FQS-Debatte "Von uns selbst sprechen wir! Erkundungen sozialwissenschaftlichen Arbeitens"
Sozialwissenschaftler*innen haben es sich zur Aufgabe gemacht, das (soziale) Leben von Menschen und (Sub-)Kulturen zu untersuchen. Dabei wollen sie gezielt nicht nur die Fassaden betrachten, sondern sehen die hohe Kunst darin, die Hinterbühne des Dargestellten zu betreten und auszuleuchten. Bedeutet dies, dass die Gesellschaft als Ganzes transparent geworden ist? Nein! Die eigenen Praktiken der Sozialwissenschaftler*innen sind in der Regel im Dunkeln geblieben. Sie haben alle und alles durchleuchtet, nur sie selbst bleiben unsichtbar. Die meisten Sozialwissenschaftler*innen sind dem Diktum von Francis BACON treu geblieben: "Von uns selbst schweigen wir!" Diesen viel bemühten Satz greifen wir in dieser FQS-Debatte auf. Sie tritt an die Stelle der bisherigen Debatte Ethnografie der Karrierepolitiken einer Berufsgruppe. Und wir kehren den Satz bewusst um: Von uns selbst sprechen wir!
Nicht nur die fremden Hinterbühnen, sondern auch die eigenen wollen wir in dieser Debatte unter die Lupe nehmen. Denn beide sind in den Prozessen der Wissensproduktion untrennbar miteinander verbunden. In jüngerer Zeit hat mit dem Erstarken der Social Studies of the Social Sciences auch im Feld der qualitativen Sozialforschung eine gezielte Befremdung der eigenen Wissenschaftskultur eingesetzt; siehe hierzu auch FQS 3(3) und FQS 4(2). Damit wurde eine Forschungslinie eröffnet, die sich der Herstellung einer empirisch gestützten Reflexivität qualitativen Forschungshandelns verschrieben hat. Auf diesem Weg konnten im Bereich qualitativer Sozialforschung, aber auch darüber hinaus, einige Dynamiken sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens sichtbar gemacht werden. Vieles liegt aber noch im Dunkeln.
In dieser FQS-Debatte laden wir Autorinnen und Autoren ein, Forschungsaktivitäten in den Sozialwissenschaften, einschließlich ihrer eigenen, empirisch zu untersuchen. Themen können sein, sind aber nicht beschränkt auf:
- Wie lassen sich Biografie und Arbeit vereinbaren, d.h. wie können Alltag, Privatleben und wissenschaftlicher Anspruch mit den Anforderungen der Wissenschaft in Einklang gebracht werden?
- Wie kann mit Machtverhältnissen umgegangen werden? Welche Rolle spielen Konflikte in der Wissensproduktion?
- Wie werden die Konflikte in der sozialwissenschaftlichen Praxis entschärft oder kanalisiert? Wie werden Positionen in (informellen) gesellschaftlichen Prozessen ausbalanciert?
- Welche Formen der Kommunikation gibt es in wissenschaftlichen (Arbeits-) Umgebungen? Sind die Kaffeeküche oder die Kneipe als Orte der Begegnung für Sozialwissenschaftler*innen noch relevant?
- Wie präsentieren sich Wissenschaftler*innen in ihrer Arbeit? Inwieweit beeinflusst das Auftreten die Reputation? Kann Leistung entscheidend für Karrierechancen sein?
- Welche Strategien gibt es, um als Wissenschaftler*in voranzukommen, um Aufmerksamkeit zu erregen oder um sich zu schützen? Wie verhalten sich Wissenschaftler*innen, um sich anzupassen oder ihre Position zu markieren? Wie können persönliche oder Forschungsinteressen geformt oder verzerrt werden?
- Wie prägen neue Lebensformen – z. B. Pendeln oder globalisierte Karrieren – die intellektuelle Arbeit? Wie ist der intellektuelle Austausch organisiert, und kann er leiden, wenn Wissenschaftler häufig reisen?
- Wie haben die Digitalisierung und die Allgegenwärtigkeit von Videokonferenzen die wissenschaftliche Arbeit zu Hause und im Büro verändert? Ersetzen (Video-) Konferenzen die Lesekreise und Kolloquien vor Ort?
- Inwieweit schürt eine zunehmende Mobilität berufliche Konflikte durch Nichtteilnahme? Was bedeutet es für die Produktion von Wissen, anderen Wissenschaftler*innen persönlich zu begegnen?
Als Herausgeber dieser Debatte erwarten wir eine offene und lebendig-kritische Debatte, in der sich die Teilnehmer*innen auf die Beiträge der anderen beziehen. Wir sind (im weitesten Sinne) an qualitativen Arbeiten interessiert, die auf sozialwissenschaftliche Forschungstraditionen zurückgreifen, unabhängig von ihrer spezifischen disziplinären oder methodischen Ausrichtung. Erkundungen von inter- und transdisziplinären Arbeitszusammenhängen sind willkommen.
Bitte senden Sie Ihren Beitrag im FQS-Format oder eine klärende Voranfrage an: deb_explore@qualitative-research.net
Debattenredaktion: Franz Breuer, Paul Eisewicht, Thomas Etzemüller, Jo Reichertz