Call for Papers FQS-Schwerpunktausgabe "Soziale Welten, Arenen und Situationsanalysen: Theoretische Debatten und forschungspraktische Erfahrungen"

2022-01-18

Die Theorie sozialer Welten und Arenen im Anschluss an STRAUSS (1978, 1982a, 1982b) steht in der sozialökologisch und relational ausgerichteten Tradition der Chicagoer Soziologie. Für die Situationsanalyse von CLARKE, FRIESE und WASHBURN (2018) bildet sie einen wesentlichen Bestandteil in dem entsprechenden "Theorie-Methoden-Paket" von Grounded-Theory-Methodologie und symbolischem Interaktionismus (a.a.O, siehe auch CLARKE & STAR 2008). Soziale Welten gelten dabei als "universe of discourse" (MEAD 1934, S.282), in denen "Orientierungs-, Kommunikations-, Wissens-, Ausdrucks- und Arbeitszusammenhänge" (SCHÜTZE 2016a, S.75, unter Rückgriff auf STRAUSS 2017 [1993]) ausgebildet werden, welche sich auf die Gestaltung spezifischer Arbeits- und Problemzusammenhänge richten. Diesem Begriffsverständnis zufolge entstehen in sozialen Welten vom Alltagswissen zu unterscheidende Sonderwissensbestände, die mit der Definition und Bearbeitung spezifischer Problemlagen verbunden sind. Somit verrät das Konzept seine Herkunft aus und seine Nutzung in sozialwissenschaftlichen Forschungen zu Organisationen, Berufen und Professionen. In der Tat kam es bisher sowohl in den USA als auch in Deutschland maßgeblich in diesen Bereichen zum Einsatz und wurde später innerhalb der Science and Technology Studies weiterentwickelt (CLARKE & STAR 2008; SCHÜTZE 2016a, 2016b). Das handlungs- und sozialtheoretische Konzept der sozialen Welt ist dabei von anderen Begriffen wie etwa "Lebenswelt", "Alltagswelt" oder "Wir-Gemeinschaft" zu unterscheiden (SCHÜTZE 2016b, S.89). Zugleich besteht eine Wahlverwandtschaft zu weiteren Zugängen, mit deren Hilfe kollektives Handeln untersucht werden kann, z.B. zur BOURDIEUschen Feldanalyse (DIAZ-BONE 2013). Wesentlich für das feld- und figurationsanalytische Potenzial der Theorie sozialer Welten ist der Begriff der Arena: In Arenen finden laut SCHÜTZE "Auseinandersetzungen und Konkurrenzen verschiedener Meinungsparteien um die Authentizität und Legitimität der Sozialwelt-Aktivitäten (einschließlich der darauf gerichteten kommunikativen Diskursbeiträge), aber auch um ihre produktiv-innovative zukünftige Ausrichtung statt" (2016b, S.90).

Der konzeptionelle Reiz der Theorie sozialer Welten und Arenen liegt nicht zuletzt in ihrer Skalierbarkeit und Anpassungsfähigkeit an den Zuschnitt des Untersuchungsgegenstandes (STRÜBING 2007). Es lassen sich mit ihr sozialräumlich und historisch weit umspannende Themen und Fragen ebenso bearbeiten wie raumzeitlich stärker begrenzte Interaktionssituationen. Soziale Ordnungsbildungen werden in der Verschränkung von Diskursen und Praktiken in den Blick genommen, wodurch sich die pragmatistisch-interaktionistische Theorietradition als hoch anschlussfähig an poststrukturalistische und praxistheoretische Ansätze erweist. Gerade an diesen Schnittstellen sind aktuelle Theoriediskussionen besonders ergiebig, sodass inzwischen nach praxistheoretischen Inspirationen für pragmatistische Theoriebildung und nach pragmatistischen Inspirationen für praxistheoretisches Arbeiten gleichermaßen gefragt wird (DIETZ, NUNGESSER & PETTENKOFER 2017).

Mit dem FQS-Schwerpunkt zielen wir darauf ab, einen Raum für Debatten zur Theorie sozialer Welten und Arenen zu eröffnen und forschungspraktische Erfahrungen aus der situationsanalytischen Arbeit zusammenzutragen. Folgende Fragen können dabei unter anderem auftauchen:

  • Für welche empirischen Phänomene ist die Theorie sozialer Welten und Arenen geeignet? Welchen Nutzen kann sie für die Analyse nicht berufsförmig organisierter Kollektive bilden? Welche Bedeutung kann sie etwa für die Erforschung sozialer Bewegungen erlangen?
  • Wie viel empirische Analyse ist notwendig, um ein Phänomen als soziale Welt definieren zu können? Wie ist das Verhältnis von theoretischen Vorannahmen und empirischer Erarbeitung zu verstehen, wenn die Theorie sozialer Welten eher als "sensitizing" denn als "definitive concept" (BLUMER 1954, S.7) gelten soll?
  • Welche Vorzüge, aber auch welche Herausforderungen bringt die empirische Analyse sozialer Welten und Arenen mit sich?
  • Wie kann das Verhältnis sozialer Welten zu anderen sozialen Gebilden empirisch und konzeptionell gefasst werden?
  • An welche theoretischen Bestände ist sie anschlussfähig, und wo liegen sinnvolle (z.B. subjektivierungstheoretische) Erweiterungen? Wie ist die Theorie sozialer Welten und Arenen etwa im Lichte praxistheoretischer Debatten zu verstehen, wie im Lichte posthumanistischer Ansätze? Wie ist das Verhältnis zu ethnomethodologischen und anderen interaktionstheoretischen Perspektiven?
  • Inwiefern schaffen Grundannahmen wie die der Relationalität Anschlüsse an weitere Theorien? Wie lässt sich dadurch z.B. das Verhältnis von Situations- und Raumbegriff präzisieren?
  • Inwiefern wird situationsanalytisches Arbeiten durch die Situierung in spezifischen Debattenkontexten geprägt, so B. dem deutschsprachigen und seiner Betonung hermeneutischer Auslegungstraditionen?
  • Wie wird Kollektivität in der Theorie sozialer Welten konzeptualisiert? Welche Bedeutung haben dabei Objekte und Materialitäten, etwa konzipiert als "boundary objects" oder "infrastructures" (BOWKER, TIMMERMANS, CLARKE & BALKA 2015, S.171ff. und 377ff.)? Welcher Begriff von Öffentlichkeit entsteht dadurch?
  • Worin ähnelt und wodurch unterscheidet sie sich von anderen sozialtheoretischen Vorschlägen zur Analyse spätmoderner Gesellschaften, etwa dem BOURDIEUschen Feldbegriff (BOURDIEU & WACQUANT 1996 [1992]) oder dem Konzept der Assemblage (DELEUZE & GUATTARI 1992 [1980])?

Diese nicht erschöpfende Liste von Fragen soll zu theoretischen, empiriebasierten und methodologischen Auseinandersetzungen mit sozialen Welten, Arenen und Situationsanalysen einladen. Willkommen sind Beitragsvorschläge aus verschiedenen Disziplinen zu diesen und weiteren Themen.

Zeitplanung/Fristen

Deadline für Beitragsvorschläge im Umfang von ca. 1.000 Wörtern ist der 15. März 2022.

Sie erhalten bis Mitte April Nachricht, ob Ihr Beitrag aufgenommen wird.

Die Frist für fertige Beiträge ist der 15. Juni 2022.

Der Themenschwerpunkt soll in der ersten Jahreshälfte 2023 erscheinen.

Abstracts und Einreichungen können auf Deutsch oder auf Englisch verfasst werden. Beachten Sie bitte die Hinweise zur Beitragseinreichung (https://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/submission/checklist). Bitte geben Sie auch Ihre Kontaktdaten an und schicken Sie Ihren Vorschlag an: qualitativ@mz.uni-tuebingen.de.

Außerdem laden wir herzlich zur Teilnahme an einer Online-Tagung zum Thema soziale Welten/Arenen und Situationsanalysen des Arbeitsbereichs Qualitative Methoden und Interpretative Sozialforschung des Methodenzentrums der Universität Tübingen am 6. April 2022 (9-15 Uhr CEST) und am 7. April 2022 (9-12 Uhr CEST) ein. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bei Fragen zum Themenschwerpunkt oder zur Tagungsteilnahme wenden Sie sich gern ans Eine*n von uns.

Gastherausgeber*innen (in alphabethischer Reihenfolge)

Renate Baumgartner, Universität Tübingen: renate.baumgartner@uni-tuebingen.de

Sarah B. Evans-Jordan, Norwegian University of Science and Technology: sarah.evans-jordan@ntnu.no

Birte Kimmerle, Universität Tübingen: birte.kimmerle@med.uni-tuebingen.de

Ursula Offenberger, Universität Tübingen: ursula.offenberger@uni-tuebingen.de  

Tamara Schwertel, Universität Mainz: t-schwertel@uni-mainz.de

Olaf Tietje, Universität München: olaf.tietje@soziologie.uni-muenchen.de

Literatur

Blumer, Herbert (1954). What is wrong with social theory?. American Sociological Review, 19(1), 3-10.

Bourdieu, Pierre & Wacquant, Loïc (1996 [1992]). Reflexive Anthropologie (übersetzt v. H. Beister). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Bowker, Geoffrey C.; Timmermans, Stefan; Clarke, Adele E. & Balka, Ellen (2015). Boundary objects and beyond working with Leigh Star. Cambridge, MA: The MIT Press.

Clarke, Adele E. & Star, Susan Leigh (2008). The social worlds framework: A theory/methods package. In Edward J. Hackett, Olga Amsterdamska, Michael Lynch & Judy Wajcman (Hrsg.), The handbook of science and technology studies (S.113-137). Cambridge, MA: The MIT Press.

Clarke, Adele E.; Friese, Carrie & Washburn, Rachel S. (2018). Situational analysis: Grounded theory after the interpretive turn (2. Aufl.). Los Angeles, CA: Sage.

Deleuze, Gilles & Guattari, Félix (1992 [1980]). Tausend Plateaus, Bd. 2 (übersetzt v. G. Ricke & R. Voullié). Berlin: Merve.

Diaz-Bone, Rainer (2013). Review Essay: Situationsanalyse – Strauss meets Foucault?. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 14(1), Art. 11, https://doi.org/10.17169/fqs-14.1.1928[Zugriff: 11. Januar 2022].

Dietz, Hella; Nungesser, Frithjof & Pettenkofer, Andreas (2017). Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken: Vom Nutzen einer Theoriedifferenz. Frankfurt/M.: Campus.

Mead, George Herbert (1934). Mind, self, and society: From the standpoint of a social behaviorist. Chicago, IL: The University of Chicago Press, https://brocku.ca/MeadProject/Mead/pubs2/mindself/Mead_1934_toc.html [Zugriff: 11. Januar 2022].

Schütze, Fritz (2016a). Das Konzept der Sozialen Welt Teil 1: Definition und historische Wurzeln. In Michael Dick, Winfried Marotzki & Harald Mieg (Hrsg.), Handbuch Professionsentwicklung (S.74-88). Stuttgart: UTB.

Schütze, Fritz (2016b). Das Konzept der Sozialen Welt Teil 2: Theoretische Ausformung und Weiterentwicklung. In Michael Dick, Winfried Marotzki & Harald Mieg (Hrsg.), Handbuch Professionsentwicklung (S.88-106). Stuttgart: UTB.

Strauss, Anselm (1978). A social world perspective. Studies in Symbolic Interaction, 1, 119-128.

Strauss, Anselm (1982a). Social worlds and legitimation processes. Studies in Symbolic Interaction, 4, 171-190.

Strauss, Anselm (1982b). Interorganizational negotiations. Urban Life, 11(3), 350-367.

Strauss, Anselm (2017 [1993]). Continual permutations of action. London: Taylor and Francis.

Strübing, Jörg (2007). Anselm Strauss. Konstanz: UVK.