FQS-Debatte "Ethnografie der Karrierepolitiken einer Berufsgruppe"

In dieser FQS-Debatte werden die Praktiken der sozialwissenschaftlichen (Text- und Forschungs-) Produktion und Kommunikation unter den Bedingungen ihrer institutionellen und sozialen Struktur und Dynamik behandelt sowie die damit verbundenen individuellen und transindividuellen Karrierestrategien. Gedacht ist an eine reflexive Wendung der Sozialwissenschaft hin zu ihren eigenen sozialen Strukturen und Prozessen, eine Ethnografie des sozialwissenschaftlichen Milieus und seiner Politiken und Praktiken. Und es geht vor allem um die Frage: Mit welchen (Ethno-)Praktiken und Politiken schaffen es (qualitativ arbeitende) Wissenschaftler*innen, in ihrem Berufsfeld erfolgreich zu sein, also Stelle, Fördergelder, Ansehen, Medienresonanz etc. zu erlangen.

Zu den zu behandelnden Fragen gehört auch die nach dem Verhältnis der Voraussetzungen und Bedingungen sozialwissenschaftlicher Produktion zu ihren Resultaten. Prinzipiell besteht ja eine Überschneidung und Durchdringung von Subjekt und Objekt in den Sozialwissenschaften: Soziale Strukturen und Prozesse, die Gegenstand der Sozialwissenschaften sind, sind selbst Produktionsbedingungen der wissenschaftlichen Arbeit. Wie selbstaufmerksam, selbstreflexiv verhalten sich Sozialwissenschaftler*innen in dieser Hinsicht? Inwieweit werden die Ansprüche und Ambitionen auf "Objektivierung", die für die soziale Welt "dort draußen" mit Selbstverständlichkeit erhoben und vertreten werden, auch für "unsere" Welt der Sozialwissenschaften anerkannt? Darf oder muss das sozialwissenschaftliche Milieu diesbezüglich anders behandelt werden als andere soziale Milieus?

Schwerpunkte dieser FQS-Debatte sind die Situation der Sozialforschung sowie der Sozialforscher*innen und ihrer Karrierepraktiken innerhalb der institutionellen und sozialen Strukturen des Wissenschaftsbetriebs. Dabei können sehr unterschiedliche Aspekte von Interesse sein. Wir wollen exemplarisch das weite Spektrum anreißen:

  • die "tatsächliche" Interpretationspraxis in Forschungsgruppen,
  • Autoritätsherstellungs- und Imponier-Strategien wissenschaftlicher Autor*innen,
  • Stellenbewerbungspolitiken: Veränderungen relevanter Qualifikationsmerkmale im Laufe der Zeit,
  • Qualifikationspolitiken: Strategien von Doktorvätern bzw. -müttern und Doktorand*innen etc.,
  • Drittmittelpolitiken: Informationskanäle, Begutachtungsgremien, Fachgesellschaften, Seilschaften  u.Ä.,
  • Annahme- und Ablehnungspolitiken und -praktiken bei wissenschaftlichen Zeitschriften,
  • die Konsequenzen der (häufig vorfindlichen) Marginalitätsposition der qualitativen Sozialforschung gegenüber einem disziplinären Mainstream des "quantitativen Paradigmas",
  • soziale Vorlieben und Abneigungen in der Zitierpraxis,
  • Herausgeber*innen- und Verlagspolitiken,
  • Veränderungen des wissenschaftlichen Schreibens und der Zusammensetzung der Leser*innenschaft – für ein Fachpublikum i.e.S. vs. (auch) für interessierte "Zaungäste" o.Ä.,
  • Veränderung sozialwissenschaftlichen Arbeitens durch Computer, Internet, Online-Kooperation und -Lehre (Zoom u.Ä.), elektronisches Publizieren,
  • Veränderungen in den Präsentationspraktiken in wissenschaftlichen Vorträgen (Internet, Powerpoint etc.),
  • die Wahl von "interessanten" (sozial bedeutsamen, publizitäts-, förderungsträchtigen etc.) Forschungsthemen,
  • die Wahlen bzw. Präferierungen von methodischen und theoretischen "Paradigmen", die sich nicht "rational" erklären lassen,
  • die Bedeutsamkeit von Präkonzepten, Perspektiveneinnahmen der Wissenschaftler*innen-als-Subjekte,
  • Strategien der Selbstdarstellung in institutionalisierten Evaluationskontexten,
  • die Öffentlichkeits- und Pressearbeit von Wissenschaftler*innen zur Popularisierung ihrer Forschungen (gilt für Wissenschaftler*innen: Sein heißt In-den-Medien-Sein?),
  • Vergleiche solcher Aspekte der Praktiken sozialwissenschaftlicher Produktion und Kommunikation – der Internationalität und Interdisziplinarität von FQS entsprechend – über unterschiedliche Länder, Kontinente und (Wissenschafts-) Kulturen hinweg.

In Vieraugengesprächen von Sozialwissenschaftler*innen und Gesprächen jenseits des veröffentlichbaren Diskurses werden die o.a. Themen ganz fraglos als bedeutsam für Wissenschaft, wissenschaftliches Arbeiten, Erkenntnisgewinnung, Ressourcengewinnung, Karrieren, für die soziale Positionierung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft etc. angesehen und auch ganz selbstverständlich diskutiert. Die Sozialisation von Nachwuchswissenschaftler*innen besteht zu einem nicht geringen Teil aus der Einübung in solche Praktiken und Politiken. Es soll in der Debatte darum gehen, solche Aspekte in ihrer Aktualität und Bedeutung ins Bewusstsein zu heben und vor allem "seriös" thematisierbar und diskutierbar zu machen.

Hinsichtlich der Formen, in denen das in der FQS-Debatte geschehen kann, schlagen wir einen weiten Rahmen von Zugängen und Textsorten bzw. Genres vor: Einerseits ist das Thema in FQS selbstredend in der Form qualitativer Untersuchungen des sozialwissenschaftlichen Betriebes sowie theoretischer Essays zu besprechen. Andererseits sollen und müssen Formen gefunden werden, um – gegenstandsangemessen und verantwortungsbewusst – interessante Episoden, Phänomene, Erlebnisse aus diesem Problembereich zu thematisieren (Narratives, Auto-/Biografisches, Poetisches, Fiktionales etc.).

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch unterschiedliche (Beteiligten-) Sichtweisen: die von Antragsteller*innen und Gutachter*innen, Evaluierenden und Evaluierten, Qualifikationsarbeiten Schreibenden und deren Betreuer*innen, Studierenden und Lehrenden, Wissenschaftsadministrator/innen etc. – alle sind uns als potenzielle Autorinnen und Autoren willkommen!

Debattenherausgeber waren: Wolff-Michael Roth, Jo Reichertz, Franz Breuer.

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