FQS-Debatte "Sozialer Konstruktionismus"
Mit FQS 9(1) haben wir eine neue Debatte begonnen: die über den sozialen Konstruktionismus. Die Auseinandersetzung mit diesem Ansatz, der vor allem in der qualitativ orientierten psychologischen Forschung große Prominenz besitzt, ist aus unserer Sicht für die gesamte qualitative Sozialforschung wertvoll.
Bei dem sozialen Konstruktionismus geht es um eine Psychologie, in der der linguistic und der cultural turn als Herausforderung begriffen und in die Fachdisziplin eingebracht wird. In der kritischen Reflexion des wissenschaftlich-psychologischen Mainstreams weisen soziale Konstruktionist*innen nach, dass vermeintlich objektives Wissen historisch und sprachbedingt kontingent ist. Sie zeigen im Zeitalter der Globalisierung, was es heißen kann, kulturzentrische "Universalismen" aufzugeben und psychische Phänomene und Funktionen in ihrer Abhängigkeit von kulturell bedingten Bedeutungen zu verstehen – nicht allein in Wissenschaft und Forschung, sondern auch in vielen Bereichen der angewandten Psychologie. Während der soziale Konstruktionismus im englischen Sprachraum seit einigen Jahrzehnten Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen ist, stößt er in der deutschsprachigen Psychologie erst in den letzten Jahren auf Interesse.
Wer sich daran macht, die Ziele und Prämissen dieser Theorie- und Forschungsrichtung und der mit ihr verknüpften praktischen Bemühungen zu skizzieren, stößt auf eine Vielfalt der unter diesem Begriff mittlerweile versammelten Diskurse und Forschungen, die sich nicht in jeder Hinsicht einem einheitlichen Ansatz zuordnen lassen – ist doch diese Vielfalt selbst Teil des Programms. Verortet werden im Umfeld des sozialen Konstruktionismus so unterschiedliche Psychologiekonzeptionen wie die postmodern-sprachpragmatisch ausgerichtete Variante Ken GERGENs, der auf einer allgemeinen Theorie des Dialogs basierende Ansatz John SHOTTERs, die in Großbritannien etablierte discursive psychology (z.B. Jonathan POTTER) oder konstruktionistische Ausrichtungen der Kulturpsychologie (etwa die programmatische Theorie des dialogical self der Kulturpsychologen Hubert HERMANS und Harry KEMPEN). Aber auch Vertreter und Vertreterinnen einer critical psychology, die sich z.T. auf die epistemologische Position des critical realism beziehen (John CROMBY, Ian PARKER, Valerie WALKERDINE oder Carla WILLIG), haben den Diskurs des sozialen Konstruktionismus wesentlich mitgeprägt und ihm immer wieder neue Bezüge verschafft.
Debattenherausgeber*innen waren: Jo Reichertz, Barbara Zielke.