FQS-Debatte "Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung"

Vor über 20 Jahren, im Jahr 2000, starteten Franz Breuer, Jo Reichertz und Wolff-Michael Roth eine FQS-Debatte über die "Qualität qualitativer Forschung". In den bisherigen Beiträgen zu dieser Debatte wurde ein breites Spektrum von Themen erörtert, z.B. verschiedene qualitative Techniken der Datenerhebung und -analyse oder die Anwendung solcher Methoden in unterschiedlichen disziplinären und institutionellen Kontexten. Die Aufforderung zur Einreichung von Beiträgen zu dieser Debatte ist seit ihren Anfängen unverändert geblieben, während sich die akademischen Diskussionen zu diesem Thema erheblich verändert haben. Die ursprünglich aufgeworfenen Fragen – Was ist "gute" Wissenschaft? Was sind "gute" Sozialwissenschaften? Was ist "gute" qualitative Sozialforschung? Was sind die Kriterien und Standards für solche Evaluierungen? – sind auch heute noch relevant und werden auch weiterhin die Grundlage für künftige Beiträge bilden, allerdings ist eine Aktualisierung der Forderung nach dieser FQS-Debatte angebracht.

In der Vergangenheit haben qualitative Forscher*innen hart um die Akzeptanz und Anerkennung ihrer Arbeit gekämpft; dieser Kampf wurde weitgehend gewonnen. Heute werden in den meisten sozialwissenschaftlichen Disziplinen (vielleicht mit Ausnahme der Psychologie) qualitative Erkenntnisse, Theorien und Methoden als "Mainstream"-Wissenschaft neben ihren quantitativen Pendants verwendet und gelehrt. Die meisten Universitätskolleg*innen, Student*innen und Verwaltungsangestellten haben ihre Legitimität und ihren Nutzen akzeptiert. Dies ist zwar eine gute Nachricht, bedeutet aber nicht, dass die Debatten über die "Qualität" der qualitativen Forschung aufgegeben wurden oder werden sollten. Heute finden solche Debatten in verschiedenen Diskurskontexten statt, in denen die "Qualität" qualitativer Forschung auf sehr unterschiedliche Weise verstanden und behandelt wird.

  1. Die fortgesetzte Globalisierung und interdisziplinäre Anziehungskraft der qualitativen Forschung haben die Diversifizierung der bestehenden Rahmen, Theorien, Methodologien und Methoden beschleunigt. Wir treffen auf viele innovative Entwicklungen, die ihren Ursprung in den "älteren" qualitativen Ansätzen haben, wie dem Sozialkonstruktivismus, dem symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie, der Gesprächsanalyse, der Phänomenologie, der Hermeneutik, der Grounded-Theory-Methodologie und der Diskursanalyse. Darüber hinaus überschreiten viele qualitative Forscher*innen heute die traditionellen Grenzen und stützen sich bei der Anwendung und Entwicklung neuer qualitativer Methoden auf einen viel breiteren theoretischen Kanon, einschließlich kritischer Ansätze wie feministische, postkoloniale und rassenkritische Theorien oder politökonomische Rahmenkonzepte sowie Postmoderne, Poststrukturalismus und kunstbasierte Epistemologien. Darüber hinaus hat die Zusammenarbeit zwischen qualitativen Sozialwissenschaftler*innen und Wissenschaftler*innen aus so unterschiedlichen Bereichen wie Kunst, Design, Computerwissenschaften, Medizin und anderen Gesundheitswissenschaften die Entwicklung "alternativer" Forschungsmethoden beschleunigt. Diese Entwicklungen werfen viele neue Fragen auf wie: Wie sieht die neue theoretische Landschaft der qualitativen Epistemologien und Methoden aus? Wie prägen die verschiedenen nationalen und kulturellen Kontexte die Entwicklungen und Debatten über neue qualitative Rahmenkonzepte? Und schließlich: Wie wird die "Qualität" neuer qualitativer Forschungspraktiken in verschiedenen Disziplinen und epistemologischen Kontexten bewertet?
  2. In den letzten 20 Jahren wurde die qualitative Forschung durch enorme Entwicklungen und Erweiterungen in den Bereichen Technologie und soziale Medien beeinflusst. Forscher*innen nutzen zunehmend (medien-)technische Instrumente wie Videokameras, Smartphones und das Internet zur Datenerhebung. Eine breite Palette von Softwarepaketen hat die Komplexität der Datenerhebung und -analyse sowohl verringert als auch erhöht. Wir müssen uns neue Fragen stellen, zum Beispiel: Wie beeinflusst die Verbreitung neuer Instrumente und Technologien die praktische und intellektuelle Arbeit qualitativer Forscher*innen? Welche neuen sozialen Welten und Beziehungen sind entstanden, und wie sollten sie qualitativ untersucht und theoretisiert werden?
  3. Zudem haben sich neben den institutionellen Strukturen der Universität auch die Finanzierungsmechanismen in den (Sozial-)Wissenschaften stark verändert. Neben öffentlichen und gemeinnützigen Fördereinrichtungen müssen sich Forscher*innen heute auch an private und kommerzielle Institutionen wenden, um Ressourcen zu akquirieren, von denen einige qualitativen Ansätzen gegenüber sehr aufgeschlossen sind, während andere ihren Nutzen infrage stellen. Daraus ergeben sich neue Fragen wie die folgenden: Wie beeinflussen die Veränderungen in der Finanzierung und anderen institutionellen Strukturen die Theorie und Praxis der qualitativen Forschung? Wie unterscheiden sich die neuen Finanzierungs- und institutionellen Strukturen je nach Land, Region und Disziplin? Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf die Auswahl der Forschungsthemen und auf die Ethik und die Verantwortlichkeiten in der qualitativen Forschung?
  4. Nicht zuletzt ist die wissenschaftliche Forschung zunehmend unter den Druck von Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen sowie von anderen einflussreichen Expert*innen geraten, die den wissenschaftlichen Betrieb unverblümt infrage gestellt haben und jeglicher wissenschaftlichen Forschung mit Feindseligkeit und Antagonismus begegnen. Dies wirft Fragen auf, zum Beispiel: Wie reagieren Forscher*innen, die sich qualitativer Theorien, Methoden und Verfahren bedienen, auf die grundsätzliche Infragestellung ihrer (sozial-) wissenschaftlichen Expertise? Wie können sie die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass sie wichtige Themen behandeln und zu deren Lösung beiträgt?

Trotz der seit langem geführten Diskussionen über die Qualität der qualitativen Forschung hat man sich noch immer nicht auf einen Kriterienkatalog geeinigt, der ihren Wert in den unzähligen Kontexten, in denen sie heute eingesetzt wird, gewährleisten würde ähnlich wie die klassischen kanonischen Standards, die für quantitative Wissenschaftler*innen gelten. In der Tat müssen wir unser Verständnis davon, was qualitative Forschung ist und wie sie praktiziert wird, erweitern, während wir weiterhin Fragen zu ihrer "Qualität" stellen. Die vielen oben aufgeworfenen Themen und Fragen können dazu dienen, die Diskussionen über die "Qualität qualitativer Forschung" in dieser FQS-Debatte neu zu beleben, und zwar im Einklang mit aktuellen Entwicklungen und Anliegen. Da sich die internen und externen Bedingungen für die qualitative Forschungspraxis verändert haben, hoffen wir, dass eine neue Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Themen neue Teilnehmer*innen einlädt, neue Fragen aufwirft und zu neuen Erkenntnissen führen wird. Ein neu zusammengestelltes internationales FQS-Debattenteam erwartet mit Spannung Ihre Beiträge.

Wenden Sie sich bei Fragen bitte an die Debattenherausgeber*innen: Franz Breuer, Paul Eisewicht, Margarethe Kusenbach, Jo Reichertz, Dirk vom Lehn, E-Mail: deb_quality@qualitative-research.net.

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