem noch grundsätzlicheren Aspekt in der Strategie der Forschungsdurchführung. Die Unterschiede in den Forschungsstrategien sind so gravierend, dass die Verständigung darüber zwischen quantitativ und qualitativ orientierten ForscherInnen ganz erheblich und selbst unter qualitativen ForscherInnen keineswegs problemlos ist. Es soll deshalb der Versuch gemacht werden, wesentliche Unterschiede pointiert herauszustellen. Als Grundlage für das qualitative Vorgehen dient hier der Ansatz von KLEINING (1982; 1995), der das heuristische Moment der qualitativen Sozialforschung besonders betont, der die gemeinsame Herkunft aller Methoden aus den Alltagsmethoden postuliert und der vier Regeln zur Durchführung qualitativer Forschung formuliert. Die Ideen dieses Ansatzes werden auch in einem Artikel hier im gleichen Heft besprochen, insbesondere werden dort auch die vier Regeln ausführlicher dargestellt. (KLEINING & WITT in diesem Band)
Die Forschungsstrategie auf dieser Basis kann mit der Metapher des zirkulären Vorgehens beschrieben und dem linearen Vorgehen der quantitativen Forschung gegenübergestellt werden. Wesentliches Ziel der folgenden Gegenüberstellung ist es zu zeigen, dass beide Strategien sachnotwendig mit der jeweiligen Forschungsorientierung verbunden sind und Abweichungen von den jeweiligen Strategien zu schwerwiegenden Einbußen der Qualität der Forschung führen.
Keywords: Forschungsstrategie, Qualitative Forschung. Quantitative Forschung, Heuristik, Vergleichbarkeit, Repräsentativität
Inhaltsverzeichnis
1. Datenformen und Methoden des Datengewinns
1.1 Quantitative Daten
1.2 Qualitative Daten
1.3 Mischformen
2. Methoden der Datenanalyse
2.1 Quantitative Datenanalyse
2.2 Qualitative Datenanalyse
3. Strategien der Forschungsdurchführung
3.1 Lineare Strategie
3.2 Zirkuläre Strategie
3.3 Strategienverschnitt
1. Datenformen und Methoden des Datengewinns
Um die Bedeutung des Unterschieds verschiedener Forschungsstrategien herauszustellen, muss zunächst zwischen den Datenformen (quantitativ vs. qualitativ), den Rahmenbedingungen des Datengewinns (z.B. standardisiert oder nicht standardisiert) und der Qualität der Daten (z.B. Skalenniveau, Reichhaltigkeit) unterschieden werden. Zum anderen müssen auch die Methoden des Datengewinns und der Datenanalyse voneinander abgegrenzt werden. Pauschal von qualitativen oder quantitativen "Methoden" zu sprechen, verdeckt diese Unterscheidungen und führt leicht zu gravierenden Missverständnissen. Nur durch diese Unterscheidungen können auch die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten deutlich gemacht werden, die zum einen ja durchaus fruchtbar, auf der anderen Seite aber auch ungünstig sein können (Strategienverschnitt). [1]
Mit quantitativen Daten sind hier zunächst nur zahlenmäßig darstellbare, abstrakte Daten gemeint. Das können z.B. physiologische Messwerte, Skalenwerte in Tests oder Fragebögen oder Zeitwerte für bestimmte Ereignisse sein. Abstrakt sind die Daten insofern, als die Zahlen nicht den Bedeutungsgehalt des gemessenen Datums mit enthalten. Der muss nachträglich durch den Leser oder Benutzer der Zahlen wieder hinzugefügt werden. Was mit diesen Daten geschieht, auf welche Weise sie ausgewertet oder analysiert werden (können), ist von einer Reihe zusätzlicher Merkmale dieser Daten abhängig, die ebenfalls in den Zahlen selber nicht enthalten sind, sondern aus der Entstehungsgeschichte oder den Entstehungsbedingungen bekannt sein oder davon abgeleitet werden müssen. [2]
Unter qualitativen Daten werden hier solche Daten verstanden, die konkrete Bedeutungen tragen; in der Regel sind es Texte, aber auch Bilder, Fotos, Filme usw. kommen in Frage. Die unmittelbare Bedeutung ist u.U. nicht eindeutig, sie muss ebenfalls um die Kontextbedingungen ergänzt werden, die Daten enthalten aber mehr Details und sie sind alltagsnäher als Zahlen. Auch hier ist durch die Art der Daten zunächst nicht festgelegt, auf welche Weise sie ausgewertet und analysiert werden (können). Dies ist ebenfalls von zusätzlichen Merkmalen der Daten und außerdem von der Fragestellung, d.h. von der Zielsetzung der Untersuchung abhängig. Während aber bei Untersuchungen mit quantitativen Daten die Zielstellung am Beginn klar sein muss und festgelegt wird, ergibt sich dies bei qualitativen Untersuchungen erst im Verlaufe der Untersuchung selber. [3]
Mischformen gibt es in der Art, dass qualitative Daten nachträglich quantifiziert werden, in dem auf einen Teil ihrer Bedeutungen verzichtet wird und sie in eine abstraktere Form überführt werden. In die gleiche Richtung gehen auch Zuordnungen von qualitativen Daten zu vorformulierten Kategorien. Auch hier wird auf einen Großteil der Bedeutungen verzichtet, nur wird hier der zweite Schritt – die Zuordnung zu Zahlen – (noch) nicht gemacht. Der umgekehrte Weg (Transformation von quantitativen in qualitative Daten) ist aus den oben angeführten Überlegungen natürlich nicht möglich, weil den abstrakten Zahlen nicht nachträglich ihre Bedeutungsvielfalt wieder hinzugefügt werden kann. Beispiel für die nachträgliche Quantifizierung könnte die Zuordnung von Zahlen zu Bewertungen oder Urteilen sein, im Grunde ist jede Skalenbildung eine solche Umwandlung. [4]
Mischformen kann es natürlich auch insofern geben, als im Rahmen ein und derselben Untersuchung sowohl quantitative als auch qualitative Daten erhoben werden können. Die Daten selber sind damit aber durchaus eindeutig entweder quantitativ oder qualitativ. [5]
Quantitative und qualitative Datenanalyse gehen einerseits von unterschiedlich abstrahierten Daten aus (s.o.), andererseits ist auch die Verarbeitung der Daten und die Zielsetzung der Analyse völlig verschieden. Das soll hier nicht im einzelnen ausgeführt, sondern nur soweit beleuchtet werden, wie es zur Darstellung der dann folgenden Strategien erforderlich ist. [6]
Bestimmte quantitative Daten können quantitativ analysiert, d.h. aggregiert und mit statistischen Methoden ausgewertet werden. Das erfordert jedoch Maßnahmen schon beim Datengewinn: die Daten müssen standardisiert erhoben werden, sie müssen eine bestimmte Mindestqualität haben und die Stichprobe muss repräsentativ sein. [7]
Durch die Standardisierung des Datengewinns wird versucht, die Daten "vergleichbar" zu machen, d.h. die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass die Daten miteinander verrechnet werden können. Nur bei Vorliegen dieser Voraussetzung macht es Sinn, Mittelwerte, Streuungen, Zusammenhangsmaße o.ä. zu berechnen. Von der Qualität der Daten bzw. der Skalen hängt es ab, welche Maße sinnvollerweise berechnet werden können (z.B. erfordern viele statistische Verfahren das Intervallskalenniveau). Die Repräsentativität der Stichprobe bezieht sich auf die Grundgesamtheit, für die die Aussagen der Untersuchung gelten sollen. Werden diese Anforderungen an die Daten nicht erfüllt, dann handelt es sich zwar immer noch um quantitative Daten, aber die Art der Auswertung ist bestimmten Einschränkungen unterworfen: z.B. muss u.U. auf bestimmte Sonderfälle von Auswertungsverfahren zurückgegriffen werden (z.B. verteilungsfreie Verfahren) oder die Daten entziehen sich ganz einer sinnvollen quantitativen Analyse. [8]
Bei der Analyse qualitativer Daten gibt es ähnliche Einschränkungen und Grenzen wie bei den quantitativen Daten, nur liegen sie an ganz anderen Stellen. Auch bei den qualitativen Daten gehört die Entstehungsgeschichte mit zu den Daten als ergänzender Kontext und als Maß für die Qualität der Daten. Die Bedingungen des Datengewinns werden im Rahmen qualitativer Untersuchungen i.d.R. stärker betont, genauer betrachtet und expliziter dargestellt als in quantitativen Untersuchungen. Hier sind es aber nicht die Repräsentativität und die Standardisierung, sondern die Reichhaltigkeit, die Offenheit, die Breite, die Detaillierung, die Ernsthaftigkeit, die Betroffenheit, die Expertise, die sprachliche Präzision um nur einige zu nennen. Auch hier macht es nur dann Sinn, in die Analyse der Daten einzusteigen, wenn bestimmte Bedingungen der Datenqualität erfüllt sind. Welche Bedingungen erfüllt sein müssen, hängt hier allerdings sehr von der Fragestellung ab. Wenn es z.B. um die Analyse von Gebrauchsanweisungen geht, dann wird es eher um die Breite der einbezogenen Beispiele gehen, nicht aber um deren sprachliche Qualität. Die differenzierte Bewertung und Beschreibung der sprachlichen Qualität könnte eher ein Ergebnis einer solchen Untersuchung sein. [9]
Im Rahmen heuristischer qualitativer Forschung geht es bei der Analyse der Daten vorrangig um das Finden von Gemeinsamkeiten, d.h. um solche Aspekte in den Daten, die bei der größtmöglichen Heterogenität der Daten das Verbindende darstellen. Dieses Gemeinsame kann durch Gruppieren der Daten, durch "Fragen" an die Daten, durch Kontrastierung mit dem Gegenteil, durch Negation usw. gefunden werden (KLEINING 1982). Ausgangspunkt sind immer die Daten (Texte) selber, die Bedeutungen, die möglichst unmittelbar aus den Texten entnommen werden können, weniger die Bandbreite der Deutungsmöglichkeiten, die die UntersucherInnen zu finden in der Lage sind. M.a.W., jeder Teilaspekt der Analyse muss durch die Daten belegbar sein, es sollte möglichst mehrere Textstellen geben, die eine Aussage bestätigen und es soll das gesamte Datenmaterial verwendet werden (100% Regel). [10]
3. Strategien der Forschungsdurchführung
Weil die Rahmenbedingungen des Datengewinns eine so große Rollen spielen, soll hier genauer auf den Datengewinn im Rahmen verschiedener Forschungsstrategien eingegangen werden. Die Strategien unterscheiden sich bei quantitativen und qualitativen Untersuchungen erheblich. Sie sind sachnotwendig mit der jeweiligen quantitativen oder qualitativen Orientierung verbunden, weil nur die Umsetzung einer bestimmten Strategie auch zu solchen Daten führt, wie sie für die jeweiligen Analysen benötigt werden. Die Strategien sind keineswegs ins Belieben der jeweiligen UntersucherInnen gestellt, sondern von der Fragestellung, dem Wissensstand zum untersuchten Thema und der geplanten Analysemethode abhängig. V.a. der Wissensstand zum Thema (damit ist nicht das individuelle Wissen der einzelnen UntersucherIn gemeint, sondern das verfügbare Wissen zum Thema) bestimmt, ob es sinnvoll und möglich ist, eine begründete Hypothese zu formulieren und auf die Probe zu stellen oder ob es sinnvoll und erforderlich ist, mögliche Annahmen über das Untersuchungsfeld auf empirischem Wege erst einmal zu gewinnen. [11]
Es wird hier zwischen einer linearen und einer zirkulären bzw. iterativen Strategie unterschieden. Die lineare Strategie ist mit dem üblichen deduktiven bzw. quantitativen Vorgehen verbunden, die zirkuläre / iterative Strategie mit heuristischem, qualitativen Vorgehen. [12]
Das lineare Vorgehen besteht darin, dass im Wesentlichen zu Beginn der Forschung ein umfassender Plan (das Forschungsdesign) entworfen wird, mit dem eine bestimmte Fragestellung, eine bestimmte Untersuchung bzw. ein bestimmtes Projekt bearbeitet werden soll. Die Linearität zeigt sich, indem die Phasen des zuvor geplanten Forschungsprozesses in einer bestimmten Reihenfolge abgearbeitet werden und zwar beginnend mit der Formulierung der zu prüfenden Hypothesen und der Festlegung des Untersuchungsplans (inklusive der Festlegung von Stichprobe, Messinstrumenten, Auswertungsverfahren etc.). Daran anschließend folgen die Durchführung der Untersuchung (die Datenerhebung) gemäß diesem Plan, die Auswertung der gewonnenen Daten und die Prüfung der zuvor aufgestellten Hypothesen. [13]
Das Wesentliche hieran ist, dass sachnotwendig während der Untersuchungsdurchführung keine Modifikationen vorgenommen werden können und dürfen, weil sonst die 'Vergleichbarkeit' der Daten gefährdet wird. Die Vergleichbarkeit ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass Daten aggregiert werden können, d.h. rechnerisch zusammengefasst und gemeinsam mit statistischen Verfahren ausgewertet werden können. Die Linearität des Vorgehens ist also keine Marotte der quantitativen ForscherInnen, sondern sachnotwendig der Logik dieses Forschungsvorgehens geschuldet. Die lineare Strategie wird in allen einschlägigen Methodenlehrbüchern der Psychologie oder Soziologie ausführlich dargestellt, so dass hier diese kurzen Hinweise genügen sollen. [14]
Deutlich verschieden hiervon ist das sogenannte zirkuläre Vorgehen der qualitativen Sozialforschung, das ebenso sachnotwendig aus der Logik dieses Ansatzes folgt. Zirkulär heißt hier, dass eine bestimmte Aufeinanderfolge von Forschungsschritten mehrmals durchlaufen wird und der jeweils nächste Schritt von den Ergebnissen des jeweils vorherigen Schrittes abhängt. (Beim quantitativen Vorgehen kann eine solche Zirkularität erst nach Abschluss einer Untersuchung bei der Planung einer neuen Untersuchung ins Spiel kommen.) Im einzelnen heißt das, dass zu Beginn der Forschung nur ein ungefähres Vorverständnis über den Forschungsgegenstand vorliegt und auf dieser Basis zunächst nur wenige nächste Schritte geplant werden können, z.B. die vorläufige Entscheidung für ein bestimmtes Erhebungsverfahren, die Bestimmung einer zu befragenden Person, die Durchführung dieser Befragung und die anschließende Auswertung. Jede dieser Teilphasen kann schon Konsequenzen nach vorne (für das weitere Vorgehen) und nach hinten (Modifikation der Fragestellung) haben. Was im einzelnen eine maximale Variation der Perspektiven (Regel 3) ist, auf welche Weise das Vorverständnis erweitert oder überwunden (Regel 1) werden kann, welche Erhebungsmethoden geeignet sind und welche zu befragenden Personen zur Erhellung des Untersuchungsgegenstandes am besten beitragen können, all dies zeigt sich Schritt für Schritt erst im Verlaufe der Untersuchung, kann also nicht im vorhinein geplant und festgelegt werden.
Abb. 1: Schematische Darstellung der Forschungsstrategien [15]
Man könnte das Vorgehen auch als dialogisch bezeichnen, weil wie in einem Dialog Fragen an den Gegenstand gestellt werden, die Antworten aber über die Fragen hinausgehen und so Anlass für weitere Fragen geben, d.h. die Fragen gehen aus den Antworten hervor, so wie die Antworten aus den Fragen hervorgehen. [16]
Auch der Umfang der Untersuchung, die Größe der Stichprobe oder die Bandbreite der Verfahren ergeben sich erst im Laufe der Untersuchung. Ein Ende der Untersuchung ist dann erreicht, wenn weitere Variationen keine neuartigen Daten mehr ergeben. Insofern ist der Beginn der Untersuchung beliebig, als durch die gezielten Variationen ein vollständiges Bild des Untersuchungsfeldes erreicht werden soll, die ForscherInnen also zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung zurückkehren, allerdings auf einem neuen Wissens- und Erkenntnisstand. [17]
Eine "Vergleichbarkeit" der Daten im Sinne der quantitativen Sozialforschung ist auf diese Weise natürlich nicht herzustellen, wäre aber auch nicht zielführend, sondern im Gegenteil, verhinderte die breitbandige Erfassung des Untersuchungsgegenstandes. Ziel ist ja nicht die Bestimmung der quantitativen Ausprägung bestimmter Aspekte oder Bezüge, sondern die Entdeckung und Beschreibung dieser Bezüge und ihrer Strukturen. Dazu ist es erforderlich, den Gegenstand von allen Seiten zu betrachten, zumindest von den Seiten, die zur Kennzeichnung des Gegenstandes wesentlich sind. Diese Variation kann nur auf der Basis der bisherigen Ergebnisse auch gezielt vorgenommen werden, so dass die Variation nicht zu einer uferlosen Forschung führt, sondern im Gegenteil ein wesentliches Moment der Forschungsökonomie darstellt. Durch das sequentielle, am bisherigen Verlauf und an den Extremen orientierte Vorgehen wird durch ein Minimum an Aufwand ein Maximum an breitbandiger Information gewonnen. [18]
Durch diese gezielte Variation bekommt auch das Kriterium der Repräsentativität eine andere Bedeutung: Geht es bei der quantitativen Sozialforschung darum, durch die Wahl der Stichprobe eine bestimmte Zielgruppe zu repräsentieren, so verfolgt die qualitative Sozialforschung das Ziel, ein Problemfeld durch die Auswahl der Befragungspersonen zu repräsentieren. Dies ist leichter durch extreme als durch durchschnittliche Repräsentanten zu erreichen. Das kann dazu führen, dass die Untersuchungsstichprobe auch aus exotischen Repräsentanten (bezogen auf die gesamte Zielgruppe) besteht, damit aber das Problemfeld in allen Facetten abgebildet wird und nicht nur der durchschnittliche oder häufigste oder typische Teil enthalten ist. Die Aufklärung der Bedeutsamkeit der so erschlossenen Facetten wäre dann Aufgabe einer nachfolgenden quantitativen Untersuchung. [19]
Dieses zirkuläre Vorgehen – gekoppelt mit den vier Regeln von KLEINING – ermöglicht die Umsetzung einer heuristischen (entdeckenden) Sozialforschung in allen Phasen des Forschungsprozesses. Weniger radikal lässt sich heuristisches Vorgehen auch auf die Analysephase beschränken und ist dann – in Grenzen – auch auf quantitative Daten anwendbar, z.B. durch explorierendes Vorgehen bei der Anwendung von Cluster- oder Faktorenanalysen. Es ist aber zu bedenken, dass der Datengewinn dann einer eindeutig linearen Strategie gefolgt sein muss, eine Rückwirkung der Analyse auf den Datengewinn also nicht mehr möglich ist. [20]
Bei der linearen Strategie geht es um den kontrollierten, standardisierten Datengewinn entlang eines festgelegten Forschungsdesigns, um vergleichbare und damit aggregierbare Daten zu erhalten, die quantitativ ausgewertet werden können. Bei der zirkulären Strategie geht es um die breitbandige Erfassung möglichst heterogener Daten, um ein Problemfeld zu repräsentieren, und es umfassend in allen Facetten beschreiben und die inneren Strukturen analysieren zu können. [21]
Ein "Strategienverschnitt" – wie er leider recht häufig zu beobachten ist – resultiert aus der unglücklichen Kombination beider Strategien. Dies ist im Prinzip in beiden Richtungen möglich, nämlich der Verwendung der zirkulären Strategie bei der Erhebung quantitativer Daten und der Verwendung der linearen Strategie bei der Erhebung qualitativer Daten. Während jedoch die erste Variante kaum zu beobachten ist, trifft man auf die zweite um so häufiger. Bei der Verwendung qualitativer Verfahren in einer linearen Strategie kann jedoch kaum etwas Neues gefunden werden, das Verfahren ist extrem unökonomisch und die Auswertung solcher Daten erweist sich in der Regel als außerordentlich frustrierend, weil im nachhinein – wenn es zu spät ist – klar wird, an welchen Stellen die Weichen anders hätten gestellt werden müssen. [22]
Der Strategienverschnitt "passiert" häufig dann, wenn von der Annahme ausgegangen wird, schon die Verwendung qualitativer Verfahren reiche aus, um qualitative Forschung zu betreiben und nicht gesehen wird, dass nicht die Verfahren den wesentlichen Unterschied machen, sondern das Forschungsinteresse, die Fragen, die beantwortet werden sollen und damit die Strategie, die gewählt werden muss. [23]
Da die Daten bei einer zirkulären Strategie in keiner Weise rechnerisch bearbeitet werden, also weder die Häufigkeit von Kategorien gezählt, noch irgendwelche weitergehenden Abstraktionen vorgenommen werden, ist hier nicht die "Vergleichbarkeit" gefragt. Stattdessen ist eine möglichst große "Verschiedenheit" der Daten gefordert, da die Daten das ganze Problemfeld abdecken sollen. Diese beiden Forderungen schließen sich offensichtlich weitgehend aus und deswegen ist der Verschnitt so problematisch. Häufige Formen des Verschnitts sehen z.B. wie folgt aus: [24]
Es wird ein Untersuchungsdesign im vorhinein festgelegt und ohne Rückkopplung zu den gewonnenen qualitativen Daten umgesetzt: Dies kann sich sowohl auf das methodische Vorgehen erstrecken als auch auf die Fragestellung. Zielt die ursprüngliche Fragestellung z.B. auf die "Auswirkungen" von etwas (z.B. Neuen Techniken in der Arbeitswelt oder Arbeitslosigkeit), so kann es schon sehr schwer sein, die Implikationen, die mit dieser Fragestellung verbunden sind, zu sehen und eine Öffnung zu formulieren, die nicht eine einseitige Wirkungsrichtung im Blick hat, sondern z.B. auch eine Wechselwirkung oder einen dialektischen Zusammenhang zulässt; oder aber eine Fragestellung zu wählen, die ganz von den Wirkungen absieht und statt dessen das "Erleben" in den Vordergrund stellt, wenn die Daten diese Sicht der Dinge nahe legen. [25]
Es werden erst alle Daten erhoben (z.B. alle Interviews durchgeführt) und erst danach wird die Analyse der Daten begonnen: Schwächen des Erhebungsverfahrens (Interview), Fehler der Befrager, mögliche Hinweise auf neue Aspekte durch die Befragten können auf diese Weise natürlich nicht aufgegriffen und berücksichtigt werden, so dass im ungünstigen Fall eine Menge Mühe auf die Erhebung und u.U. auch schon in die Transkription verwendet wurde, die Daten sich aber in der Phase der Analyse als wenig ergiebig erweisen, dafür aber sehr schnell deutlich wird, wie denn statt dessen hätte vorgegangen werden können. [26]
Die Stichprobe ist zu homogen: um dem Kriterium der Vergleichbarkeit zu genügen, das ja in der linearen Strategie unabdingbar ist - wird unreflektiert bei der zirkulären Strategie eine homogene Stichprobe zusammengestellt. Daten aus homogenen Stichproben sind in der Regel nur sehr schwer zu interpretieren, weil sie allesamt sehr ähnlich sind und keine Aussagen über Reichweite und Grenzbereiche ermöglichen. Es wird im Grunde nur ein einziger Aspekt des Problems erfasst, der kaum eingeordnet werden kann. [27]
Vermeiden von Repräsentanten extremer Positionen bei der Auswahl der Befragungspersonen: In der Regel werden Daten, die sich nicht ins erwartete oder bisher bekannte Ergebnis einfügen wollen, nicht als Bereicherung und Erweiterung der Problemsicht empfunden, sondern als Störung und Verunsicherung, die zudem noch zusätzliche Zeit kostet. Es resultiert ebenfalls eine eher homogene Stichprobe, die häufig auch durch die leichte Zugänglichkeit der Befragungspersonen definiert ist. [28]
Festhalten am schon bekannten Befund oder am einmal entschiedenen Vorgehen: Auch dies dient der Vermeidung von Verunsicherung und kann dazu führen, dass die Widersprüchlichkeit von Daten übersehen wird oder Daten explizit verworfen werden als "nicht passend" oder "nicht dazugehörig". [29]
Auswertung nach festen Regeln, nach vorher festgelegten Kategorien, nach den Aussagen einer vorher festgelegten Theorie: dieses Vorgehen ist besonders bei Ungeübten sehr beliebt, liefert es doch einen festen Orientierungsrahmen und hilft damit, Verunsicherungen und Desorientierungen in den verschiedenen Phasen einer zirkulären Umsetzung zu vermeiden. Wird dieses Vorgehen zusätzlich entlang den Regeln eines "Kochbuches" durchgeführt, so muss den Beteiligten die Verengung der Fragestellung, die mangelnde Ergiebigkeit und das Unpassende der Verfahren noch nicht einmal auffallen. Es wird als nach den Regeln der ("Koch-") Kunst durchgeführte erfolgreiche Forschung verbucht. [30]
Das Auszählen von Häufigkeiten bestimmter Inhaltskategorien: Selbst wenn beim Datengewinn ein iteratives Vorgehen praktiziert wurde, kann in der abschließenden Analysephase ein Rückfall geschehen, indem nicht nach Gemeinsamkeiten, nach Zusammenhängen und Strukturen gesucht wird, sondern die Häufigkeiten bestimmter Kategorien gezählt werden. Ob aber 7 von 12 Personen oder nur eine von 12 eine bestimmte Aussage gemacht hat, ist an dieser Stelle meist ganz unerheblich. Wichtig könnte dagegen sein, welche Kategorien überhaupt auftauchen und welche verschiedenartigen Kategorien in welchen Zusammenhang gebracht werden oder welche Themen nicht angesprochen werden. [31]
Verwendung nur eines einzigen Erhebungsverfahrens: Die Variation der Perspektiven, die u.a. auch durch die Variation der Verfahren erreicht werden kann, wird nur selten ausgeschöpft, auch oft mit den Argumenten der mangelnden Vergleichbarkeit der Daten unterlassen. Daneben gibt es aber auch die Favorisierung eines bestimmten Verfahrens, das auf jeden Fall eingesetzt wird, ganz gleich, welches Problem untersucht werden soll. Diese Vorliebe für ein bestimmtes Verfahren kann die verschiedensten Gründe haben (von ethischen Überlegungen bis zur Nähe zum persönlichen Stil), ist aber nicht an der Angemessenheit für das zu untersuchende Problem orientiert oder an der Ergiebigkeit der Daten. [32]
Diese Auflistung soll die Schwierigkeiten verdeutlichen, die mit der Praxis der zirkulären Strategie verbunden sind. Nur wenn die Probleme benannt werden, die mit dem mehr oder weniger automatischen Übertragen der Kriterien der linearen Strategie auf das zirkuläre Vorgehen verbunden sind, können diese Probleme vermieden werden. Das ist keineswegs leicht und geschieht auch nicht von alleine, sondern kann nur durch die offene Diskussion und Reflexion in einer kritischen und aufmerksamen Runde erreicht werden. [33]
Die Unterschiede in der Forschungsstrategie sind so erheblich, dass eine konsequente Umsetzung der zirkulären, qualitativen Strategie vor allem bei Studierenden dann auf große Schwierigkeiten stößt, wenn die quantitative Strategie als die 'normale' angesehen wird, von der abzuweichen mit Skrupeln, Zweifeln und Unsicherheiten bestraft wird (WITT 1997). [34]
Während der Strategienverschnitt durch die unglückliche Kombination von Verfahren und Strategie ein großes Problem darstellt, spricht überhaupt nichts dagegen, im Rahmen einer zirkulären Strategie auch standardisierte Verfahren einzusetzen oder umgekehrt, im Rahmen einer linearen Strategie auch qualitative Daten zu verwenden. Z.B. könnte es sinnvoll sein, eine Reihe biographischer Daten von jeder Befragungsperson über einen einheitlichen kleinen Fragebogen zu erheben, um auf möglichst einfache und bequeme Weise diese Daten zu sammeln, ohne sie allerdings quantitativ zu analysieren. Sie könnten aber zu einer groben Beschreibung der Stichprobe dienen. Auch könnte es hilfreich sein, im Rahmen einer linearen Strategie offene Fragen in ein standardisiertes Instrument einzuplanen, um u.U. Hinweise darauf zu bekommen, wie ein bestimmtes Item aufgefasst wurde oder welche Aspekte im Instrument nicht berücksichtigt wurden. [35]
Entscheidend ist immer die Angemessenheit der Strategie insgesamt und daraus folgend die Wahl der vorwiegend verwendeten Verfahren und die weitere Verwertung der Daten. Die statistische Verrechnung quantitativer Daten im Rahmen einer zirkulären Strategie ist natürlich nicht sehr sinnvoll. Diese Daten können nur als zusätzliche Information zusammen mit den qualitativen Daten verwendet werden, genauso wie qualitative Daten im Rahmen einer linearen Strategie Zusatzinformationen liefern können, aber nicht im Sinne einer heuristischen, iterativen Vorgehensweise genutzt werden können. [36]
Kleining, Gerhard (1982). Umriß zu einer Methodologie qualitativer Sozialforschung. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34, 224-253.
Kleining, Gerhard (1995). Lehrbuch Entdeckende Sozialforschung. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Kleining, Gerhard & Witt, Harald (2001, February). Discovery as Basic Methodology of Qualitative and Quantitative Research [81 paragraphs]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(2). Verfügbar über http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-01/1-01kleiningwitt-d.htm.
Witt, Harald (1997). Welche Forschung ist normal, oder Wie normal ist qualitative Sozialforschung? Zeitschrift für Politische Psychologie, 3+4, 251-269.
Harald WITT, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Professor für Psychologie am Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg, Psychologisches Institut I, Arbeitsbereich Arbeits-, Betriebs- und Umweltpsychologie.
Arbeitsschwerpunkte: Arbeit und Technik, qualitative Forschungsmethoden, Introspektion
Kontakt:
Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych. Harald Witt
Universität Hamburg,
FB 16,
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D - 20146 Hamburg
Tel.: +49 / 40 / 42838 - 3611
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E-Mail: HWitt@rrz.uni-hamburg.de
Witt, Harald (2001). Forschungsstrategien bei quantitativer und qualitativer Sozialforschung [36 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum Qualitative Social Research, 2(1), Art. 8, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs010189.
Revised 7/2008