Call for Papers FQS-Schwerpunktausgabe "Forschungsethik in der qualitativen Forschung"

2017-08-29

Ethische Fragen gehören seit Jahrhunderten zum Kerngeschäft der Philosophie. In der Forschung mit menschlichen Subjekten stellen sie ein Phänomen jüngeren Datums dar (ROTH 2004). In der Entwicklung forschungsethischer Grundsätze für die Forschung mit Menschen hat die medizinische Forschung eine zentrale Rolle gespielt; z.B. stellte der Nürnberger Kodex (1947) einen wichtigen Meilenstein dar. Dieser ging aus dem Nürnberger Ärzteprozess hervor, in dem die menschenverachtenden medizinischen Experimente während des NS-Regimes verhandelt wurden, und formulierte zum ersten Mal forschungsethische Prinzipien wie die Freiwilligkeit der Teilnahme auf Basis einer informierten Einwilligung. Seitdem haben sich die Debatten um Forschungsethik und Ethikkodizes in vielen Forschungsfeldern und Disziplinen weiter entwickelt. Nichtsdestotrotz war es bis in die 1960er Jahre möglich, Menschen zu Forschungszwecken extremem physischen und mentalen Stress auszusetzen, z.B. im Rahmen von Tests zu dem Herbizid Agent Orange auf einem kanadischen Militärstützpunkt oder in Stanley MILGRAMs Experimenten, in denen die Testpersonen großem Druck ausgesetzt waren, als sie andere Personen mit (simulierten) Elektroschocks bestrafen sollten. Die Einrichtung von Ethikkommissionen zur Prüfung von Forschung mit Menschen in vielen Teilen der Welt verfolgte das Ziel, genau solche Gefährdungen einzudämmen.

Nicht nur in experimentellen Designs, auch in der qualitativen Forschung stellen sich vielfältige ethische Fragen. Ethische Reflexivität ist ein immanenter Bestandteil qualitativer Forschungspraxis, und ethische Fragen tauchen in jeder Phase des Forschungsprozesses auf (VON UNGER 2016; VON UNGER, NARIMANI & M'BAYO 2014). Zum Beispiel fragen sich Forschende: Ist ein geplantes Projekt ethisch vertretbar? Wer wird davon profitieren? Was sind die möglichen Risiken für Teilnehmende? Worin bestehen die Rollen und Verantwortlichkeiten der Forschenden? Wem gegenüber sind sie Rechenschaft schuldig und wofür genau tragen sie die Verantwortung? Manche dieser Fragen und weitere Themen wurden bereits in den Beiträgen zu der FQS-Debatte "Ethik" behandelt, die eine integrale Komponente der Zeitschrift darstellt (http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/browseSearch/identifyTypes/view?identifyType=Debate%3A%20Ethics).

Es bestehen verschiedene Ansätze von Forschungsethik, und das Thema ist Gegenstand einer hitzigen, internationalen Debatte (VON UNGER, DILGER & SCHÖNHUTH 2016). Die Kontroverse dreht sich hauptsächlich um eine "prozedurale Ethik" (procedural ethics) im Sinne der Einhaltung standardisierter Grundsätze auf Basis institutionalisierter Prüfverfahren im Vorfeld einer Studie vs. eine "praktischen Ethik" (ethics in practice) im Sinne der Identifikation und Aushandlung ethischer Fragen im Vollzug eines Forschungsprojekts (Guillemin & Gillam 2004, S.263-264). In manchen Ländern sind Begutachtungen durch Ethikkommissionen nicht nur für medizinische, sondern auch für sozialwissenschaftliche Forschungen vorgeschrieben. Dies gibt Anlass zu einer substanziellen Kritik, die die Nachteile und Gefahren institutionalisierter Prüfverfahren und kodifizierter Prinzipien und Standards (Ethikkodizes) aufzeigt. Eine derartige Regulierung ethischer Fragen hat beispielsweise nach BELL (2016) und VAN DEN HOONARD (2002, 2011) negative Auswirkungen auf die wissenschaftliche Qualität und die akademische Freiheit allgemein – und für qualitative Forschung im Besonderen. Die Prüfverfahren beinhalten Maßstäbe, die aus der medizinisch-experimentellen Forschung stammen und implizieren Forschungssituationen und -abläufe, die für offene, qualitative Forschungsprozesse oft ungeeignet sind. Die Prüfung und Regulierung durch institutionelle Kommissionen bringt grundsätzlich, so Canella und Lincoln (2007), nur die Illusion einer ethischen Forschungspraxis hervor. Stattdessen sei es angemessener, ethisches Forschungshandeln als Resultat einer andauernden, kritischen und dialogischen Auseinandersetzung mit den moralischen und politischen Fragen zu verstehen, die mit der Umsetzung der Forschung einhergehen (Canella & Lincoln 2011).

In der Literatur werden diese und weitere Themen im Hinblick auf bestimmte Methoden und Methodologien (z.B. ethnografische Feldforschung, biografische Interviews, partizipative Forschung etc.), für einzelne akademische Disziplinen (z.B. Anthropologie/Ethnologie, Psychologie, Soziologie u.v.m.) sowie für bestimmte Forschungsfelder (z.B. Social-Media-Forschung, qualitative Gesundheitsforschung, Forschung mit indigenen Communities u.a.) diskutiert. Nichtsdestotrotz lässt die Behandlung ethischer Fragen z.B. in sozialwissenschaftlichen Lehrbüchern oft einiges zu wünschen übrig (Dixon & Quirke 2017). Es braucht vertiefende Analysen und weiterführende Diskussionen von praktischen Erfahrungen mit und dem grundsätzlichen Stellenwert von ethischen Fragen in verschiedenen qualitativen Forschungskontexten. Insbesondere angesichts der zunehmenden Regulierung forschungsethischer Fragen aus internationaler Perspektive besteht ein dringender Bedarf an sorgfältigen Analysen sowohl der Probleme und Herausforderungen wie auch der positiven Erfahrungen und vielversprechenden Lösungsansätze.

In dem geplanten Themenschwerpunkt verstehen wir ethisches Forschungshandeln und forschungsethische Reflexivität als genuine Anliegen der qualitativen Forschung bzw. qualitativer Forscher/innen. Die Vielfalt der Forschungskontexte, Ansätze und möglichen ethischen Positionen und Argumentationen soll dabei wertschätzend berücksichtigt und kritisch reflektiert werden.

Vor diesem Hintergrund laden wir Beiträge ein, die forschungsethische Fragen qualitativer Forschung behandeln, insbesondere zu folgenden Bereichen der Debatte:

  1. Reflexionen ethischer Fragen, die sich in der qualitativen Forschungspraxis stellen, z.B.: Wie erfahren qualitativ Forschende ethische Fragen und Herausforderungen im praktischen Tun? Wie definieren und gestalten sie ihre Rollen und Verantwortlichkeiten? Wie stellen sie ihr Anliegen gegenüber (potenziellen) Teilnehmer/innen dar? Wie begründen sie dies? Wie wird der Grundsatz der informierten Einwilligung umgesetzt (z.B. als dynamischer, länger andauernder dialogischer Prozess)? Wie anonymisieren sie ihre Daten, ohne dabei den heuristischen Wert zu zerstören (vgl. SAUNDERS, KITZINGER & KITZINGER 2015)? Ist Anonymisierung überhaupt ein realistisches bzw. angemessenes Ziel (vgl. TILLEY & WOODTHORPE 2011)? Lösen Vertraulichkeitsklauseln einige der Probleme im Zusammenhang mit Anonymisierungsvorgaben? Unter welchen Bedingungen ist eine Pseudonymisierung möglicherweise nicht ausreichend, um die Teilnehmenden zu schützen? Für Beispiele dieser praktischen Ethik (ethics in practice) sollten Fragen, Probleme und Lösungen im Kontext spezifischer Forschungsprojekte behandelt werden.
  2. Analysen und Diskussionen von Prüfverfahren und Ethikregimen inklusive Bewertungen von Erfahrungen mit ethischen Prüfverfahren aus der Perspektive eines Antragstellers/einer Antragstellerin oder eines Mitglieds einer Ethikkommission: Wie sind die rechtlichen Voraussetzungen und Rahmungen und das institutionelle Arrangement und Prozedere der Prüfung und Begutachtung? Wie beeinflusst der spezifische Kontext (z.B. die Region, der nationale Kontext, die akademische Disziplin, die Verortung in einer Community, das Forschungsfeld etc.) die Begutachtungsverfahren und die Anwendung und Auslegung von Prinzipien und Standards? Wie werden die gesetzlichen Regelungen und allgemeinen Grundsätze bzw. Richtlinien interpretiert? Mit welchen Auswirkungen? Und nicht zuletzt: Wie kann qualitative Forschung in forschungsethischer Hinsicht angemessen eingeschätzt und begutachtet werden?
  3. Theoretische Rahmungen und Herleitungen von ethischen Positionen und Argumenten, insbesondere im Hinblick auf bestimmte Methoden und Methodologien, z.B.: Wie lässt sich kritische Forschung oder verdeckte Forschung in spezifischen Forschungssituationen ethisch rechtfertigen? Worin bestehen die Vorzüge und Nachteile partizipativer Ansätze in forschungsethischer Hinsicht?
  4. Wie können Forschungsethik und ethische Reflexivität in der Lehre und Methodenausbildung vermittelt und gefördert werden, z.B. in BA- und MA-Studiengängen und in der Begleitung von Doktorand/innen? Welcher Ansatz wurde gewählt und inwiefern konnte er umgesetzt werden?

Herausgeber/innen des Themenschwerpunkts

Hella von Unger und Wolff-Michael Roth

Interessenbekundung und Einreichung

Die Beiträge können in englischer und deutscher Sprache eingereicht werden.

Bitte beachten Sie die FQS-Hinweise für Autor/innen:
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/about/submissions#authorGuidelines

Der Prozess der Einreichung von Beiträgen erfolgt in zwei Schritten:

  1. Autor/innen werden gebeten, zunächst ihr Interesse zu bekunden und einen Arbeitstitel und eine kurze Zusammenfassung von ca. 200 Wörtern einzureichen (an unger@lmu.de und wolffmichael.roth@gmail.com).
  2. Ausgewählte Beiträge werden anschließend auf Aufforderung ausgearbeitet und eingereicht.

Zeitplanung/Fristen

Interessenbekundung: 31. Oktober 2017

Ausgearbeitetes Manuskript: 15. Februar 2018

Literatur

Bell, Kirsten (2016). The more things change, the more they stay the same: The TCPS 2 and the institutional ethical oversight of social science research in Canada. In Will van den Hoonard & Ann Hamilton (Hrsg.), The ethics rupture (S.189-205). Toronto: University of Toronto Press.

Canella, Gaile S. & Lincoln, Yvonna S. (2007). Predatory vs. dialogic ethics: Constructing an illusion or ethical practice as the core of research methods. Qualitative Inquiry, 13(3), 315-335.

Canella, Gaile S. & Lincoln, Yvonna S. (2011). Ethics, research regulations and critical social science. In Norman K. Denzin & Yvonna S. Lincoln (Hrsg.), The Sage handbook of qualitative research (S.81-89). Los Angeles, CA: Sage.

Dixon, Shane & Quirke, Linda (2017). What's the harm? The coverage of ethics and harm avoidance in research methods textbooks. Teaching Sociology, 1-13, DOI: 10.1177/0092055X17711230.

Guillemin, Marilys & Gillam, Lynn (2004). Ethics, responsibility and "ethically important moments" in research. Qualitative Inquiry, 10(2), 261-280.

Israel, Mark (2015). Research ethics and integrity for social scientists: Beyond regulatory compliance. London: Sage.

Israel, Mark & Hay, Iain (2006). Research ethics for social scientists: Between ethical conduct and regulatory compliance. London: Sage.

Roth, Wolf-Michael (2004). Ethik als soziale Praxis: Einführung zur Debatte über qualitative Forschung und Ethik. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(1), Art. 9, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-6.1.526 [Zugriff: 14. August 2017].

Saunders, Benjamin; Kitzinger, Jenny & Kitzinger, Celina (2015). Anonymising interview data: Challenges and compromise in practice. Qualitative Research, 15(5), 616-632.

Tilley, Liz & Woodthorpe, Kate (2011). Is it the end for anonymity as we know it? A critical examination of the ethical principle of anonymity in the context of 21st century demands on the qualitative researcher. Qualitative Research, 11(2), 197-212.

van den Hoonaard, Will C. (2002). Introduction: Ethical norming and qualitative research. In Will C. van den Hoonaard (Hrsg.), Walking the tightrope. Ethical issues for qualitative researchers (S.3-16). Toronto: University of Toronto Press.

van den Hoonaard, Will C. (2011). The seduction of ethics. Transforming the social sciences. Toronto: University of Toronto Press.

von Unger, H. (2016). Reflexivity beyond regulations. Teaching research ethics and qualitative methods in Germany. Qualitative Inquiry, 22(2), 87-98.

von Unger, Hella; Dilger, Hansjörg & Schönhuth, Michael (2016). Ethikbegutachtung in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung? Ein Debattenbeitrag aus soziologischer und ethnologischer Sicht. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 17(3), Art. 20,
http://dx.doi.org/10.17169/fqs-17.3.2719 [Zugriff: 14. August 2017].

von Unger, Hella; Narimani, Petra & M'Bayo, Rosaline (Hrsg.) (2014). Forschungsethik in der qualitativen Forschung: Reflexivität, Perspektiven, Positionen. Wiesbaden: Springer VS.