Volume 9, No. 3, Art. 27 – September 2008

Rezension:

Werner Reichmann

Promotionskolleg "Kinder und Kindheiten im Spannungsfeld gesellschaftlicher Modernisierung" (Hrsg.) (2006). Kinderwelten und institutionelle Arrangements – Modernisierung von Kindheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 159 Seiten, ISBN 3-531-15065-0, EUR 29,90

Zusammenfassung: Die Beiträge im vorliegenden Sammelband behandeln kindliche Strategien, Handlungsweisen und Konstruktionen in unterschiedlichen Settings. Auch die dabei verwendeten Methoden und Vorgehensweisen sind sehr heterogen. Gemeinsam ist (fast) allen Beiträgen, dass sie Kinder als kompetente Akteure und Konstrukteure ihrer eigenen sozialen Welt sehen. Damit folgen sie mehrheitlich dem, was unter "New Sociology of Childhood" (MATTHEWS 2007) verstanden wird. Der Band stellt ein gelungenes Beispiel für institutionell organisierte Förderung von Doktorandinnen und Doktoranden dar.

Keywords: Soziologie der Kindheit: Kinder; Ethnografie; Promotionskolleg

Inhaltsverzeichnis

1. Institutionelle Rahmung

2. "New Sociology of Childhood"

3. Ethnografie als besonders adäquate Methode in der Soziologie der Kindheit

4. Fazit

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Institutionelle Rahmung

Die acht Autorinnen und Autoren des vorliegenden Herausgeberbandes sind allesamt Stipendiatinnen und Stipendiaten des Promotionskollegs "Kinder und Kindheiten im Spannungsfeld gesellschaftlicher Modernisierung". Dieses wird von der Hans-Böckler-Stiftung finanziert und ist an den Universitäten Wuppertal und Kassel angesiedelt. Anders als an deutschen Universitäten üblich, wird den Doktorandinnen und Doktoranden des Promotionskollegs offensiv und systematisch die Möglichkeit zur Vernetzung sowohl mit erfahrenen als auch weniger erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geboten. Werner FIEDLER, Referatsleiter der Abteilung Promotionsförderung an der Hans-Böckler-Stiftung, analysiert im Nachwort die seiner Meinung nach existierenden Schwächen des deutschen Promotionsmodells und beschreibt, welche Alternative die Hans-Böckler-Stiftung anbietet. [1]

Intransparente Leistungsbeurteilungen im klassischen "Meister-Lehrling-Modell" (S.156) missfallen FIEDLER ebenso wie isoliert arbeitende Doktorandinnen und Doktoranden oder überspezialisierte Dissertationsthemen, die seiner Meinung nach "in randständige Themen abgleiten" (S.155). Er beklagt die zu lange Promotionsdauer, die wiederum die Chancen am Arbeitsmarkt empfindlich verringere und meint, dass "[e]ine Promotion in Einsamkeit und Freiheit, wie sie von den philosophischen und soziologischen KlassikerInnen einst beschrieben wurden [sic!], [...] heute nicht mehr als Ideal eines Nachwuchswissenschaftlers – wenn es denn je ein gutes Vorbild war – sein" (S.156) könne. Mit dieser Sichtweise macht sich FIEDLER in Deutschland derzeit meiner Einschätzung nach wenig Freunde. Die Forderung nach und Förderung von organisierten Promotionskollegs – auch mit einer verpflichtenden Rahmenprüfungsordnung und einer Vielzahl an gemeinsamen unterschiedlichen Aktivitäten der Doktorandinnen und Doktoranden – wird vor dem Hintergrund von FIEDLERs Darlegungen aber verständlich und nachvollziehbar. [2]

Besucht man die Internetseite des Promotionskollegs "Kinder und Kindheiten"1), entsteht der Eindruck, dass es den Organisatoren gut gelungen ist, die Vorstellung der Hans-Böckler-Stiftung umzusetzen. So findet sich im Bericht über den bisherigen Kollegverlauf und die absolvierten Veranstaltungen in den Jahren 2002 bis 2007 die Dokumentation einer Reihe von Workshops, Seminaren und Vorträgen mit führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Gebiet der Soziologie der Kindheit.2) [3]

Das vorliegende Buch muss daher auch als ein Produkt dieser in Deutschland für Geisteswissenschaften innovativen Organisation der Promotionsbetreuung gesehen werden. Die gemeinsame Herausgabe einer Publikation in einem, wenn auch nicht im Spitzenfeld agierenden, so doch im deutschsprachigen Raum anerkannten Verlag ist als Einstiegshilfe in die Academia unbezahlbar und steht Doktorandinnen und Doktoranden nach dem bisher angewandten Verlaufsprinzip der Promotion meist nicht oder nur auf sehr personalisierter Ebene zur Verfügung. Soviel zum institutionellen Entstehungszusammenhang des Bandes. [4]

2. "New Sociology of Childhood"

Jedes Buch hat Schwächen. Wenn aber in einem Herausgeberband lediglich zwei von acht Beiträgen dem zu behandelnden Thema wenig weiterhelfen, meine ich, ihn mehr oder minder bedenkenlos empfehlen zu können. Genau das ist beim vorliegenden Band "Kinderwelten und institutionelle Arrangements" der Fall. [5]

Das Thema, in das sich alle Beiträge des Bandes einordnen lassen, ist in der noch jungen Tradition der häufig als "New Sociology of Childhood" bezeichneten Richtung der Kindheitssoziologie verankert (vgl. dazu beispielsweise MATTHEWS 2007; QVORTRUP, BARDY, SGRITTA & WINTERSBERGER 1994; BÜHLER-NIEDERBERGER & SÜNKER 2003 sowie die Bände von HONIG, LANGE & LEU 1999 und HEINZEL 2000 und den ausführlichen Review Essay dazu von MEY 2001). Dieser Ansatz innerhalb der Kinder- und Kindheitsforschung sucht nach alternativen Perspektiven zum traditionellen Sozialisationsmodell, das als "process whereby the neonate is fitted progressively into various social systems within the society in which he lives" (RITCHIE & KOLLER 1964, S.24) gesehen wird. Schon aus diesem kurzen Zitat werden wesentliche Merkmale der sozialisationstheoretischen Sichtweise deutlich. Erstens drückt es aus, dass das Kind an eine Kultur "angepasst wird". Es spielt in diesem Anpassungsprozess also, wenn überhaupt, eine nur passive Rolle. Zweitens ist herauslesbar, dass Menschen erst, wenn sie den beschriebenen Prozess der Anpassung an die "social systems" durchgemacht haben, gleichermaßen "fertige" Menschen sind. Und drittens spiegelt sich in dem Zitat ein Universalismus von Kindheit wider, wie er für sozialisationstheoretische Konzepte typisch ist. [6]

Die "Neue Soziologie der Kindheit" richtet sich gegen diese Sichtweise auf Kinder und Kindheit. Etwas verkürzt könnte man diesen zur Mitte der 1990er Jahre etablierten soziologischen Zugang nach PROUT und ALLISON (1997) in vier Punkten zusammenfassen. Kindheit wird dabei als soziale Konstruktion verstanden, verliert also ihren zeitlich wie räumlich universellen Charakter. Zweitens wird Kindheit zu einer weiteren soziologischen "Variablen". Damit steht diese Lebensphase auf derselben Stufe wie Gender oder ethnische Zugehörigkeit und hebt sich von einem rein biologistischen, auf das Lebensalter reduzierten Attribut ab. Drittens werden Kinder nicht mehr als "unfertige Erwachsene" gesehen, sondern als aktive und kompetente Akteure ihrer Umwelt. Die kindliche Perspektive wird dabei konsequenterweise bei der Beforschung von Kindern und Kindheit(en) berücksichtigt. Viertens nimmt das neue Paradigma auf die permanente Rekonstruktion von Kindheit Rücksicht und teilt den kindlichen Akteuren dabei eine aktive Rolle zu. [7]

Im Folgenden bespreche ich die Beiträge einzeln. Da sie sich sowohl hinsichtlich der thematischen Ausrichtung als auch hinsichtlich der verwendeten Methoden stark unterscheiden, ist es nicht einfach, eine in sich logische Reihenfolge zu finden. Die hier gewählte Anordnung entspricht nicht der des Buches, sondern fasst die Beiträge in zwei Teile zusammen: in einen heterogenen ersten Teil, in dem sich Aufsätze aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven versammeln. Und einen zweiten Teil, in dem sich die Autorinnen schwerpunktmäßig der ethnografischen Methode bedienen. [8]

Beginnen will ich mit einem Beitrag, der sich mit einer in der Kindheitsforschung immer wieder verwendeten Datenerhebungsmethode beschäftigt: dem Gruppeninterview. Er nimmt allerdings eine unerwartete Wendung, die ihn besonders erwähnenswert und interessant macht. [9]

Gustav MEWES beschreibt eine Gruppeninterviewsituation mit vier ca. zehn Jahre alten Kindern, die aus dem Ruder lief. Das Interview hat in keiner Weise die gewünschten oder geplanten Ergebnisse gebracht und könnte bei oberflächlicher Betrachtung als gescheitert bezeichnet werden. Die methodische Reflexion des Interviews und die Einbettung in ein theoretisches Konzept von "Fremdsein" und "Fremdverstehen" fördert hingegen interessante methodische Ergebnisse zu Tage. Das Interview war davon geprägt, dass sowohl der Interviewer als auch die Interviewten nicht in der Lage waren, ihre Erwartungshaltungen an das Treffen kommunikativ zu verdeutlichen. Zudem gelang es keiner der Parteien, ihre Sichtweise durchzusetzen. Der Aushandlungsprozess, der zu einer Übereinkunft der situativen Deutung hätte führen können, wurde zudem durch den nicht erwartbaren Anspruch auf Autorität durch den Interviewer zusätzlich erschwert. Wenn Kinder, so wie es die "New Sociology of Childhood" vorschlägt, als kompetente Akteure ihrer Welt und ihrer Kultur begriffen werden, ist die Position des Interviewers bzw. der Interviewerin genau jene von Fremden, die – um die SIMMELsche Metapher zu bemühen – eine eigenartige Ambivalenz zwischen (räumlicher) Nähe und (kultureller) Ferne aufweist (S.140). [10]

Die Tiefe und Ehrlichkeit der methodischen Reflexion sind bei diesem Beitrag besonders positiv zu bewerten. In der Regel werden wir in Publikationen über Forschungssituationen informiert, die zum einen im Verfahren schulbuchmäßig funktioniert haben und zum andern zum intendierten Ergebnis geführt haben. Gustav MEWES' Beitrag ist aus dieser Perspektive ausgesprochen erfrischend und erwähnenswert. [11]

Sven STEINACKER beschäftigt sich mit der Jugendwohlfahrt in der Weimarer Republik und untersucht in historischer Perspektive die Situation fremduntergebrachter Kinder und Jugendlicher am Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch er versucht dem Anspruch, diese als kompetente Akteure und Konstrukteure ihrer Umwelt wahrzunehmen, nachzukommen. Dabei schildert er das Spektrum widerständiger Handlungsstrategien gegen Anstaltsleitungen und Erzieher und Erzieherinnen. Das Spektrum reicht von "symbolischen Kämpfen" (S.21), die als Wettbewerb um Etikettierungsmacht interpretiert werden können, bis zur totalen Verweigerung und Flucht aus der Anstalt. Dabei ist erwähnenswert, dass er den einquartierten Kindern und Jugendlichen jene aktive Handlungskompetenz zuschreibt, die ihnen zu Lebzeiten nicht zugestanden wurde. [12]

Obwohl er am Ende seines Beitrags kurz erwähnt, dass es "falsch" wäre, "ausnahmslos allen Jugendlichen eine grundlegende Gegnerschaft zur öffentlichen Ersatzerziehung zu unterstellen" (S.32), könnte er auch auf Strategien und Handlungsrepertoires der Konformität eingehen. Ohne die Quellenlage zu kennen vermute ich, dass dies einerseits die quantitativ größere Gruppe von Heiminsassen beträfe und andererseits eine geeignete Kontrastfolie bieten könnte, um Handlungsstrategien abbilden zu können. Ob es jedoch auch zu den konformen Kindern und Jugendlichen genügend Daten gibt, kann ich nicht beurteilen. [13]

Michael TUNÇs Beitrag "Vaterschaft in der Migrationsgesellschaft" lässt die Lesenden etwas ratlos zurück. Es ist lediglich am Rande erkennbar, welche Rolle Kinderwelten in seiner Studie spielen könnten. Ein kleiner Hinweis steckt in der vom Autor formulierten Frage, "welche väterlichen Praxen am ehesten als positive Ressourcen für kindliche Entwicklungen verstanden werden" (S.38) können. Dabei bleibt einerseits unklar, was als "positive" Ressource verstanden werden kann, und andererseits – und das wiegt schwerer – vernachlässigt es der Autor im Anschluss, auf diese Frage ein Antwort zu finden. Vielmehr folgt ein m.E. überladener Vergleich unterschiedlicher theoretischer Ansätze über soziale Stratifikation, der (wenig überraschend) mit BOURDIEU endet. Ich glaube, der Autor ahnt bereits, dass es ihm an Daten mangelt. Immerhin räumt er ein, dass es "dringend erforderlich" sei, "die weitere Theoriebildung [...] durch empirisch gesicherte Erkenntnisse [...] zu unterfüttern" (S.53). [14]

Matthias KOCH beobachtete und befragte Kinder, die Spielzeug benutzen, das den Anforderungen des "constructionism" entspricht. Kinder (aber auch Erwachsene), so meinen Vertreterinnen und Vertreter des "constructionism", lernen dann besonders schnell und nachhaltig, wenn sie sich dabei mit der eigenständigen Herstellung (also der Konstruktion) eines sinnvollen Produkts beschäftigen (S.110). "Wahl, Vielfalt und Zwanglosigkeit" (S.119) sind die geforderten Eigenschaften, die, so der Autor, die unterschiedlichen und den jeweiligen Altersstufen angepassten Bausteine des Herstellers LEGO hervorragend erfüllen. Nebenbei lernen die Spielenden auch noch einiges über natur- und ingenieurwissenschaftliche Fächer. Matthias KOCH vergleicht seine Daten sehr informiert mit Studien aus der Vergangenheit, die ähnliche Fragestellungen verfolgten. Zudem versucht er, eine Verbindung von Identitätsbildung im Spiel und mit den Merchandisingstrategien der Firma LEGO herzustellen. Dieser Versuch erscheint wenig plausibel bzw. wurde ihm auch zu wenig Raum gewidmet. Schade ist zudem, dass sämtliche Anmerkungen zur methodischen Vorgehensweise fehlen. [15]

Kinder als kompetente Akteure und Konstrukteure ihrer Welt zu fassen. führt zwingend dazu, ihnen die Möglichkeit zur Partizipation an Entscheidungsprozessen zu bieten. Hierbei muss angemerkt werden, dass die Pädagogik auf diesem Gebiet bereits wesentlich länger Erfahrungen sammelt, als es die Soziologie tut. Kontinuierliche und fortschreitende Formen der Partizipation von Kindern fördern nicht nur das soziale Bewusstsein (S.124), sondern Partizipation wird von Pädagoginnen und Pädagogen auch als Aktivierungsmöglichkeit für Lernprozesse gesehen. Anhand eines Modells in Brasilien versucht Cristiane SANDER, neue Partizipationskonzepte zu finden, in denen neben Mitbestimmung auch Demokratie gelernt werden soll. Brasilien stellt diesbezüglich ein breites Spektrum an Herausforderungen zur Verfügung, ist es doch ein sehr großes Land mit fehlender demokratischer Tradition und mit signifikanter Auslagerung sozialstaatlicher Aufgaben zu Kirche und anderen Verbänden, die sich um sozial schwächere Gruppen kümmern (S.127). Am Beispiel der brasilianischen Jugendpastorale zeigt SANDER, dass Partizipationsmaßnahmen dann gut funktionieren, wenn Kinder und Jugendliche als Protagonistinnen und Protagonisten der jeweiligen Organisation fungieren können. Organisationen, die "von Jugendlichen für Jugendliche" (S.130) arbeiten, lösen, so SANDER, Probleme, die mit Aktivierung und Partizipation zusammenhängen, am besten. [16]

3. Ethnografie als besonders adäquate Methode in der Soziologie der Kindheit

Leserinnen und Lesern, die einen guten Eindruck empirisch fundierter Studien auf dem Gebiet der ("neuen") Soziologie der Kindheit haben möchten und sich für eine akteursbezogene und (ko-) konstruktivistische Perspektive interessieren, lege ich die folgenden Beiträge des Buchs besonders ans Herz bzw. auf den Lesetisch. Sowohl Katja LIEBER als auch Dorothea WITT bedienen sich für ihre Studien der Ethnografie, einer gut eingeführten Methode der qualitativen Sozialforschung, die im Bereich der Kinderforschung wahrscheinlich zu den adäquatesten zählt. Die Methode ist akteursnah, offen genug, um Unerwartetes aufnehmen zu können und elaboriert genug, um valide Daten zu produzieren. [17]

Katja LIEBER verwendet die ethnografische Methode, um dem Ritual als einem für Kinder und Jugendliche Ordnung schaffenden und Realität reproduzierenden Phänomen auf die Spur zu kommen. Sie beobachtete 19 Kinder zwischen 11 und 15 Jahren in einem einer Sport-Elite-Schule angeschlossenen Internat beim wöchentlichen Putzritual. Dieses Ritual wird von der Internatsleitung initiiert und inszeniert, und dabei ist zumindest zweierlei erwähnenswert: Erstens reproduziert es sowohl Macht- und Hierarchiestrukturen innerhalb der Kindergruppe als auch deren Verhältnis zur Internatsleitung. Zweitens wird plausibel gemacht, dass Werte und Normen, die in der Welt des Leistungssports offenbar wichtig sind (z.B. Bereitschaft, sich in kompetitive Situationen zu begeben, Disziplin, Pünktlichkeit), über das eigentlich sportfremde Ritual des Putzens internalisiert werden. Katja LIEBER versteht es in ihrem wirklich lesenswerten Beitrag, den theoretischen Ansatz der eingangs erwähnten "New Sociology of Childhood" in einer empirischen Arbeit konsequent umzusetzen. Sie zeigt, wie sich Kinder gemeinsam in einer symbolisch aufgeladenen Situation ihre Realität ko-konstruieren. Es scheint, als hätten "die Kinder viel Spaß am Putzen", so als "ob sie sich geradezu darauf freuen" (S.101). LIEBER stellt plausibel dar, dass das Putzen lediglich ein Stellvertretermedium für andere, den Spaß erzeugende Abläufe ist: Erst die ritualisierte Einbettung und sportlich-kompetitive Strukturierung des Putzens erzeugt die Freude, mit der sich die Kinder an die ansonsten als lästig geltende Arbeit machen. [18]

Begeistert habe ich auch den Beitrag von Dorothea WITT gelesen. Sie bedient sich ebenfalls gekonnt der Ethnografie. Im Gegensatz zu den anderen Autorinnen und Autoren macht sie klar, wie sie bei der Datenauswertung vorgegangen ist. Es gelingt der Autorin anhand der Analyse (unter Bezugnahme auf die Grounded-Theory-Methodologie) verschiedener Funktionen des Zauns, der rund um den zu einem Kindergarten gehörigen Spielplatz gezogen wurde, einem interessanten Paradoxon im Kindheitsbild der beteiligten Erwachsenen (Erzieherinnen, Betreuerinnen und Eltern) auf die Spur zu kommen. Dieses Paradoxon besteht darin, dass Kinder einerseits als schutzbedürftig, unmündig und von einer entschärften und absichtsvoll gestalteten Natur abhängig gesehen werden. Andererseits wird ihnen aufgrund ihrer "Ungeformtheit" und "Ungebildetheit" moralische Reinheit und politische Handlungsfähigkeit zugesprochen. WITT konzipiert und diskutiert anhand ihrer Daten die Widersprüchlichkeit der beiden Kindheitskonzepte des "schutzbedürftigen" und des "wahrhaftigen Kindes" (S.71f.). Die Darstellung der Rolle des Zauns rund um den Spielplatz möchte ich als äußerst gelungen bezeichnen. [19]

Neben diesen größtenteils (sehr) gelungenen Beiträgen enthält der Band einen von mir als deplatziert empfundenen Essay über die Verwendung des Begriffs "Kultur". In diesem Essay werden die von den anderen Autorinnen und Autoren durchwegs eingehaltenen Standards wissenschaftlichen Arbeitens ignoriert. [20]

4. Fazit

Insgesamt gibt "Kinderwelten und institutionelle Arrangements" weitgehend gute und interessante Anstöße, den Weg der "New Sociology of Childhood" auch empirisch zu gehen. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Beiträge von Dorothea WITT und Katja LIEBER, die neben der anregenden und kreativen Theoriebildung auch mit ihren methodischen Zugängen den Anforderungen des (jetzt auch nicht mehr ganz so) neuen Paradigmas nicht nur entsprechen, sondern dieses auch ein Stück weiterentwickeln. [21]

Eine weitere Stärke des Bandes ist in jedem Fall auch die interdisziplinäre Herangehensweise der Autorinnen und Autoren. Zwar sind alle Beiträge in weitestem Sinne als soziologisch zu bezeichnen und bedienen sich spezifisch soziologischer Erklärungsmodelle. Doch die Fragestellungen, Herangehensweisen, Datenlagen und Methoden weisen eindeutig auf unterschiedliche disziplinäre Herkünfte hin. Dies führt zwar dazu, dass die Beiträge heterogen daherkommen. Doch das ist der kleinste Preis, den jemand zahlen muss, wer sich auf interdisziplinäre Perspektiven einlässt. [22]

Anmerkungen

1) http://www.uni-kassel.de/fb4/kinder-und-kindheiten/, besucht am 3.6.2008. <zurück>

2) http://www.uni-kassel.de/fb4/kinder-und-kindheiten/forschungsantrag-promotionskolleg.pdf, S.9ff., besucht am 3.6.2008. <zurück>

Literatur

Bühler-Niederberger, Doris & Sünker, Heinz (2003). Von der Sozialisationsforschung zur Kindheitssoziologie: Fortschritte und Hypotheken. In Armin Bernhard, Armin Kremer & Falk Rieß (Hrsg.), Kritische Erziehungswissenschaft und Bildungsreform: Fortschritte und Hypotheken (S.200-220). Hohengehren: Schneider Verlag.

Heinzel, Friederike (Hrsg.) (2000). Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Weinheim: Juventa.

Honig, Michael-Sebastian, Lange, Andreas & Leu, Hans R. (Hrsg.) (1999). Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung. Weinheim: Juventa.

Matthews, Sarah H. (2007). A window on the "new" sociology of childhood. Sociology Compass, 1, 322-334.

Mey, Günter (2001). Den Kindern eine Stimme geben! Aber können wir sie hören? Zu den methodologischen Ansprüchen der neueren Kindheitsforschung. Review Essay: Michael-Sebastian Honig, Andreas Lange & Hans R. Leu (Hrsg.) (1999). Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung / Friederike Heinzel (Hrsg.) (2000). Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 16, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0102160.

Prout, Alan & James, Allison (1997). A new paradigm for the sociology of childhood? Provenance, promise and problems. In Alan Prout & Allison James (Hrsg.), Constructing and reconstructing childhood (S.7-33). London & Washington D.C.: Falmer Press.

Qvortrup, Jens; Bardy, Marjatta; Sgritta, Giovanni & Wintersberger, Helmut (1994). Childhood matters: Social theory, practice and politics. Aldershot: Avebury.

Ritchie, Oscar W. & Koller, Marvin R. (1964). Sociology of childhood. New York: Appleton – Century – Crofts.

Zum Autor

Werner REICHMANN, geboren 1976, ist promovierter Soziologe. Er ist derzeit als wissenschaftlicher Assistent an der Fachgruppe Soziologie der Universität Konstanz tätig. Seine Forschungsgebiete sind den Bereichen Wissenschaftssoziologie, qualitative und quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung sowie Soziologie der Kindheit(en) zuzuordnen.

Kontakt:

Werner Reichmann

Universität Konstanz
FB Geschichte und Soziologie
Fach D-46
78457 Konstanz

E--Mail: werner.reichmann@uni-konstanz.de
URL: http://www.wernerreichmann.net/

Zitation

Reichmann, Werner (2008). Rezension zu: Promotionskolleg "Kinder und Kindheiten im Spannungsfeld gesellschaftlicher Modernisierung" (Hrsg.) (2006). Kinderwelten und institutionelle Arrangements – Modernisierung von Kindheit [22 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(3), Art. 27, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0803273.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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