Volume 6, No. 3, Art. 3 – September 2005
Konstruktivismus ist die Erfindung eines Kritikers
Ralf Ottermann
Review Essay:
Heinz v. Foerster & Bernhard Pörksen (2004). Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker (6. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer, 166 Seiten, ISBN: 3-89670-214-9, EUR 19,90
Zusammenfassung: Was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, ist unsere Erfindung; wir entdecken nicht, wir erfinden die Welt. Diese zentrale These wird aus der neurophysiologischen Forschung abgeleitet. Aber wie radikal ist FOERSTERs Konstruktivismus dann "wirklich"? Ist er nicht ebenfalls ein empirischer sowie sozialer Konstruktivismus mit ein wenig Realismus darin? Und was sollen wir mit derartigen akademischen Fragen anfangen, wenn die Weise, in der wir eine Frage stellen, die Art der Antwort bestimmt, die wir erhalten können ? – Der Physiker und Philosoph Heinz von FOERSTER und der Journalist und Kommunikationswissenschaftler Bernhard PÖRKSEN unterhalten sich über die menschliche Sinneswahrnehmung und die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, der Kommunikation und des Verstehens. Sie debattieren über Wahrheit, Objektivität und Verantwortung und diskutieren über den Zusammenhang von Erkenntnis, Ethik und Praxis. – Ich wurde um einige Aphorismen, Anekdoten und Aporien bereichert, jedoch bin ich nicht imstande endgültige Antworten auf obige Fragen zu geben. Das Buch ist interessant für Leute, die sophistische Gespräche mögen, aber nicht sonderlich hilfreich für qualitative Sozialforschung.
Keywords: Konstruktivismus, Dialog, Etikettierung, Kommunikation, Hermeneutik, Kultur, Wahrheit, Objektivität, Verantwortung
Inhaltsverzeichnis
1. Vorläufige Einordnung
2. Akademische Etiketten
2.1 Science und Systemics
2.2 Entscheidbare und unentscheidbare Fragen
2.3 Erkennen und Erklären
3. Kommunikation und Kultur
3.1 Hermeneutik des Hörers
3.2 Triviale und nichttriviale Maschinen
3.3 Enkulturation und Pädagogik
4. Konstruktivistische Tabus
4.1 Wahrheit und Lüge
4.2 Objektivität und Verantwortung
4.3 Enthaltung und Ethik
5. Abschließende Kritik
Heinz von FOERSTER (1911-2002) gilt neben Ernst von GLASERSFELD (und anderen) als einer der Gründerväter und Stichwortgeber des radikalen Konstruktivismus; dieser ist inzwischen in akademischen Kreisen zu einer regelrechten Mode geworden (vgl. PÖRKSEN 2002b; REICH 2001; SCHNELL, HILL & ESSER 1999, S.109ff.). Heute gibt es eine Reihe konstruktivistischer buzz- & catchwords, öffentlichkeitswirksamer und vermarktungsfähiger Begriffe, unter denen auch FOERSTERs Arbeiten (wie z.B. "On Constructing a Reality") einer an konstruktivistischen Ideen interessierten Leserschaft verkauft und im wissenschaftlichen Diskurs eingeordnet werden. Gleichwohl betont FOERSTER, dass er seine Arbeiten nicht in der Absicht geschrieben habe, das, was man heute radikalen Konstruktivismus nennt, zu begründen oder zu rechtfertigen. Seines Erachtens ist GLASERSFELD der eigentliche radikale Konstruktivist; dieser habe über Konstruktivismus geschrieben und ihn verteidigt (vgl. MÜLLER & MÜLLER 2001). Auch wenn sich FOERSTER selbst nicht ins radikalkonstruktivistische Lager fügen will, macht es doch Sinn, ihn vorerst in seiner Nähe zu platzieren, denn die gegenwärtige Landschaft der Kultur- und Sozialwissenschaften wartet mit einer Vielfalt von Konstruktivismen auf. Dabei lässt sich – zwecks Orientierung – beispielsweise zwischen dem Sozialkonstruktivismus (etwa wissenssoziologischer Art), dem empirischen Konstruktivismus (z.B. ethnographischer Wissenschaftsforschung) und eben dem radikalen Konstruktivismus (v.a. perzeptionstheoretischer Kognitionswissenschaften) unterscheiden (vgl. FLICK 2000; MOSER 2001; REICH 2001). [1]
Der sog. radikale Konstruktivismus thematisiert die Bedingungen menschlicher Erkenntnis einschließlich solcher wissenschaftlicher Art. Als Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie betont er die menschlichen Konstitutionsleistungen im Erkenntnisprozess. Ohne Beobachter gibt es keine Beobachtung; Beobachter sind folglich konstitutiver Bestandteil der Welt, die sie beschreiben.
"The fundamental premise of constructivism is that we humans are self regulating organisms who live from the inside out. As a philosophical counterpoint to naive realism, constructivism suggests that we are proactive co-creators of the reality to which we respond. Underlying this concept is that perception is an active process in which we 'bring forth distinctions'. It is our idiosyncratic distinctions which form the structure of the world(s) which each of us inhabits. […] The world is no longer the world of the observed. It is now a world of observing systems, one in which the act of observation changes that which is observed" (STEWART 1994, unpag.). [2]
Gemäß GLASERSFELD sind es drei Hauptideen, die die konstruktivistische Auffassung von Wissenschaft ausmachen: (1) die Konzepte, mit denen wir unsere Erfahrungen organisieren, werden von uns geschaffen; (2) die Modelle, die wir als Erklärungen betrachten, sind unsere Erfindung; (3) diese Modelle sind brauchbar, wenn sie mit unseren Beobachtungen übereinstimmen. Aus einer radikal konstruktivistischen Perspektive sei alles Wissen von jener Welt, die wir uns jenseits der Erfahrung und unabhängig von dieser denken mögen, prinzipiell ausgeschlossen. Das Hauptargument sei einfach und unwiderlegbar: Um zu wissen, dass etwas, was wir aus der Erfahrung gewinnen, den Eigenschaften und der Struktur einer externen Welt entspricht und diese repräsentiert, müssten wir imstande sein, es mit dem Realen selbst zu vergleichen. Das aber sei ausgeschlossen, denn wir könnten nicht aus unserer Wahrnehmungsweise und unseren Begriffen aussteigen. Das Argument, dass Begriffe, die wir aus unseren Erfahrungen abstrahieren, nichts fassen, was außerhalb unserer Erlebenswelt liegt, betreffe nicht nur das Göttliche, sondern auch jede ontologische Realität, die als vom erfahrenden Subjekt unabhängig postuliert werde. Unsere erfolgreichen Konzepte und Theorien könnten nie den Anspruch erheben, die einzigen zu sein, die funktionieren – und somit werde auch der Anspruch hinfällig, dass sie ontologisch wahr seien (GLASERSFELD 2001):
"Die konstruktiven Fähigkeiten der Menschen treten in den Vordergrund. In dieser Hinsicht ist der grundlegende Relativismus von Konstruktivisten, der nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf, vor allem darauf gerichtet, universalistische Reduktionisten und Letztbegründer von Wahrheit in den gegenwärtigen Diskursen zu bekämpfen, um ein breites Spektrum kreativer Lösungen zu ermöglichen" (REICH 2001, unpag.). "Der Konstruktivismus lässt sich [...] als eine Philosophie des Möglichen begreifen. Er inspiriert zu immer neuen Sichtweisen, verpflichtet zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Gewissheiten und Dogmen und macht eine Ethik der Wahrnehmung begründbar: Der Einzelne ist unvermeidlich für seine Sicht der Dinge verantwortlich" (Klappentext zu PÖRKSEN 2002a). [3]
Alles kann also auch ganz anders gesehen werden; und aus dem Bewusstsein der Konstruiertheit der eigenen Wirklichkeit, die nun nicht mehr verabsolutierbar ist, folgt als ethische Maxime die Toleranz gegenüber den Wirklichkeiten anderer, die wiederum einen bestimmten Forschungsstil nahe legt:
"Hence objectivity is impossible, general laws that explain human and social behaviour are impossible and generalisations become possible only within time- and context-bound frameworks. An useful guiding thought for qualitative researchers is [das sog. Thomas-Theorem, R.O.] that 'If people define situations as real, they are real in their consequences'. […] This means research with people, rather than on people" (STEWART 1994, unpag.). [4]
Erkenntnis (-theorie), (Forschungs-) Ethik und (wissenschaftliche) Handlungspraxis erscheinen aus dieser konstruktivistischen Perspektive einander zu bedingen. Die Komplexität und Untrennbarkeit als traditionell separierbar erachteter Phänomene spiegelt sich auch in den Themen, wenn nicht z.T. bereits in den Kapitelüberschriften vorliegender Medieneinheit "Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" wider:
Ein Vorwort in drei Abschnitten (S.11-13);
I.Bilder des Wirklichen:
1. Biologie der Wahrnehmung (S.15-28), 2. Facetten der Wahrheit (S.29-42), 3. Die Gefahr des Etiketts (S.42-46), 4. Erklärung der Erklärung (S.46-63);
II.Perspektiven der Praxis:
1. Pädagogik (S.65-76), 2. Psychotherapie (S.76-83),
3. Management (S.83-97), 4. Kommunikation (S.97-103);III.Kybernetik (S.105-121);
IV.Biographische Exkurse (S.123-152);
V.Erkenntnis und Ethik (S.153-166). [5]
Die Besonderheit konstruktivistisch-systemischen Denkens, wie diese Art von Konstruktivismus aufgrund der von FOERSTER perzipierten und konstruierten diversen Wechselwirkungen sowie seines Bekenntnisses zum Cybernetic Circle (bzw. dem "Denkstil" dieses "akademischen Clubs") bezeichnet werden könnte, spiegelt sich auch in der Form der Begegnung und kritischen Zusammenarbeit, der sozial interaktiven (De-) Konstruktion wider, die FOERSTER und Bernhard PÖRKSEN (Jg. 1969) gewählt und betrieben haben: einen mehrwöchigen Dialog als Methode, ein Gesprächsbuch als Darstellung. Viele der Bücher FOERSTERs sind laut PÖRKSEN (2002b, S.14) Gesprächsbücher; zahlreiche seiner Artikel und Aufsätze seien eigentlich verborgene Dialoge, Antworten auf konkrete Anforderungen und die Fragen anderer, wenn nicht gleich Entgegnungen im Rahmen von Interviews (wie z.B. in FRANCHI, GÜZELDER & MINCH 1995; MÜLLER & MÜLLER 1997, 2001; PÖRKSEN 2002b; WATERS 1999 – die ich im Folgenden ergänzend heranziehe). PÖRKSEN meint, dass die Form des Dialoges in irgendeiner Weise auch eine zentrale Botschaft enthalte, die sich in FOERSTERs Denken finde. Tatsächlich mutet FOERSTERs methodologische Begründung des Dialogs als geeignete Methode paradox, nämlich sowohl radikal- als auch sozialkonstruktivistisch an:
"In einem Dialog [...] wird die wechselseitige Verbundenheit und die Fülle möglicher Wirklichkeiten zur Erfahrung. Man ist kein scheinbar neutraler Beobachter mehr, der von einem merkwürdigen Locus observandi aus – frei von persönlichen Einflüssen und seinem individuellen Geschmack – eine von ihm getrennte und unveränderlich erscheinende Wirklichkeit betrachtet. Das, was man Wirklichkeit nennt, wird zur Gemeinsamkeit und zur Gemeinschaft, die man zusammen mit anderen kreiert" (PÖRKSEN 2002b, S.14). "Erst durch den anderen werden doch die eigenen Annahmen überhaupt bedeutungsvoll, gewinnt das Gesprochene einen Sinn und eine Lebendigkeit, erfährt man, welche Konsequenzen sich aus den seltsamen Grunz- und Zischlauten, die ich gerade eben produziert habe, ergeben. Erst wenn ich dem anderen sehr genau zuhöre, verstehe ich, ob ich verstanden worden bin. Aus dem Interesse am Rechthaben wird der Versuch, zuzuhören und zu verstehen. Erst aus dem Mund des anderen höre ich ja, was ich eigentlich gesagt habe, und sehe mich selbst mit den Augen des anderen. Es ist, so behaupte ich, der Hörer, nicht der Sprecher, der die Bedeutung einer Aussage bestimmt. Als ich diese Idee einmal mit viel Pomp auf einem Kongress präsentierte, saß ein guter Freund von mir im Publikum. 'Das ist doch Unsinn!', rief er. 'Sehen Sie', sagte ich, 'der Hörer bestimmt die Bedeutung einer Aussage.' Alles hat gelacht" (a.a.O., S.14). [6]
In der (philosophischen) Literatur wird FOERSTER u.a. als ein Vertreter des radikalen Konstruktivismus und des systemischen Denkens bezeichnet. Gleichwohl will FOERSTER sich und sein Denken nicht auf derartige Etiketten festlegen, in Schablonen pressen lassen (vgl. FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.43). Er wehrt sich gegen alle möglichen Etikettierungen und große Worte. Diese seien nur dazu da, um andere zu beeindrucken, und verhinderten den eigentlichen Dialog, der ein Hin- und Zuhören voraussetze. Seine Lehre sei darüber hinaus, dass man keine Lehre akzeptieren solle (a.a.O., S.163). Er wolle vielmehr darauf aufmerksam machen, dass sich alles, was behauptet werde, auch auf den Kopf stellen lasse. Hierbei gehe es nicht darum, andere(r) Gedanken zu widerlegen und ein für allemal im Recht zu sein; dies würde lediglich Intoleranz und Streit erzeugen (a.a.O., S.23f.). Ihm gehe es darum, auf verschiedene Lesarten bzw. Interpretationsmöglichkeiten aufmerksam zu machen, Unterschiede zu akzeptieren, Vielfalt zu pflegen:
"Man nehme nur die Annahme, die Welt werde in der Sprache abgebildet und begreife diese Aussage als ein Axiom, das sich umdrehen läßt. Auf diese Weise entsteht der Satz: Die Welt ist ein Abbild der Sprache! Und wenn Ludwig Wittgenstein von der Welt spricht und den Folgen, die die Welt für unsere Wahrnehmung hat, so spreche ich von den Folgen der Wahrnehmung und begreife die Welt als Konsequenz unseres Sprechens und Handelns" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.130). [7]
FOERSTER gehe es darum, auf neue, auf andere Möglichkeiten der Wahrnehmung aufmerksam zu machen, das Blickfeld zu erweitern, ohne jedoch für eine bestimmte Sicht der Dinge zu werben (PÖRKSEN 2002b, S.14). Mehr noch: FOERSTER möchte den gesamten "Zirkus" akademischer "Clubs" (konstruktivistischer vs. realistischer, nicht kybernetischer Art) und ihrer Sprachspiele verlassen. Sein Ziel sei es, den "großen Worten" zu entgehen, "überall Löcher in diese Wortballons zu pieksen" und auch zu einer Skepsis gegenüber dem Konstruktivismus zu inspirieren. Denn es sei ein bestimmtes Spiel, das hier gespielt werde. Man wolle den anderen durch eine besondere Sprache beeindrucken, rechne damit, dass er nicht so genau weiß, wovon die Rede ist und dass er sich dem gemäß als der Unterlegene fühlt (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.44).
"Das Problem ist, daß solche Etikette die Verständigung und das wechselseitige Zuhören stören. Ob das jetzt Konstruktivismus heißt oder Schnapsodivismus oder Klapsodivismus, in welche philosophische oder sonstige Kategorie das hineingepreßt wird – immer wird es darauf hinauslaufen, daß man die Sache selbst [sic! R.O.] mit einem vorschnellen Etikett erledigt" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.45). FOERSTER "glaube, daß schon der Name Konstruktivismus eine Katastrophe für die dahinterstehende Welt von Ideen darstellt. Das, was Konstruktivismus genannt wird, sollte [...] schlicht eine skeptische Haltung bleiben, die die Selbstverständlichkeiten des Realismus in Zweifel zieht. Dann ließe sich vielleicht etwas freier sprechen. Man könnte auf andere Sichtweisen aufmerksam machen, sich von den schon vorgegebenen Urteilen und Denkweisen befreien. Das ist jedenfalls alles, was ich will" (a.a.O., S.45). [8]
Heute würde er den Begriff "Konstruktivismus" eigentlich gerne wieder loswerden. Ihn störe das gesamte Vokabular gegenwärtiger Debatten, diese Fixierung auf ein Label und ein Etikett, das man irgendwem anheften könne. Das Problem sei, dass in dem Augenblick, in dem irgendein Ismus entstehe und Mode werde, alle Beteiligten, Befürworter und Gegner, zu Gefangenen eines semantischen Netzes würden. Das wechselseitige Zuhören habe dann ein Ende, Missverständnisse tauchten auf und die Beschimpfung und Verunglimpfung der anderen Seite beginne. Aus diesem Grund versuche er, derartige Etikettierungen, so gut es irgendwie gehe, mit Hilfe der dialogischen Methode zu vermeiden:
"Wenn mich jemand fragt: Sind Sie ein Konstruktivist, dann frage ich, um überhaupt einen Zugang zu seiner Welt zu bekommen, immer zurück: Was ist das? Was meinen Sie? Er wird irgendetwas antworten, ich werde wieder etwas sagen – und auf einmal entsteht ein Dialog, in dem die verschiedenen Ansichten und Auffassungen sich ausgleichen und für ein gegenseitiges Erstaunen und Entzücken sorgen können. [...] Ich spiele dieses Spiel der starken Worte und der gegenseitigen Etikettierungen einfach nicht mit. Ein solches Kästchen-Denken macht den anderen zu einem von mir getrennten Gegenüber und stört den Bezug von Mensch zu Mensch, den ich unter allen Umständen aufrechterhalten will" (PÖRKSEN 2002b, S.14). "Sobald ein solches Schlagwort auftaucht, weiß jeder, wovon geredet wird. Man braucht also nicht mehr zuzuhören, weil jeder schon weiß, das ist ein Konstruktivist. Wenn ich vermeide, ein Konstruktivist genannt zu werden, dann müssen die Leute fragen, ja, was sind Sie dann? Dann können wir einmal darüber reden, jetzt hört vielleicht einer zu! Aber wenn ich sage, das ist ein Konstruktivist, können wir uns ja alle schlafen legen und sagen, das weiß ich ja sowieso schon, was der redet: Die Welt ist erfunden, es ist alles nicht vorhanden, es gibt keine Realität und diesen Blödsinn, den brauchen wir ja nicht mehr anzuhören, denn das haben wir ja schon fünfhundertmal von anderen Idioten gehört. [...] Und ich fühle heute zum Beispiel, daß der Konstruktivismus mit so vielen negativen und dummen Interpretationen in die Literatur eingeht, daß es sehr günstig ist, wenn man sich aus dieser Konstruktivismus-Einschachtelung – in dieses konstruktivistische Eck, in das man hineingedrängt wird von den anderen – herauszieht, so daß man ein neues Gespräch anfangen kann" (MÜLLER & MÜLLER 2001, S.241f.). [9]
PÖRKSEN erscheint FOERSTERs "Totalablehnung dieses gesamten Vokabulars" (Konstruktivismus, Realismus usw.) etwas überzogen, weil er damit die positive Funktion konventionalisierter oder auch modischer Begriffe übersehe. Derartige Begriffe und Bestimmungen der eigenen und der fremden Position hätten doch auch ihren guten Sinn. Sie erlaubten die schnelle Verständigung und die rasche Orientierung der Eingeweihten. Außerdem könne man doch nicht jeden Satz mit der Vorrede beginnen, dass alles Gesagte eine Konstruktion sei. Das wäre etwas umständlich. Termini seien einfach ökonomisch; sie erlaubten auf der Basis eines gemeinsamen Vorverständnisses miteinander zu sprechen, ohne immer am Beginn jedes Gesprächs auch noch die Grundlagen klären zu müssen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.45; PÖRKSEN 2002b, S.14). [10]
Entsprechenden Bitten PÖRKSENs um Begriffsklärungen kommt FOERSTER nur ungern nach, da mittels Definition stets eine "konzeptionelle Grenze" ins Leben gerufen werde. Für FOERSTER hat "jede Definition eine grundsätzliche Schwäche: Sie schließt aus, sie begrenzt" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.105), wodurch das Assoziationspotenzial eines Begriffs oder Gedankens unnötig bzw. zwangsmäßig beschränkt werde: "to talk about a single notion has a built-in sterility which does not allow you to make the semantic connections to all those other concepts" (FRANCHI et al. 1995, unpag.). Andererseits stimmt FOERSTER PÖRKSEN zu, dass jede Beobachtung mit dem Akt des Unterscheidens einsetze und im Sinne von George SPENCER-BROWN die Wahl der Unterscheidung bestimme, was (und dass etwas) überhaupt gesehen werden kann: "Draw a distinction and a universe comes into being" (SPENCER-BROWN). Mit der Differenz von gut und böse z.B. kann man etwas anderes beobachten als mit der Unterscheidung von richtig und falsch, hässlich und schön oder krank und gesund (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.78). Aber:
"Wenn jemand von Gesundheit spricht, wenn das Wort Therapie oder unter den Anhängern eines New Age der Begriff der Heilung auftaucht, wird sofort die Idee der Krankheit eingeführt und der andere implizit pathologisiert. [...] Ob jemand, der einen Psychotherapeuten aufsucht, krank ist oder gesund – wer weiß das schon? Sicher ist doch lediglich, daß dieser Mensch an seinem Unglück leidet [Wirklich? R.O.]. Er kommt, um Hilfe zu suchen, nicht um geheilt zu werden [?!, R.O.]. Und die Trauer über die eigene Verfassung oder den Zustand der Welt ist nicht notwendigerweise pathologisch, sondern womöglich viel eher ein Zeichen mentaler Gesundheit: Man merkt, daß irgend etwas nicht stimmt, daß etwas nicht in Ordnung ist, daß es einen guten Grund gibt, um traurig zu sein" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.78). [11]
Verzichtet man hingegen auf Definitionen und Unterscheidungen dieser Art oder ordnet man das Bezeichnete anderen (harmloseren, unverfänglicheren) Kategorien zu, lösen sich Probleme bisweilen von selbst, da sie bzw. die als problematisch bezeichneten Phänomene ohne das ihnen zugrunde liegende begriffliche Konzept, dem man sie entzogen hat, nicht mehr wahrzunehmen bzw. zu konstruieren sind:
"Bis vor wenigen Jahren wies dieses Buch ["Diagnostic and Statistical Manual" (DSM); R.O.] auf eine Krankheit hin, die Homosexualität genannt wird. Als eine weitere revidierte Ausgabe erschien, da hat man sich nach vielen Kämpfen entschlossen, die Homosexualität nicht mehr als eine Krankheit zu klassifizieren. Und mit dieser Entscheidung wurden Millionen von Menschen auf einen Schlag geheilt. [...] [W]orum es in diesem Beispiel geht, ist zu zeigen, wie stark unsere Ansichten dessen, was als eine Krankheit anzusehen ist, von unserer kulturellen Umgebung geprägt werden. Um andere Perspektiven, die tradierte Vorurteile in den Hintergrund treten lassen, muß dann erst mühsam gerungen werden. Und eine neue Sichtweise kann unsere Interpretation einer Krankheit komplett verändern" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.76f.). [12]
Mittels Begriffspolitik ist, so meine ich, einerseits wohl immer so etwas wie die mehr oder minder beabsichtigte Transformation von "Oldspeak" in "Newspeak", die informelle oder gar formelle Institutionalisierung von "Wahrheitsministerien" für politisch korrekte Sprache und Deutung möglich, auch ohne dass es dafür ein totalitäres Regime wie George ORWELLs "1984" bräuchte. Sowohl außerhalb als auch innerhalb der Wissenschaft gibt es sprachliche Tabus (vgl. OTTERMANN 2000, S.48; HETTLAGE 2004). Andererseits erscheint manchen Menschen bisweilen – etwa im Rahmen sozialer Bewegungen – auch der umgekehrte, nämlich sensibilisierende Prozess, die Enttabuisierung bzw. Problematisierung mittels Etikettierung, etwa in Form der Moralisierung, Kriminalisierung oder Pathologisierung von Phänomenen, sinnvoll. Wenn der Zeitgeist, die Parteilichkeit, die Anteilnahme, das Mitgefühl oder was auch immer will, sind labels keineswegs bevorzugter Gegenstand (de-) konstruktivistischer Kritik (vgl. OTTERMANN 2003a, 2003b; LAMNEK & OTTERMANN 2004). Auf einige sensibilisierende Definitionen und Unterscheidungen lässt sich denn auch FOERSTER ein, auf andere nicht. [13]
Für FOERSTER ist Wissenschaft eine Tätigkeit, die Wissen schaffe – kein Entdecken, sondern Erfinden. Das gelte für Natur- und Geisteswissenschaften gleichermaßen. Er halte deren Unterscheidung für künstlich, gehe es doch immer um Er-Wissen, um kreative Vorgänge, die sich nicht anhand einer Vorsilbe, die auf Natur oder Geist hindeutet, unterscheiden ließen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.150). Folglich kann eine geistes- versus naturwissenschaftliche Orientierung alleine kaum dazu dienen, zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung zu unterscheiden, insofern die Befunde beider Konstruktcharakter haben (vgl. MOSER 2001). FOERSTERs Wissenschaftsauffassung scheint soweit eindeutig radikalkonstruktivistisch:
"A discovery means to uncover, to take a blanket away from a thing which is already there. The inventor is doing something which is new, which is not already there. My position is, that we create all the time. It's always something absolutely new, which was never there before. The discoverer position, which people are very fond to maintain, is in a sense being not responsible for that which you are talking about. Because if you are only taking a cover away from something which is already there, then you are only telling how it is. With this, you avoid all the responsibility. […] Because the most horrible thing is to be responsible for something. We have invented every trick to avoid responsibility" (WATERS 1999, S.82). [14]
Während es aus dieser konstruktivistischen Perspektive sinnlos erscheint zwischen Geistes- und Naturwissenschaften (bzw. qualitativer und quantitativer Forschung) zu unterscheiden, sei es andererseits möglich und sinnvoll, die verschiedenen Wege, Wissen zu kreieren bzw. Wissen zu schaffen, voneinander abzugrenzen, indem man zwischen Science und Systemics differenziere (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.150):
"Das sind zwei Weisen zu denken, zwei Formen der Wahrnehmung, zwei Denkstile. Die indoeuropäische Wurzel von scientia ist ski, sie weist auf Bedeutungen hin wie: trennen, separieren, unterscheiden. Das ist die westliche Tradition des Denkens, die auf dem Reduktionismus und dem Glauben an die Kausalität basiert: Man entwirft Taxonomien, zergliedert ein Problem so lange, bis es behandelbar erscheint, unterscheidet die Wirkung von der Ursache und hofft, die Regel der Transformation zu finden, die die Wirkung zu einer Ursache werden läßt. Den anderen Weg, Wissen zu schaffen, nenne ich systemics. Wer ihm folgt, der trennt und separiert nicht, sondern versucht, zu verbinden, zu vereinen und zu vergleichen. Es ist ein Denken, dem es um Bezüge geht, um Bezüglichkeit, sogar um die logisch hochgefährliche Selbstbezüglichkeit. Die beiden Wege, die beiden Denkstile, science und systemics, können komplementär verwendet werden. Ein guter Wissenschaftler, der zu unterscheiden versteht, wird sich immer fragen: Was habe ich durchschnitten, was habe ich getrennt?" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.150); "there are different styles of thinking which […] were still the two sides of the same coin" (FRANCHI et al. 1995, unpag.). [15]
Vor allem mit der Rede von komplementär verwendbaren Denkstilen bzw. den zwei Seiten einer Medaille weicht FOERSTER von der radikalkonstruktivistischen Auffassung von Triangulation (der Kombination verschiedener Perspektiven) ab und nähert sich stattdessen der epistemologischen Glaubensrichtung des empirischen Konstruktivismus. Denn aus radikalkonstruktivistischer Sicht besteht das grundlegende Problem nicht in der Aspekthaftigkeit bzw. Perspektivität unterschiedlicher Betrachtungsweisen, sondern darin, dass diese jeweils eigene Gegenstände konstituieren, die sich nicht ohne Weiteres zusammen bringen und vergleichen lassen. Triangulationen können zwar sowohl aus radikal- als auch aus empirisch-konstruktivistischer Perspektive nichts anderes sein als ebenfalls nur (soziale) Konstruktionen von Wirklichkeit. Die jeweilige erkenntnistheoretische Grundposition – vom (1) naiven Empirismus über den (2) empirischen Konstruktivismus bis zum (3) radikalen Konstruktivismus – bestimmt aber letztlich, ob mittels Triangulation (1) dasselbe Phänomen, (2) unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens oder (3) unterschiedliche Phänomene erfasst bzw. konstruiert werden (LAMNEK 2005, S.160). [16]
2.2 Entscheidbare und unentscheidbare Fragen
FOERSTER unterscheidet des Weiteren zwischen entscheidbaren und unentscheidbaren Fragen. Eine entscheidbare Frage werde immer innerhalb eines Rahmens entschieden, der die mögliche und jeweils richtige Antwort bereits vorgibt. Ihre Entscheidbarkeit werde durch gewisse Spielregeln und Formalismen, die man allerdings akzeptieren müsse, gesichert. Der Syllogismus, die Syntax und die Arithmetik seien Beispiele derartiger Formalismen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.159). Mathematische Formeln hält FOERSTER für universal verständlich (a.a.O., S.142), solange man, wie er im Gespräch mit Albert MÜLLER und Karl H. MÜLLER (1997) betont, den Rahmen bzw. die Regeln akzeptiert und nicht als menschliche Setzungen und damit optionale Konstrukte problematisiert:
"Die meisten glauben, in der Mathematik habe ich entscheidbare Fragen, da habe ich dieses Problem, dann diesen Algorithmus, um das Problem zu lösen, also sind das alles entscheidbare Fragen. Wer hat ihnen die Struktur der Mathematik gegeben? Was sind die Axiome, die ich doch frei bin zu wählen?" (MÜLLER & MÜLLER 1997, S.134). [17]
Unentscheidbare Fragen seien Fragen, die etwa von der Existenz höherer Wesenheiten, dem Sinn des Lebens, der Entstehung der Welt und dem Weiterleben nach dem Tode handelten. Sie besäßen eine Vielzahl möglicher Antworten (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.159). Man könne nicht feststellen, wer Recht habe. Anhand der Antworten aber könne man etwas über den Antwortenden erfahren. "Sage mir etwas über den Ursprung des Universums, und ich sage dir, wer du bist!" (a.a.O., S.160). Wenn jemand auf prinzipiell unentscheidbare Fragen eine Antwort gibt, dann sage er immer nur etwas über sich, statt über die Frage (MÜLLER & MÜLLER 1997, S.136). PÖRKSEN scheint hier – deshalb wohl auch der ausführliche biographische Exkurs in vorliegender Medieneinheit – ähnlich zu denken wie FOERSTER:
"Von Fichte kennen wir den Satz: 'Was für eine Philosophie man hat, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.' Und man könnte ergänzen: 'Was für ein Mensch man ist, hängt davon ab, woher man kommt.'" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.123). [18]
Die Rede über Vergangenes indessen ist laut FOERSTER letztlich immer eine Konstruktion (keine Rekonstruktion). Jede Geschichte und jedes Ereignis (der Vergangenheit) könne aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beschrieben werden. Es lasse sich nicht entscheiden, welches die richtige Beschreibung bzw. die korrekte Version eines Geschehens ist. In dem Moment, in dem man sich für eine bestimmte Antwort auf eine unentscheidbare Frage entscheide, komme aber Verantwortung ins Spiel, sofern man sich entschließt, die Dinge, die Welt und seine Mitmenschen auf eine bestimmte Weise zu betrachten und entsprechend zu (be-) handeln (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.161f.). Doch auch diesbezüglich legt sich FOERSTER keineswegs auf eine radikalkonstruktivistische Betrachtungsweise fest, sondern sieht in der Schilderung sowie dem Verständnis von Geschichte und Geschichten auch sozialkonstruktivistische bzw. wissenssoziologische Elemente, die wiederum mit der empirisch-konstruktivistischen Vorstellung von Triangulation als komplementäre Betrachtungsweisen vereinbar scheinen. Jetzt sei es – so FOERSTER gegenüber MÜLLER und MÜLLER (1997) – der kulturelle Rahmen, der bestimme, ob eine Erzählung als sinnvoll erachtet werde, was insbesondere beim Aufeinandertreffen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen deutlich würde (vgl. auch OTTERMANN 2003a):
"Ununterbrochen haben ihr diese Leute erklärt, wie der Hamlet eigentlich erzählt werden müßte, wenn er in ihrer Kultur erzählt werden würde. Das alles fand ich als ein gutes Beispiel für Geschichte als dynamischer Dialog zwischen verschiedenen Perspektiven, durch den natürlich auch ein Ausgleich geschaffen wird" (MÜLLER & MÜLLER 1997, S.132). [19]
Im Hinblick auf den Prozess des Erkennens legt sich FOERSTER weitgehend auf eine wahrnehmungsbiologische bzw. neurophysiologische Sicht fest: Erkennen bedeute, dass innerhalb des Nervensystems Zusammenhänge zwischen verschiedenen Empfindungen hergestellt würden (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.18).
"Heinz von Foerster hat diesen für Erkenntnistheoretiker verblüffenden Befund sehr klar und bündig ausgedrückt: Die nervlichen Signale variieren in Frequenz und Intensität und sagen uns wieviel, aber niemals was [...]. In anderen Worten, sie enthalten keinerlei Information über die Art der Ereignisse, von denen wir annehmen, dass sie diese Signale verursachen. Laut dem neurophysiologischen Modell des Nervensystems wäre die Unterscheidung der Sinnesarten – sehen, hören, tasten etc. – das Resultat der Signalverarbeitung des Systems selbst. Aus dieser Perspektive also sind die Wahrnehmungsstrukturen, -muster oder -bilder, deren ein lebendes System sich gewahr wird, durchwegs seine eigene Konstruktion, und die Auffassung, dass sie etwas repräsentieren, das schon vorher da war, hat keine empirische Grundlage. Weil Aussagen wie diese oft fälschlich als Verneinung der Realität interpretiert werden, will ich ausdrücklich hervorheben: Wir behaupten nicht, dass Wahrnehmungssignale keine Ursache haben, sondern lediglich, dass wir diese Ursachen nicht kennen können" (GLASERSFELD 2001, unpag.). [20]
Im Hinblick auf Erklären favorisiert FOERSTER eine sprachphilosophische Perspektive, die der wahrnehmungsbiologischen Sicht weithin analog erscheint: Eine Erklärung sei ein Phänomen der Sprache, eine semantische Brücke, die zwei Beobachtungen miteinander verknüpfe, bzw. eine semantische Relation zwischen zwei Beschreibungen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.99, 109). Die (Selbst-) Verständlichkeit entsprechender Äußerungen ist für FOERSTER aber auch sozial mitbedingt:
"Man korreliert den Schmerz eines Stiches, die Seh- und Brummerfahrung und sagt dann zu einem anderen Menschen: Mich hat gerade eine Wespe gestochen! Und da dieser andere in einem sozialen Netzwerk lebt und auch er einmal diese Erfahrung des Stiches und des Schmerzes gemacht hat, kann er sich unter meinen Äußerungen etwas vorstellen, obwohl er vielleicht bisher nur von einer Biene gestochen wurde. Auf diese Weise werden Realitätsvorstellungen erzeugt, über die wir uns dann unterhalten" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.18). [21]
Entsprechend erscheint FOERSTERs Kommunikationstheorie keineswegs ausschließlich radikal (individual-) konstruktivistisch, sondern enthält meines Erachtens auch sozialkonstruktivistische bzw. wissenssoziologische Elemente bzw. Anknüpfungspunkte: Information entstehe in demjenigen, der aufgrund seiner Sozialisationserfahrungen mit einem Signal etwas anfangen könne. Information sei kein voraussetzungsloser Gegenstand, der sich außerhalb des wahrnehmenden Bewusstseins befinde:
"Bücher und Zeitungen, Ton- und Videobänder, Straßenschilder usw. enthalten also keine Information, sondern sie sind Träger potentieller Information, das ist ein wichtiger Unterschied. [...] Das bedeutet: Man sieht ein bestimmtes Straßenschild oder ein rotes Licht, und da man gerade den Führerschein gemacht hat, kann dieses Signal zu einer Information werden, die einen dazu veranlaßt, auf die Bremse zu treten, die Kupplung zu lösen, das Auto anzuhalten. Es ist die Operation, die in einem Menschen vorgeht, die ein Signal in eine Information transformiert [...], wobei das Ergebnis dieser Sinnkonstruktion gar nicht so individuell zu sein braucht: An der roten Ampel bleiben die meisten Autos stehen. Der Grund dafür ist, daß wir in einer Kultur leben, die uns dazu bringt, ein stabiles Eigenverhalten zu entwickeln, Signale auf eine spezifische Weise zu interpretieren, sie als eine Einladung zu ganz bestimmten Verhaltensweisen zu deuten – und im Falle einer roten Ampel auf die Bremse zu treten. Man könnte auch sagen, daß man nicht informiert, sondern 'in Form gebracht' wird: Die eigene, die innere Form ist es, die einen auf eine bestimmte Weise reagieren läßt" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.98). [22]
Auch PÖRKSEN deutet, so wie ich es sehe, die Ausführungen FOERSTERs zu kommunikativen bzw. Informationsverarbeitungsprozessen als hermeneutischen Zirkel mit wissenssoziologischer Dimension (vgl. OTTERMANN 2003a): Verstehen und Begreifen etwa entstünden in Form einer Wechselwirkung zwischen dem, was gesagt werde, und dem, was jemand bereits – aufgrund seiner besonderen Kultur oder Herkunft – wisse, kenne und erwarte. Erst wenn eine Erklärung in einer syntaktischen Struktur angeboten werde, die einem vertraut sei, könne man verstehen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.100). FOERSTER formuliert das hermeneutische Prinzip indessen radikaler:
"Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Gewöhnlich glaubt man, daß der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der Hörer verstehen muß, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorrufen, interpretiert und ihnen einen bzw. seinen Sinn gibt" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.100). "Alles, was gesagt wird, ist durch eine kognitive Maschine hindurchgegangen, die dann mit Geräuschen, die aus dem Mund kommen, oder Kratzspuren, die auf einem Papier stehen, eine Welt generiert. Und diese Welt erzeugt ein anderer, der hört, sieht oder liest, wieder für sich und auf seine Weise. Wer ist im Besitz der Wahrheit?" (a.a.O., S.102). "Alles ist auf sehr vielfältige Weise verstehbar. Das ist das sogenannte hermeneutische Grundprinzip oder die Hermeneutik des Hörers: Der Hörer und nicht der Sprecher ist es, der die Bedeutung einer Aussage bestimmt" (a.a.O., S.156). [23]
So, d.h. radikalkonstruktivistisch gesehen, wäre die Vorstellung von Kommunikation als einem Informationstransfer eine soziale Fiktion, eine Illusion, wenn nicht Schimäre: "communication is not information transfer" (STEWART 1994, unpag.). Isoliert betrachtet, bringt FOERSTERs Hermeneutik des Hörers jegliche empirische Sozialforschung in Verlegenheit, die ihre Befunde auf der Methode des Fremdverstehens aufzubauen trachtet. Es kann sich bei einem vermeintlichen Fremdverstehen aus radikalkonstruktivistischer Sicht lediglich um Zuschreibungen bzw. Projektionen des Forschers handeln. Ob diese mit dem Verständnis, dem subjektiven Sinn, den Kausalattributionen etc. der Erforschten übereinstimmen, lässt sich nicht feststellen. In dieser monadologischen Verengung kann die radikalkonstruktivistische Kommunikationstheorie bzw. Hermeneutik des Hörers keine Grundlage für eine qualitative Sozialforschung bilden, die Menschen verstehen will (vgl. FLICK 2000, S.155). Auch bringt sich FOERSTER mit derartigen radikalkonstruktivistischen Formulierungen selbst in Schwierigkeiten, wo er doch den Dialog als Methode favorisiert, Zuhören statt Etikettierung fordert, um der "dahinter stehende[n] Welt von Ideen" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.45) nicht zu schaden. Um dies überhaupt fordern und begründen zu können, bedient er sich – zumindest implizit – der Konzepte des Symbolischen Interaktionismus von der Übernahme der Perspektiven anderer (George H. MEAD) und vom Spiegel-Ich (Charles H. COOLEY): "Erst wenn ich dem anderen sehr genau zuhöre, verstehe ich, ob ich verstanden worden bin. [...] Erst aus dem Mund des anderen höre ich ja, was ich eigentlich gesagt habe, und sehe mich selbst mit den Augen des anderen" (PÖRKSEN 2002b, S.14). [24]
Diese kommunikationstheoretischen Konzepte des Symbolischen Interaktionismus sind auch wesentlich für die sog. systemische Familientherapie, die sich auf FOERSTER beruft – et vice versa. An die Stelle der monadologischen Kommunikationstheorie treten hier symbolisch vermittelte Interaktionssysteme und soziale Konstruktionen familialer Wirklichkeiten.
"Der radikale Konstruktivismus hatte großen Einfluss auf die Familientherapie. In ihrer systemischen Ausrichtung problematisiert diese sehr wohl interaktive Bezüge der Theorie, indem sie die Konstruktionen von Familienmitgliedern miteinander abgleichen und reflektieren hilft. Hier ist eine Kombination von systemischem Denken und Konstruktivismus entstanden" (REICH 2001, unpag.). "Die ganze Idee von diesen Familientherapeuten ist, daß sie die Teilnehmer einladen, zusammenzuarbeiten, um eine neue Relationswelt unter sich zu erfinden. Und das geht nur, indem man Fragen fragt, für die es keine Antwort gibt, aber die durch das Milieu der Sitzung eine Antwort heischen, verlangen. Die wollen nicht sagen, ich weiß nicht; keiner von denen sagt, 'keine Ahnung', sondern sie alle wollen reagieren, und lösen damit eine Erfindung einer Welt aus, die für alle überraschend ist. Und da habe ich gedacht: Aha, das sind alles Leute, die ihre Realität konstruieren" (MÜLLER & MÜLLER 2001, S.233). [25]
Aufgabe des Familientherapeuten ist es, geeignete Methoden und Techniken einzusetzen, um eine von den Familienmitgliedern als leidvoll empfundene Situation erträglicher zu gestalten. Eine auf Diagnose des Familienproblems beruhende handlungsanweisende Beratung von Seiten des Therapeuten, d.h. eine wohlinformierte Beeinflussung mittels Informationstransfer ist gemäß der Hermeneutik des Hörers nun aber nicht möglich. Wohl deshalb schwenkt FOERSTER zu einer systemischen (bzw. kybernetischen) Betrachtungsweise um. Danach erscheinen sowohl die Familie als auch deren Mitglieder als (sich selbst steuernde) operational geschlossene, wenn auch kognitiv irritierbare Systeme. Durch die Wechselwirkungen der Familienmitglieder werde in der Familie ein bestimmtes Eigenverhalten (Interaktionsmuster) generiert und stabilisiert, das einzelne oder auch alle Beteiligten unglücklich macht. Die Aufgabe des Therapeuten bestehe nun darin, die Mitglieder des Interaktionssystems Familie mit der Methode des Circular Questioning zu einem neuen Eigenverhalten zu verführen, sie zu locken, selbst
"andere Anfangswerte zu kreieren, die neue Eigenwerte entstehen lassen [...], so daß [...] die Mitglieder einer Familie beginnen, anders miteinander umzugehen [...]. 'Was glauben Sie', so will er [der Therapeut, R.O.] wissen, 'denkt Ihre Tochter über Ihren Vater?' Die Frau wird unsicher, sie muß jetzt die Beobachtungsperspektive wechseln, sich in den anderen hineinversetzen und [...] eine Antwort erfinden. Plötzlich herrscht ein gewaltiges Erstaunen unter den Mitgliedern dieser Familie; und es ist diese Geschichte der Frau, die über die Vorstellungen ihrer Tochter spricht, die eine neue Realität generiert, auf die sich von diesem Augenblick an die anderen einstellen müssen. Die Konsequenz: Ein neues Eigenverhalten kann entstehen" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.79f.). "Die Tochter, die zum erstenmal hört, was die Mutter glaubt, daß sie denkt über das Verhältnis von ihr und ihrem Mann. Der Mann, der ganz verblüfft schaut: Was, das glaubt meine Frau, daß meine Tochter über unser Verhältnis denkt, etc. Für alle entsteht plötzlich ein neues Universum [...]. Sie konstruieren eine neue Welt" (MÜLLER & MÜLLER 2001, S.233). [26]
Diese neue Welt kann, muss aber nicht – so meine praktische Erfahrung mit dieser Methode – erträglicher sein als die alte; es können sich die Fronten aber auch verhärten und alles kann noch viel schlimmer werden. Der "Teufelskreis" ungünstiger intrafamilialer Sicht-, Verhaltens- und Reaktionsmuster lässt sich v.a. in sog. Problemfamilien, denen (bildungsbürgerliche) verbale Konfliktlösungsmuster oft fremd oder zuwider sind, keineswegs ausschließlich bzw. eher zufällig mittels systemischer Familientherapie durchbrechen. Die Mitglieder von Problemfamilien lassen sich leichter, so meine Erfahrung, von scheinbar unumstößlichen Wahrheiten überzeugen und zu für sie bzw. die gesamte Familie angenehmere Sicht-, Verhaltens- und Reaktionsweisen bewegen – ein therapeutischer Trick, dessen Anwendung allerdings den Glauben an die Möglichkeit von sinn- und kausaladäquater Diagnose voraussetzt, also aus konstruktivistischer Sicht naiv ist. [27]
Wie auch immer. FOERSTERs Kommunikationstheorie jedenfalls schwankt zwischen radikalkonstruktivistisch-monadologischer und sozialkonstruktivistisch-interaktionistischer Argumentation, die nicht die kognitiven Konstruktionsleistungen des Einzelnen, sondern die zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion thematisiert, diese als primär auffasst und empirisch erforscht (vgl. KELLE 1997, S.195). Vor diesem Hintergrund erscheinen Wissen und Wirklichkeit dann eher sozial denn individuell erzeugt zu werden. In denjenigen Momenten, in denen FOERSTER auf eine systemische (bzw. kybernetische) Betrachtungsweise umschwenkt, argumentiert er nicht mehr radikalkonstruktivistisch et vice versa. Sein Denken lässt sich deshalb lediglich bedingt dem Schema zuordnen, welches Kersten REICH zur Unterscheidung zwischen sozialen und radikalen Konstruktivisten heranzieht:
"Wird bei den radikalen Konstruktivisten das Problem der Intersubjektivität eher subjektivistisch und das der Interaktion der Menschen untereinander eher monadologisch gelöst, so betonen soziale oder kulturalistische Konstruktivismen die Rolle und Bedeutung der sozial-kulturellen Intersubjektivität als Bedingung und Voraussetzung auch subjektiver Konstruktionen. Zwar sind sich beide Richtungen im Wesentlichen darüber einig, dass die Konstruktionen von Wirklichkeiten jeweils von subjektiven Wahrnehmungen, Gefühlslagen, Ansprüchen, Erwartungen usw. abhängig sind, aber die sozialen Konstruktivisten definieren das Verhältnis der Beziehungen zwischen Subjekt und Umwelt, zwischen Selbst und anderen nicht einlinig vom Subjekt her, sondern sehen stets die schon erreichte Kultur und Umwelt, den Prozess der Zivilisation und unsere Diskurse hierüber als eine re/konstruierte Basis und Entwicklungsplattform für subjektive Re/Konstruktionen an" (REICH 2001, unpag.). [28]
3.2 Triviale und nichttriviale Maschinen
Aus radikalkonstruktivistischer Perspektive erscheinen Kommunikations- und Interaktionspartner im Unterschied zu trivialen Maschinen, deren Reaktionen auf gegebene Reize absehbar sind, als prinzipiell unberechenbar, als nichttriviale Maschinen. Überhaupt seien triviale Maschinen eher Ausdruck der Sehnsucht westlicher Kulturen nach Gewissheit und Sicherheit, nach einer berechenbaren Welt, die aus der Sicht FOERSTERs letztlich nicht gegeben ist (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.55f.):
"Wir haben es permanent und überall mit nichttrivialen Maschinen zu tun. Manchmal gelingt es uns für einige Zeit, etwas zu trivialisieren – bis uns wieder das ganze Zeug um die Ohren fliegt. Immer spielt die Vergangenheit eine Rolle, beeinflußt die Regeln der Transformation. Und auch das teuerste Automobil geht irgendwann kaputt – und zeigt somit ein geschichtsabhängiges Verhalten. Die ganze Welt ist, so behaupte ich, eine nichttriviale Maschine" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.57). [29]
PÖRKSEN gibt sich mit FOERSTERs Ausführungen nicht zufrieden, denn wenn er die Annahme, dass v.a. der Mensch eine nichttriviale Maschine sei, weiterdenke, werde "die Überraschung zum Kontinuum und die grundsätzliche Unvorhersehbarkeit zur Normalität" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.59). Der Mensch erscheine aus dieser Perspektive als ein Möglichkeitswesen, dessen Reaktionen und Verhaltensweisen prinzipiell unvorhersehbar seien; immer könne etwas gänzlich Unvorhersehbares geschehen. Dem sei aber nicht so. Die Annahme der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens widerspreche einer ganz alltäglichen Beobachtung und Erfahrung:
"Wir verstehen uns nicht ständig falsch, wir begegnen uns zu verabredeten Zeitpunkten, wir können Absprachen für die Zukunft treffen. Es existieren eine Vielzahl von konventionalisierten Verhaltensweisen, die absolut berechenbar sind und Menschen auf vorhersehbare Weise zueinander in Beziehung treten lassen. Daher stellt sich die Frage, wie denn nichttriviale Maschinen – Menschen – auf eine eben doch vorhersehbare Weise zu interagieren vermögen" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.59f.). [30]
FOERSTER erklärt dies – wieder abweichend von seiner radikalkonstruktivistischen Kommunikationstheorie – damit, dass in jenen Interaktionen, in denen man miteinander spreche, sich verabrede, gemeinsame Pläne mache, die verschiedenen beteiligten Menschen bzw. nichttrivialen Maschinen zusammen ein organisatorisch geschlossenes System konstituierten. Dieses bilde sich durch die Wechselwirkung aller Beteiligten heraus: man reagiere aufeinander, nehme auf die Handlungen eines anderen Bezug, stimuliere und respondiere (was heißt das im Falle nichttrivialer Hermeneuten?). Auf diese (für mich leider nicht nachvollziehbare) Weise lasse sich begründen, wie stabiles Verhalten vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Nichttrivialität der Beteiligten, die gemeinsam ebenfalls ein nichttriviales Netzwerk oder System bilden (?!), entstehe. Man könne das Blickfeld erweitern und von der Interaktion einiger weniger Beteiligter ablösen und auf ganze Gesellschaften oder Kulturen ausdehnen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.61):
"Die gesamte soziale Struktur kann als ein geschlossener Operator verstanden werden, der aus den unendlichen Möglichkeiten des Verhaltens gewisse stabile Werte und vorhersehbare Formen der Interaktion entstehen läßt, sie schälen sich – aus der unendlichen Vielfalt des Möglichen – heraus und sind von einem analytischen Standpunkt aus unerklärbar, aus der Perspektive des Erfahrbaren jedoch prognostizierbar. Es entstehen Eigenwerte bzw. Eigenverhalten, stabile Formen der Interaktion. Sprache, Sitten und Gebräuche eines Kulturkreises kann man demnach als Eigensprache, Eigensitten und Eigengebräuche dieses Kulturkreises interpretieren, eines Kulturkreises, in den wir selbst einbezogen sind" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.61). [31]
3.3 Enkulturation und Pädagogik
Nun könnte man sich der empirisch begründeten (probabilistischen) Prognostizierbarkeit sozialer Prozesse dank Kultur bzw. Enkulturation ja eigentlich erfreuen, ähnlich wie die erneute, kulturübliche Verwandlung eines nicht mehr richtig funktionierenden Autos in eine triviale Maschine zumindest dem Besitzer doch eher sinnvoll erscheinen dürfte. Nach FOERSTER sind aber nicht alle Trivialisierungsbestrebungen sinnvoll. So bewertet er es als kritisch, dass ein Großteil institutionalisierter Erziehungsbemühungen zum Ziel habe, Kinder zu trivialisieren:
"Denken Sie nur an den gesellschaftlichen Umgang mit Kindern, die sich – zu unserem Schrecken – vielfach auf eine nichttriviale Weise verhalten. Man fragt ein Kind: 'Was ist zwei mal zwei?' Und es sagt: 'Grün!' Eine solche Antwort ist auf eine geniale Weise unberechenbar, aber sie scheint uns unzulässig, sie verletzt unsere Sehnsucht nach Sicherheit und Berechenbarkeit. Dieses Kind ist noch kein berechenbarer Staatsbürger, und vielleicht wird es eines Tages nicht einmal unseren Gesetzen folgen. Die Konsequenz ist, daß wir es in eine Trivialisationsanstalt schicken, die man offiziell als Schule bezeichnet. Und auf diese Weise verwandeln wir dieses Kind Schritt für Schritt in eine triviale Maschine, das unsere Frage 'Was ist zwei mal zwei?' auf immer dieselbe Weise beantwortet" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.55). "Das Schreckliche mit den Kindern ist, so glauben viele, daß sie sich auf eine nicht voraussagbare Weise gebärden. Sie agieren noch nicht wie triviale Maschinen, die auf einen bestimmten Input immer ein und denselben Output erzeugen. Da unser Erziehungssystem daraufhin angelegt ist, berechenbare Staatsbürger zu erzeugen, besteht sein Zweck darin, jene ärgerlichen inneren Zustände auszuschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen. Vielfach darf in der Schule eine Frage nur eine Antwort haben; es ist eben nicht gestattet, [...] zu sagen, daß zwei mal zwei 'grün' ist. Eigentlich ist das aber doch ein wunderbarer Gedanke, der einen dazu anregen könnte, zu fragen: Warum sagt das Kind 'grün'? Welche Vorstellungen hat es? Und ich vermute, daß mir dieses Kind etwas unwahrscheinlich Schönes oder Lustiges erzählen würde" (a.a.O., S.65). [32]
Einmal abgesehen davon, dass sich v.a. Entwicklungspsychologen spätestens seit Jean PIAGET mit kindlichen Vorstellungen befassen, kann, darf und sollte man – zumindest aus philanthropischer Sicht, weniger im Sinne sozialromantischer Verklärung ("edler Wilder") – es meines Erachtens ruhig als lustig (unerwartet pfiffig) und genial (ungewöhnlich kreativ) empfinden, wenn ein Kind etwa beim Einschulungstest – ein mir zugetragener Fall – ein Dreieck als "A ohne Beine" interpretiert (also keine den Erwartungen der Gatekeeper möglicher Bildung gemäße geometrische, sondern "bereits" eine orthographische Zuordnung vornimmt). Weniger amüsiert berichtet FOERSTER jedoch von einem Kind einer befreundeten Familie, das weinend und viel zu spät von der Schule nach Hause kam, weil es Nachsitzen musste. Die Lehrerin habe es gefragt, wieviel "2 x 3" sei, worauf es nicht das Produkt nannte, sondern – im Sinne des kommutativen Gesetzes der Multiplikation durchaus zutreffend (so zumindest die Interpretation FOERSTERs) – "3 x 2" sagte. Alles habe gelacht und die Lehrerin das Kind in der Ecke stehen lassen. Dass die Lehrerin die Antwort des Kindes nicht als "großartig" erkannte, ist für FOERSTER "sehr traurig". Sie habe von ihm erwartet, dass es auf ihre Frage, was "2 x 3" sei, "6" sagt. Da es dies nicht tat, erschien seine Antwort als falsch, frech und aufsässig. Um derartige "Erziehungsfehler" zu vermeiden, sollten, so FOERSTER, Lehrer mit der prinzipiellen Nichttrivialität ihrer Schüler rechnen; denn sie könnten nie wissen, was ihre Schüler so alles wissen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.66). [33]
Analog der radikalkonstruktivistischen Kommunikationstheorie, der gemäß Kommunikation kein Informationstransfer ist, geht FOERSTER davon aus, dass sich Wissen nicht – zumindest nicht im Sinne des Nürnberger Trichters – vermitteln lässt, sondern der Lernende sich auf unberechenbare Weise sein Wissen erarbeitet. Da das Wissen von diesem selbst generiert werde, komme es in pädagogisch-didaktischer Hinsicht deshalb im Wesentlichen darauf an, "die Umstände herzustellen, in denen diese Prozesse der Generierung und Kreation möglich werden" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.70), was mit Einschränkung an die sokratische Mäeutik erinnert. Nicht nur die Pädagogik, sondern auch die Erwachsenenbildung und das Managertraining haben sich die pädagogischen Vorstellungen FOERSTERs zu eigen gemacht. Da Lehrer bzw. Berater sich nicht allzu viel Hoffnung machen sollten, dass sie ihr Wissen vermitteln könnten, sollten sie sich besser gleich in der sokratischen Bescheidenheit des wissentlich Nichtwissenden üben:
"Wenn die [...] Machbarkeitsvorstellungen angeknabbert sind durch die Beobachtung, 'dass die Teilnehmer/innen vielfach nicht das lernen, was gelehrt wurde, dass etwas gelernt wurde, was nicht gelehrt wurde oder dass gelernt wird, wenn gar nicht gelehrt wird', dann hören wir lieber von Vornherein neugierig zu, was Teilnehmende erzählen, dass sie gelernt haben" (SZABÓ & HANKOVSZKY 2002, S.6). [34]
Falls aber die Trivialisierung von Lernenden – den radikalkonstruktivistischen Annahmen zum Trotz – dennoch erfolgt sei, müsse es laut FOERSTER Aufgabe der Pädagogik sein, zu enttrivialisieren, auf andere Antworten aufmerksam zu machen, zu einer Vielfalt der Lösungen und Sichtweisen anzuregen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.67). Wenn man sich von der Idee der einzig richtigen Antwort verabschiede und eine Vielzahl von Lösungen als möglich erscheinen lasse, dann werde es allerdings schwierig – so der Einwand PÖRKSENs – Prüfungen durchzuführen und festzustellen, was ein Schüler wisse (a.a.O., S.65, 67). Für FOERSTER indes ist ein gutes Zeugnis, das schulische Fertigkeiten bescheinigt, ohnehin lediglich
"ein Beleg für eine geglückte Trivialisierung. Wenn man wirklich immer – klick, klick, klick – die gewünschten Antworten gibt, dann kriegt man gute oder hervorragende Noten, das ist alles. Einer meiner Studenten, ein Computerwissenschaftler, hat einmal ein sehr lustiges Programm erfunden, das man zur Abfassung von Diplom- und Doktorarbeiten verwenden kann. Dieses Programm konstruiert aus den Lieblings- und Schlüsselwörtern des jeweiligen Professors, die man sich in den Vorlesungen notieren muß, zahllose wohlgeformte Sätze. Natürlich muß man, wenn man dieses Schreibprogramm verwendet, hervorragende Noten bekommen. Das ist der ganze Trick" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.68f.). [35]
FOERSTER räumt mit derartigen Äußerungen letztlich nicht nur ein, dass Information dann doch irgendwie transferierbar und so etwas wie Trivialisierung möglich, wenn auch seines Erachtens nicht immer sinnvoll ist, sondern bedient sich implizit sogar lern- und abschreckungstheoretischer Annahmen und entsprechender Mechanismen der Konditionierung, wenn es um die Formung seiner Studenten geht. Diese habe er zu einem "Spiel" eingeladen, das aus konstruktivistischer Sicht "verhängnisvolle Kategorien des Denkens" in den Hintergrund treten lassen oder ganz zum Verschwinden bringen sollte. Mit seinen Studenten habe er ausgemacht, dass jeder, der ein konstruktivistisch verpöntes Wort wie "Realität", "tatsächlich", "Wahrheit" oder "Objektivität" (s.u.) verwende, ein paar Dollar in eine Kasse zahlen müsse (deren Inhalt später für eine gemeinsame Unternehmung verwendet wurde).
"Natürlich, man darf von der Wirklichkeit sprechen, aber das kostet eben zwei Dollar. Und von der Wahrheit zu reden, kann ziemlich teuer werden. Mit Hilfe dieses kleinen gemeinsamen Spieles entstand eine Aufmerksamkeit für die autoritäre Kraft solcher Formeln, man lernt auf diese Weise, eine andere Sprache zu gebrauchen" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.39). [36]
Inhaltlich geht es FOERSTER freilich um die Sensibilisierung für aus konstruktivistischer Sicht illegitime Begrifflichkeiten bzw. Referenzen, die die Verantwortung des Beobachters, Sprechers oder Autors für seine sprachlichen Konstruktionen der Wirklichkeit und deren mögliche Folgen kaschieren. Berufungen auf die Realität, Wahrheit oder das Objektivitätsgebot verlören ihren Sinn, wenn es nicht mehr die eine und für alle gültige Bedeutung eines Ereignisses oder Geschehens gibt. Um feststellen zu können, ob eine Aussage wahr oder falsch sei, müsse eine Einigung auf die eine Bedeutung zumindest als Möglichkeit gedacht werden können, woraus sich für PÖRKSEN die Frage ergibt, was FOERSTER den Journalisten sage, zu deren Berufsethos die objektive Beschreibung eines Sachverhalts gehöre (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.101). Wieder ist es eine Anekdote, anhand derer der Leser etwas über FOERSTERs Praktiken erfährt:
"Ich kam dort hin, um vor angehenden Journalisten einen Vortrag zu halten. Als ich das Gebäude der Fakultät betrat, sah ich, daß über der Tür ein Satz geschrieben stand: 'Tell it as it is!' – Sage, wie es ist! Ich gehe hinein – und beginne meinen Vortrag mit den Worten: 'Meine Damen und Herren, ich habe mit Entzücken diesen Satz entdeckt, aber ich möchte darauf hinweisen, daß er etwas anders lauten müßte. Es muß heißen: 'It is as you tell it!' – Es ist, wie Sie es sagen! Die ursprüngliche Formulierung dient lediglich dazu, die Verantwortung für die eigene Berichterstattung loszuwerden, Sie stilisieren sich auf diese Weise zu einem passiven Registrator, einem Taperecorder. Ich behaupte dagegen, daß Sie, indem Sie ein Geschehen beobachten, eine Sprache benützen, das erzeugen, was gewesen ist. Kein Mensch weiß, wie es war. Das Gewesene ist allein durch die Erzählungen anderer Menschen rekonstruierbar. Alle Darstellungen der Vergangenheit sind Erfindungen von Leuten, die über die Vergangenheit sprechen'" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.101f.). [37]
In einem anderen Interview vermeidet FOERSTER bei seinen Ausführungen zu dieser Thematik die Vorstellung "rekonstruierbar", die aus radikalkonstruktivistischer Sicht unsinnig ist, um dann aber sogleich seine radikalkonstruktivistische Position sozialkonstruktivistisch zu relativieren:
"'Es ist, wie ihr es sagt!' Also müßt ihr auch sehr aufpassen mit dem, was ihr da erzählt. Denn das einzige, was wir haben, ist das, was gesagt ist. Wie es war, ist für immer gegangen. Nicht wiederholbar. Nicht rekonstruierbar. Es ist gegangen. So ist die einzige Methode, wie wir glauben können, wie und was gewesen ist, es zu sagen. Es ist, wie du es sagst, und nicht: sage es, wie es ist. Denn wenn man hören würde, wie die Leute sagen, wie es ist und wie es war, ist fast jede Aussage eine andere. Sie geht durch den Sprachfilter, sie geht durch den Perzeptionsfilter, sie geht durch den Kulturfilter. Alle diese Filter formulieren dann das, was einer glaubt, oder weiß, was einer gesehen hat" (MÜLLER & MÜLLER 1997, S.130). [38]
FOERSTERs Thesen beziehen sich also nicht nur auf Beschreibungen der Vergangenheit, sondern auch auf solche der Gegenwart und entsprechende Behauptungen, dass etwas gegeben oder der Fall sei. FOERSTER plädiert dafür, das vermeintlich Wirkliche bzw. Gegebene immer als selbst zu verantwortende Erzeugung und Erfindung zu begreifen und auf Referenzen auf eine vom Beobachter, Sprecher oder Autor unabhängige Außenwelt zu verzichten (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.25). "Die Welt als eine Erfindung aufzufassen, heißt, sich als ihren Erzeuger zu begreifen; es entsteht Verantwortung für ihre Existenz" (a.a.O., S.28). Für die Art ihrer Beschreibung und deren mögliche Durchsetzung gegenüber anderen Deutungen habe der Erzeuger persönlich die Verantwortung zu tragen (vgl. a.a.O., S.37). Allerdings wimmelt es in den Ausführungen FOERSTERs, u.a. in dessen autobiografischen Beschreibungen, durchaus von Referenzen auf Gegebenheiten, wie z.B. "unter dem Druck der äußeren Gefahr" (a.a.O., S.135), "Druck der Verhältnisse" (a.a.O., S.136), "aus der allgemeinen Notlage" (a.a.O., S.138). Überhaupt neigen Konstruktivisten meines Erachtens dazu, zu Realisten zu werden, wenn es etwa um (eigene) Ohnmachtserfahrungen geht (vgl. LAMNEK & OTTERMANN 2004; OTTERMANN 2003b; PETERS 1995, S.186f.). – Mittels Erving GOFFMANs Rahmen-Analyse (1993) ließe sich vielleicht ein Bogen zwischen Realismus und Konstruktivismus spannen, um jene Neigung, bei der Thematisierung bestimmter Phänomene vom einen Denken in das andere überzugehen, zu erhellen. [39]
Vor allem aber meint FOERSTER von Worten ausgehende sozial schädliche Wirkungen erkennen zu können, weshalb er sich mitunter für eine Eliminierung der ihnen zugrunde liegenden Sprachschöpfungen ausspricht. Woran man Verantwortung – für was auch immer – bemessen solle, lässt FOERSTER mir aber ein Rätsel bleiben. Aus konstruktivistischer Sicht müsste hinsichtlich der Behauptung sozial schädlicher Wirkungen meines Erachtens mit unterschiedlichen Schadensideologien gerechnet werden, aus denen sich entsprechend unterschiedliche Kontrollideologien ergeben bzw. – im Hinblick auf die Zuschreibung von Verantwortung – vice versa (vgl. OTTERMANN 2000, S.321ff.; OTTERMANN 2003b, S.136f.). Wie auch immer, die Begriffe "Wahrheit" und "Objektivität" setzt FOERSTER jedenfalls auf den Index verbotener Worte, weil er sie aus radikalkonstruktivistischer Sicht für unsinnig hält und ihnen in sozialkonstruktivistischer Hinsicht schädliche Wirkungen zuschreibt. [40]
Der grundsätzliche Zweifel an einer allgemein gültigen Wahrheitserkenntnis und die schlagartige Konfrontation mit einer Vielzahl von (Interpretations-) Möglichkeiten könne doch – so merkt PÖRKSEN an – einen epistemologischen Schwindel auslösen, der dem Gefühl gleiche, den Boden unter den Füßen zu verlieren (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.38), ja handlungsunfähig machen. Zudem stelle sich PÖRKSEN die Frage, wie sich dieses Wahrheitsideal, das FOERSTER für so zerstörerisch halte, auf eine leichte, eine flexible und tolerante Weise kritisieren lasse. Die Kritik des Wahrheitsdogmatismus dürfe einen ja nicht zu einem dogmatisch formulierenden Anti-Dogmatiker machen. Zwar gibt FOERSTER zu erkennen, dass ihm ein humorvoller und spielerischer Gestus, Späße, Humor und blöde Witze als mögliche Methoden erscheinen, um selbst eine gewisse Flexibilität zu wahren (a.a.O., S.39). Darüber hinaus aber entscheidet er sich für sprachliche Tabus (wie im oben erwähnten "Spiel" mit seinen Studenten oder seinem Vortrag vor angehenden Journalisten). Sein Ziel sei es, den Begriff der Wahrheit selbst zum Verschwinden zu bringen, weil sich seine Verwendung auf eine entsetzliche Weise auswirke. Er erzeuge die Lüge, er trenne die Menschen in jene, die recht haben, und jene, die angeblich im Unrecht seien. Mit dem Ausspruch "Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" wolle er zum Ausdruck bringen, dass sich Wahrheit und Lüge gegenseitig bedingen:
"Wer von Wahrheit spricht, macht den anderen direkt oder indirekt zu einem Lügner" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.29). "Wenn es keine Lüge gäbe, wäre alles, was gesagt wird, wahr. Aber mit Occhams semantischem Rasiermesser braucht das, was für alles gilt, nicht genannt zu werden. So kommt die Wahrheit erst zustande durch den Lügner: 'Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.'" (a.a.O., S.11). [41]
Wenn es um "Wahrheit" gehe, so PÖRKSEN, sei FOERSTER demnach weder Korrespondenz- noch Konsistenztheoretiker, sondern ein Konsequenztheoretiker. FOERSTER gehe es gar nicht um die Inhaltsseite des Wahrheitsbegriffs, sondern er mache dessen soziale Außenseite zum Thema. Er lenke den Blick auf die atmosphärischen Folgen, die der Begriff der Wahrheit – ein "Chamäleon der Philosophiegeschichte" – unabhängig von seiner jeweiligen benutzerabhängigen inhaltlichen Definition habe (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.29f.). FOERSTER akzeptiert PÖRKSENs Etikettierung als tatsächlich gegebenen Sachverhalt, wobei er sich der Argumentationstechnik der selektiven Plausibilisierung bedient:
"Meine Auffassung ist in der Tat, daß die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen hat und die Einheit der Menschheit zerstört. Der Begriff bedeutet – man denke nur an die Kreuzzüge, die endlosen Glaubenskämpfe und die grauenhaften Spielformen der Inquisition – Krieg" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.30). [42]
Was möglich sei, da folge er dem Philosophen Karl R. POPPER, dem er sonst längst nicht in allem zustimme, sei allein die Falsifizierung von Hypothesen. Diese könnten sich als falsch – ja wie denn? – aber nicht in einem absoluten Sinn als richtig erweisen. In dem Moment aber, in dem man von Wahrheit spreche, entstehe ein Politikum, und es komme der Versuch ins Spiel, andere Auffassungen zu dominieren und andere Menschen zu beherrschen. "Wenn der Begriff der Wahrheit überhaupt nicht mehr vorkäme, könnten wir vermutlich alle friedlich miteinander leben" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.31f.). Gleichwohl wolle er betonen, dass er im Grunde genommen aus der gesamten Diskussion über Wahrheit und Lüge, Subjektivität und Objektivität aussteigen will. Diese Kategorien störten die Beziehung von Mensch zu Mensch, sie erzeugten ein Klima, in dem andere überredet, bekehrt und gezwungen würden. Es entstehe Feindschaft. "Man sollte diese Begriffe einfach nicht mehr verwenden" (a.a.O., S.32). Selbst die Rede von der Wahrheit in einem lediglich regulativen Sinne setze eine Vorstellung von dem voraus, was die Wahrheit ist, was erreicht und angestrebt werden soll. Man gehe in jedem Fall von einer ewigen Wahrheit aus, die da irgendwo am Horizont herumschwebe (ontologischer Wahrheitsbegriff). Schon der Begriff der orientierenden Norm enthalte den heimlichen Zwang zur Anpassung. Andere müssten sich dieser Norm unterwerfen (a.a.O., S.33).
"[D]ie Behauptung einer allmählichen oder asymptotischen Wahrheitsannäherung ist mir unheimlich, weil hier immer schon das Wissen darüber vorausgesetzt wird, wo sich dieses vermeintliche Fernziel befindet" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.34). "Es gibt nicht irgendeine absolute Wahrheit, die einen zwingt, die Dinge so und nicht anders zu sehen, so und nicht anders zu handeln" (a.a.O., S.38). [43]
Im Unterschied zu FOERSTER kritisiert GLASERSFELD übrigens lediglich erfahrungsunabhängige (ontologische) Wahrheitsansprüche, weil er
"das Wort 'wahr' nicht aus dem Vokabular der Konstruktivisten streichen will. Dort aber hat es eine einfache, praktische Definition: Eine Aussage ist wahr, wenn sie die Beschreibung einer erfahrenen Situation ohne gröbere Entstellung wiedergibt. Wenn andere zustimmen, dass die Beschreibung auch auf ihre Erfahrung passt, darf sie als 'intersubjektiv' bezeichnet werden – aber das ist nicht, was Realisten (und die meisten Lehrer der Wissenschaft) unter der Bezeichnung 'objektiv' verstehen" (GLASERSFELD 2001, unpag.). [44]
Den meisten traditionellen Philosophen – so GLASERSFELD – müsse eine erfahrungsabhängige Erkenntnistheorie einfach als falsch erscheinen, denn sie sei durchsetzt mit dem, was sie "genetischen Trugschluss" nennen. Wahres Wissen sei für sie etwas, von dem angenommen werde, dass es als solches unabhängig von subjektiver Erfahrung existiere und darauf warte, von einem menschlichen Denker entdeckt zu werden. "Es soll zeitlose Wahrheit sein und bedarf keiner Entwicklung, außer dass der Anteil, den menschliche Forschung erkennt, durch fortschreitende Entdeckungen größer wird" (GLASERSFELD 2001, unpag.). Aus konstruktivistischer Sicht könne es in Wahrheitsdiskursen aber nicht um Ereignisse in einer eigenständigen Welt gehen, sondern lediglich um "Phänomene" im Sinne von subjektiv perzipierten Erscheinungen, d.h. "um Beobachtungen, die von Beobachtern in ihrem Erfahrungsbereich gemacht werden" (a.a.O.). [45]
Entsprechend der konstruktivistischen Kritik der Vorstellung von einer "ewigen Wahrheit", moniert FOERSTER den "Irrglauben" der (westlich-) szientifischen Denkkultur, dass logische Deduktionen, nach denen Erklärungen in unserem Kulturkreis geformt seien, ein für allemal Gültigkeit besäßen, denn man müsse bereits die Prämissen als Wahrheit hinnehmen, um diese absolute Sicherheit zu konstruieren. Man spiele ein grammatisches Spiel mit vorher festgelegten Ergebnissen. FOERSTER schlägt dagegen vor, stets bereits die Prämissen zu hinterfragen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.52). Außerdem seien doch etwa auch die Parabel, das Gleichnis, die Analogie oder die Geschichte (östlich-) systemische Erklärungsprinzipien, die allerdings mehr und mehr von der (okzidentalen) Kausalitätsidee verdrängt würden,
"die sich wie ein Krebsschaden überall eingeschlichen hat. [...] Das Problem ist die soziale Prägekraft und Macht der Kausalitätsidee, die andere Formen und Möglichkeiten, sich und die Welt zu verstehen zum Verschwinden bringt. Man glaubt heute unbedingt an die Verbindung von einer Ursache mit einer Wirkung. Das erscheint mir als eine entsetzlich triviale Vorstellung von den Zusammenhängen in der Welt. Denn es ist nicht alles ermittelbar und auf die Kausalitätsidee zurückzuführen. Es gibt Überraschungen, Wunder, zu bestaunende Ereignisse" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.53f.). "Alles ist ein Wunder" (a.a.O., S.63). [46]
Erklärungsprinzipien sind für FOERSTER zwar kulturell bedingt und jeweils ganz verschieden, man könne aber zwischen ihnen "auswählen und hin- und herhüpfen". PÖRKSEN jedoch scheint es, als ob FOERSTER vor allem die syllogistische Struktur (linearer Kausalitätsvorstellungen bzw. deduktiver Aussagenlogik) als eine Zwangsjacke empfinde, die er gerne loswerden möchte (weil sie sich nicht mit dem zirkulären bzw. systemischen Denken der Kybernetiker verträgt). PÖRKSEN sei aber nicht klar, welchen Sinn dieser Fundamentalzweifel haben soll (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.31). Tatsächlich scheint FOERSTERs Fundamentalkritik in erster Linie der der klassischen aristotelischen (Aussagen-) Logik immanenten Beschränkung (seines Denkens) zu gelten. Im Rahmen dieses Denkstils erscheinen Paradoxien, Kontradiktionen, Zirkelschlüsse etc. als unzulässig bzw. die betreffenden Aussagen als falsch und verhindern damit aus FOERSTERs Sicht kreative Lösungen. Es sind die logischen Normen bzw. Prämissen selbst, wie etwa, dass ein Satz entweder wahr oder falsch sein müsse, die die Paradoxien erzeugen, mit denen man dann auf aussagenlogischer Ebene nichts anzufangen weiß und sie deshalb als unzulässige Aussagen verbannt. Paradoxien entstehen im Rahmen der klassischen aristotelischen Logik beispielsweise bei selbstbezüglichen Aussagen:
"Was macht man mit einem Menschen, der sagt: 'Ich bin ein Lügner'?! Glaubt man ihm? Dann kann er ja kein Lügner sein, also hat er die Wahrheit gesprochen. Wenn er die Wahrheit gesprochen hat, dann hat er aber gelogen, denn er sagt: 'Ich bin ein Lügner.' Was Logiker seit jener Zeit und bis gestern auf die Palme gebracht hat, ist, daß die Aussage des Epimenides der aristotelischen Forderung – 'ein sinnvoller Satz muß entweder wahr oder falsch sein' – nicht genügt. Der Satz wird falsch, wenn man ihn für wahr hält, und wahr, wenn man ihn für falsch hält" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.119). "It is the dynamics of cybernetics that overcomes the paradox. The paradox produces a 'yes' when it says a 'no', and then produces a 'no' from a 'yes'. It's always a production [panta rhei, R.O.]. In cybernetics you learn that paradox is not bad for you, but it is good for you, if you take the dynamics of the paradox seriously […], it gets you out of that yes-no traps, the true-false trap" (FRANCHI et al. 1995, unpag.). [47]
Nun waren es gerade die populistischen catchwords "Wahrheit" und "Lügner" (weniger das konstruktivistische buzzword "Erfindung") im Titel vorliegender Medieneinheit, die mich dazu verleitet haben, FQS meine Dienste als Rezensent anzubieten. Auch habe ich mit der Thematisierung des Lügner-Paradox gerechnet (nicht jedoch mit seiner kybernetischen Auflösung). Entsprechend enttäuscht bin ich darüber, dass Lüge in diesem Buch gar nicht behandelt, geschweige denn definiert und aussagenlogische Wahrheit mit ontologischer Wahrheit nahezu gleichgesetzt wird. Aus fraudologischer Sicht spielt die aussagenlogische Unterscheidung "wahr vs. falsch" wenn überhaupt, dann lediglich hinsichtlich der Feststellung eine Rolle, ob der Sprecher irrt, der sagt: "Ich lüge immer". Um festzustellen, ob er lügt, braucht es aber die intentionsbezogene Unterscheidung "ehrlich vs. unehrlich". Mit Hilfe dieser Unterscheidung lässt sich befinden, ob der Sprecher den Hörern das mitteilen will, was er wirklich denkt (also ehrlich ist), oder sie aber irreführen will (unehrlich ist). Meint er es ehrlich, dann irrt er, weil er in diesem Moment nicht lügt (seine Äußerung ist im aussagenlogischen Sinne falsch). Will er die anderen irreführen, indem er den Hörern vorzuenthalten trachtet, dass er gar nicht immer lügt, dann irrt er nicht (wenngleich seine Äußerung sowohl im intentionalen Sinne unehrlich als auch im aussagenlogischen Sinne falsch ist). Kurz, die Rede von Wahrheit bedingt nicht die Lüge, sondern den Irrtum; das Gegenteil von Lügen ist nicht "die Wahrheit sagen" im aussagenlogischen oder gar ontologischen Sinn, sondern Wahrhaftigkeit (Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Redlichkeit) als dem Versuch das mitzuteilen, was nach subjektiver Überzeugung der Fall ist (vgl. OTTERMANN 2000, S.38ff.). [48]
4.2 Objektivität und Verantwortung
Es gibt eine Vorstellungswelt, in der Objektivität als Ausgleich bzw. Vermeidung von Parteilichkeit tendenziell möglich erscheint (vgl. MÜLLER & MÜLLER 1997; OTTERMANN 2003a). Es geht hierbei darum, etwa bei anstehenden Entscheidungen, unterschiedliche Positionen (einschließlich der eigenen) in Erwägung zu ziehen, verschiedene Auffassungen zuzulassen und Einseitigkeit (also auch Egozentrismus) zu vermeiden. In diesem Sinne wird beispielsweise von wissenschaftlichen Gutachtern hinsichtlich der Beurteilung von Projekt- und Publikation(santräg)en Objektivität gefordert, auch wenn diese sich de facto nie so ganz realisieren lässt, weil auch Wissenschaftler nicht aus ihrer Haut können (vgl. OTTERMANN 2004a, 2004b; FELT 2004; WEHLING 2004). Dieser pluralistische Objektivitätsbegriff ist und kann von FOERSTER eigentlich nicht gemeint sein, weil er seinen eigenen Vorstellungen und Forderungen widerspräche. Er scheint jedenfalls nicht in erster Linie diesen alltagssprachlichen, (wissenschafts-) ethischen bzw. (forschungs-) politischen, sondern den erkenntnistheoretischen Objektivitätsbegriff ontologischer Prägung thematisieren und problematisieren zu wollen. Letztlich aber kommt es bei FOERSTER – so mein Eindruck – zu einer (für Konstruktivisten nach meinen Diskussionserfahrungen nicht unüblichen) Vermengung der beiden Objektivitätsbegriffe, eben weil nicht (in meinem Sinne) unterschieden wird. [49]
Nach FOERSTER spiegelt sich im (erkenntnistheoretischen) Objektivitätsbegriff bzw. -postulat die "Wahnvorstellung" wider, dass Beobachtungen ohne Beobachter gemacht werden könnten. Die Berufung auf Objektivität diene dazu, die eigene Verantwortung zu leugnen, weshalb jene so beliebt sei. Wenn man ein bisschen näher hinschaue und die Frage stelle, was mit dem Begriff der Objektivität gemeint sei, dann erfahre man, dass es zu den Merkmalen einer objektiven Beschreibung gehöre, dass die individuellen Eigenschaften des Beobachters nicht in diese eingehen, sie beeinflussen und bestimmen sollen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.154f.).
"Aber was heißt das? Soll man nicht seine eigenen Augen benutzen, soll man nicht hören, nicht riechen, nicht schmecken? Mir ist nie recht klargeworden, was die Anhänger des Objektivitätspostulats überhaupt beobachten wollen, wenn sie einem Menschen seine persönliche Sicht der Dinge untersagen. Was soll ein Beobachter wahrnehmen, der, folgt man der Definition von Objektivität, eigentlich blind, taub und stumm sein müßte und dem es verboten ist, seine Sprache zu verwenden? Was soll er uns mitteilen? Wie soll er kommunizieren? Es ist doch, so würde ich meinen, immer ein Beobachter, der beobachtet. Ohne ihn geht gar nichts" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.155). "Auf den locus observandi hinaufzusteigen, heißt: Lege alle deine persönlichen Eigenschaften ab, inklusive des Sehens, inklusive des Sprechens, inklusive der Kultur, inklusive der Kinderstube, und jetzt berichte uns etwas. Na, was soll der berichten? Das kann der ja nicht" (MÜLLER & MÜLLER 1997, S.130). [50]
Wenn man eine Aussage als objektiv bezeichne, dann liege dieser Behauptung die Vorstellung zugrunde, dass man selbst nichts mit dieser Aussage zu tun habe. Angeblich beschreibe man lediglich, fungiere als eine Art Kamera oder passiver Registrator (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.156). Politisch gesehen, sei diese Ablösung des Beobachters vom Beobachteten ein beliebtes Gesellschaftsspiel:
"denn wie will man diesen objektiven Beobachter für irgend etwas verantwortlich machen? Er ist ja nur ein Berichterstatter, er ist nicht beteiligt an dem, was geschieht, er kann sich immer darauf zurückziehen, daß er nur objektiv darstellt, was der Fall ist" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.156). "Objectivity is another of the great tricks to get rid of responsibility […] – it says that the properties of the observer shall not enter a description of his observation. Now if that's so, what remains? No description, no observation. Because these are all properties of the observer" (WATERS 1999, S.83). [51]
Entsprechend dieser (implizit evaluativen) Unterscheidung zwischen der aus konstruktivistischer Sicht haltlosen Behauptung von Objektivität und dem konstruktivistischen Bekenntnis zur Subjektivität lassen sich nach FOERSTER zwei fundamental unterschiedliche Positionen kontrastieren. Der Haltung des unbeteiligten (bzw. von der Welt getrennten) Beschreibers stehe die Haltung des beteiligten (bzw. mit der Welt verbundenen) Beschreibers gegenüber, der sich selbst als Teil der Welt begreife und von der Prämisse ausgehe: Was immer er tue, verändere die Welt. Er sei mit ihr und ihrem Schicksal als deren Erfinder verbunden und damit verantwortlich für seine Handlungen und ihren Zustand (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.158). Was entstehe, sei eine vollkommen andere Haltung gegenüber dem, was man erklären wolle. Man gerate in eine (Rückkopplungs-) Schleife hinein, die einen mit dem jeweiligen Gegenstand und Objekt der Betrachtung verbinde. Die Unterscheidung von Subjekt(ivität) und Objekt(ivität) werde hinfällig. Man lerne sich als einen Teil der Welt zu verstehen, die man beobachten wolle (a.a.O., S.114f.).
"Die gesamte Situation der Beschreibung rutscht in einen anderen Bereich, in dem man plötzlich für seine eigenen Beobachtungen die Verantwortung übernehmen muß. [...] Man versteht, daß die Frage, die man stellt, schon die mögliche Antwort enthält, die man bekommen kann" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.115). "Eine Beobachtung braucht, so wird einem klar, einen Beobachter. Die Wahrnehmung der Welt verlangt nach einem Menschen, der diese wahrnimmt" (a.a.O., S.116). "Erst auf der Ebene der zweiten Ordnung entsteht die Möglichkeit der Selbstreflexion. Nichts ist mehr einfach da, nichts ist mehr selbstverständlich. Entscheidend ist, daß der Beobachter für seine Beobachtungen, sein Sprechen und sein Handeln verantwortlich wird. Er ist untrennbar mit dem Gegenstand und Objekt seiner Beschreibung verbunden" (a.a.O., S.118). [52]
Dann könne man sich beispielsweise auch nicht mehr hinter der vermeintlichen Realität bzw. Notwendigkeit von (logischen, physikalischen, moralischen, rechtlichen etc.) Gesetzen verstecken und sich zum Sprachrohr dessen stilisieren, was sei (deskriptive Gesetze mit ontologischer Referenz) oder zu sein habe (präskriptive Gesetze mit deontologischer Referenz). Alle Gesetze – also auch die sog. Naturgesetze, die immer einen Autor hätten – seien Erfindungen, von Menschen geschaffen und könnten entsprechend auch geändert werden (vgl. FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.47ff.). FOERSTER geht es dabei darum, auf denjenigen hinzuweisen, der von einem Gesetz spreche, und dessen Aussagen vollständig in seinen Verantwortungsbereich hineinzurücken:
"Der Wechsel der Perspektive, von dem ich spreche, macht es möglich, den Urheber eines Gesetzes ganz ins Zentrum zu rücken – und sich zu fragen, ob die von ihm erfundenen Regeln eine Sozialstruktur begünstigen, die ein schöpferisches, kreatives und freundliches Miteinander gestatten. [...] Man muß sich einfach klarmachen, daß jede Vorstellung von einem Gesetz eine hemmende Wirkung besitzt. Es gestattet nur eine Sicht der Dinge, nur einen möglichen Weg, nur eine korrekte und erlaubte Verhaltensweise. Wenn man ein Gesetz als Erfindung begreift, dann betrachtet man für einen Moment nicht jene, die sich vermeintlich falsch benehmen, sondern den Erfinder, den Menschen, der dieses ausgesprochen hat. Er rückt auf diese Weise in den Mittelpunkt der Wahrnehmung, er wird verantwortlich für seine Aussagen. Es gerät die Möglichkeit in den Blick, das Gesetz – weil es vielleicht nicht zu den beobachteten Phänomenen oder unseren Vorstellungen von Menschlichkeit paßt – zu ändern" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.49f.). [53]
Nach PÖRKSEN lasse sich das Verhältnis von Objektivität und verantwortlichem Handeln aber auch genau umgekehrt interpretieren: Der Verweis auf eine als objektiv anerkannte Wahrheit bilde vielfach die Basis für verantwortliches Engagement. Weil etwas objektiv so sei, weil etwa die Naturzerstörung wirklich voranschreite, müsse gehandelt werden. Und umgekehrt könne der Abschied von der Idee einer objektiv erkennbaren Realität sich auch als Rechtfertigung für Gleichgültigkeit anbieten, weil dann nichts mehr als wirklich wichtig und richtig erscheine (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.156.). Diese Interpretation, die die Ablehnung objektiver Erkenntnis als mögliche Rechtfertigung einer gleichgültigen Haltung deute, scheint FOERSTER zwar möglich, aber unsympathisch, weshalb er die umgekehrte Interpretation empfehle, ohne Referenzen nach außen zu machen und das Übel der Welt und das Leiden an ihr nach draußen zu verschieben. Der Objektivist schiebe es weg. Derjenige, der eine nichtobjektivistische Haltung einnehme, sei in ganz anderer Weise, nämlich als Mitleidender involviert. Es entstehe Mitverantwortung und Beteiligung und gerade nicht, wie PÖRKSEN befürchte, Gleichgültigkeit (a.a.O., S.156f.). Allerdings handelt sich hierbei auch gemäß FOERSTER um eine unentscheidbare Frage. Es lasse sich prinzipiell nicht entscheiden,
"welche von diesen beiden Haltungen die richtigere oder die wahrere ist. Verbunden mit der Welt oder getrennt von der Welt – das ist aus meiner Sicht unentscheidbar. Und daher kommt es ausschließlich auf mich und meine Person an, für welche dieser beiden Haltungen ich votiere" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.158f.). [54]
FOERSTERs eigene Haltung ist dafür um so entschiedener, wie vielleicht anhand folgenden Auszugs aus einem der vielen Interviews deutlich wird, in denen er im Grunde immer dieselben diffus konstruktivistisch-systemischen Argumente mit Hilfe von Aphorismen, Anekdoten und Aporien vorträgt, mit deren Hilfe er auch in vorliegender Medieneinheit nicht nur seine Position, sondern auch seine Entscheidung für das Gespräch als Erkenntnismethode gegen mögliche Einwände verteidigt, wenn nicht immunisiert:
"[W]hen we are talking with each other, we are in dialogue and invent what we both wish the other would invent with me. Togetherness is the point in a dialogue. And language is an invitation to dialogue and not an invitation to monologue. You know my funny statement – the hearer and not the speaker determines the meaning of an utterance. And if you know that, then you need to determine how you must speak so that the hearer is dancing with you. […] The whole thing is based on interaction. A living organism interacts with the universe – with every other thing. They are constantly rolling along and changing each other. And this is how life can function, because life is indeed a non-trivial system, Ja? Any action changes itself and changes all the rest. There are two fundamental positions which one can take when talking about anything. The one is the position that I can say, I'm sitting here and looking at the world as through a peephole at what's going on in this universe. The other position is, I'm a part of the world. I am a member of it, not separated from the world. And whatever I do I change not only myself, I change the world as well. […] I'd say that it's a good thing. I would never say that anything's better. Better for whom? No, I don't see universal values – I don't like to play that game. […] I avoid universal judgements. I'd like to undermine them as much as possible, wherever I hear them. […] I always understand that it's me who sees something a certain way. And that it's me who has a responsibility for saying that. But I would not make judgements for others“ (WATERS 1999, S.83f.). [55]
Wie und mit welchem Recht soll man ein Denken kritisieren, "das die Fixierung scheut und das Ideal der Objektivität als einen Mythos versteht" (Klappentext zu PÖRKSEN 2002a)? FOERSTER jedenfalls möchte sich nicht festlegen lassen:
"Um ehrlich zu sein, ist mir fast jeder 'dirty trick' in einer Diskussion recht, um wieder aus einem Kästchen herauszuschlüpfen, in das man mich gerade hineinzupressen versucht" (PÖRKSEN 2002b, S.14). "Wenn es mir gelänge, ununterbrochen vieldeutig zu bleiben, dann wäre ich ganz glücklich. Aber leider bin ich dafür ein zu schlechter Sprecher. Aber ich wünschte mir, ich wäre so ein Sprecher, daß Vieldeutigkeit und die Einladung zur Vieldeutigkeit erhalten blieben. Ich würde gerne so sprechen können, daß mein Zuhörer eingeladen wird, was ich sage, so und so und so zu sehen. Daß der Reichtum des Satzes wächst in dem Hörer, der ihn hört" (MÜLLER & MÜLLER 1997, S.135). [56]
Derartige Praktiken entsprechen zwar FOERSTERs liberal-individualistischer Weltanschauung und seiner Devise, stets so zu handeln, dass die Anzahl der Betrachtungs- und Handlungsmöglichkeiten wächst, d.h. sowohl individuelle Freiheiten als auch Eigenverantwortlichkeiten zunehmen (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.36); sie führen aber zu der absurden Situation, dass nun der Rezensent den Schwarzen Peter hat, da er im Sinne der Hermeneutik des Hörers es ja selbst ist, der FOERSTERs Aussagen eine bestimmte Bedeutung zuschreibt und somit letztlich seine eigenen Konstruktionen kritisiert. Manche Kritiker behelfen sich damit, dass sie FOERSTERs Argumente erst gar nicht systematisch nachzuvollziehen und aufzubereiten versuchen bzw. sich nicht auf dessen Abstraktionsniveau begeben, sondern seinen Sprach- und Denkstil ins Lächerliche ziehen, um, ausgehend von realistischen Annahmen, FOERSTERs metaphorische Beweisführung als unsinnig oder weltfremd zu deuten:
"Eine Situation verlangt, irgendwie zu reagieren, weil ich schon weiß, daß sonst irgend etwas Unangenehmes passiert (oder etwas Angenehmes nicht passiert) [...]. Wenn Du Hunger hast, dann gehe nicht zu Heinz: Er will mit Dir Tango tanzen! [...] Und dann schaut er sich begeistert an, wie die Leute nachdenken" (MILOWIZ 2000, unpag.). [57]
Nicht so sehr in vorliegender Medieneinheit und in Interviews, dafür aber in seinen wissenschaftlichen Artikeln bedient sich FOERSTER aber auch szientifischer Argumentationsformen und Termini, um sein konstruktivistisch-systemisches Denken auch für den wissenschaftlichen Diskurs salonfähig zu machen:
"Eine möglichst strikte Logik und äußerst präzise Formalismen sollen [...] dem Staunen wieder eine Grundlage geben. Der Formalismus und die vielleicht etwas schwierig und abstrakt erscheinenden Überlegungen dienen dazu, auch jene Menschen zu erreichen, die behaupten, sie hätten alles verstanden. Es ist die vermeintlich allumfassende Gültigkeit der Erklärungen, die ich auf eine begründbare Weise in Zweifel ziehen und irritieren möchte" (FOERSTER & PÖRKSEN 2004, S.63). [58]
Aber auch in dieser Form bleibt der praktische Nutzen von FOERSTERs Fundamentalkritik realistisch-ontologischer, also positivistischer Erkenntnistheorie (die in den Sozialwissenschaften spätestens seit ihrer Ablehnung durch Karl R. POPPER kein Mensch mehr vertritt – "wir wissen nicht, wir raten") weithin auf die Problematisierung eingefahrener und repressiver Denkgewohnheiten und das Plädoyer für mehr Toleranz gegenüber Andersdenkenden bzw. alternativen Wirklichkeitskonstruktionen beschränkt. In Alltag und Wissenschaft läuft ein derartiges Denken aber mitunter auf eine Überforderung hinaus, erweist sich als unpraktisch oder nicht zustimmungsfähig. Auch besteht durchaus die Gefahr eines Relativismus, der in seiner Wirkung als genauso schädlich und unsinnig begriffen werden kann, wie der Glaube an ontologische Wahrheit, Kausalität und Objektivität. Ähnlich wie wohl kaum jemand auf Grund der Erkenntnis, dass man in Krankenhäusern keine völlig keimfreie Umgebung herstellen kann, folgern würde, "dass man Operationen genauso gut auch in Kloaken vornehmen kann" (REICHERTZ 2000, Abs.20), scheinen die meisten Menschen und Wissenschaftler vielmehr davon überzeugt, dass Konstruktionen nicht gleich gültig sind:
"ohne die stille und geheime, aber dennoch sehr wirksame Fiktion, dass es zumindest 'bessere' und 'schlechtere' Konstruktionen gibt, lässt sich auch heute nicht in der Wissenschaft leben. Gelingt es nicht, mit einer für eine bestimmte Zeit nicht mehr zur Diskussion stehenden Fiktion alle übrigen zumindest ein wenig zu ordnen, dann verliert man sich buchstäblich im Gewirr der unüberschaubaren Anzahl möglicher Welten" (REICHERTZ 2000, Abs.27). [59]
FOERSTER, dem so sehr an einem friedlichen, zwanglosen und konstruktiven Miteinander gelegen ist, scheint teilweise zu übersehen, dass er anderen, die sich nicht mit dem Denkstil und Habitus des Cybernetic Circle anfreunden können, sowohl in Sprache als auch im Denken Gewalt antut und damit Gegengewalt provoziert. Auch der Cybernetic Circle ist ein "akademischer Club", sein systemisch-konstruktivistischer Denkstil ein standortgebundenes Paradigma im "Streit der Schulen", "Krieg der Sternchen", "Kampf der Fakultäten" und teilweise sogar in "öffentlichen Diskursen" (vgl. OTTERMANN 2004a, 2004b). [60]
Allerdings ist das kybernetische Paradigma so vage und unbestimmt, dass FOERSTER sich die Freiheit nehmen kann, innerhalb eines Gesprächs seine Betrachtungsweise nach Belieben zu wechseln und mit Erkenntnissen vor allem systemisch-interaktionistischer Art zu argumentieren, die ein radikaler Konstruktivist eigentlich bestreiten müsste. Das erschwert die Nachvollziehbarkeit seiner eben nicht ausschließlich radikalkonstruktivistischen Argumentation und kann zu Missverständnissen sowie partiell ungerechtfertigten, weil einseitigen Zuordnungen seiner Arbeit führen. Eine Zuordnung seiner Arbeit entsprechend einem Schubladendenken in Kategorien wie den folgenden scheint mir nach der Lektüre vorliegender Medieneinheit jedenfalls nicht mehr ohne Weiteres – höchstens noch tendenziell – möglich:
"Der Begriff der Selbstorganisation verdeutlicht die Wechselwirkung von Systemkomponenten und Systemorganisation und bringt die Idee der Selbsterzeugung zum Ausdruck. Die Philosophin Eva Meyer hat diese kybernetische Idee als männliches 'Selbstgeburtsphantasma' interpretiert [...] – eine ideologiekritische Beobachtung des Radikalen Konstruktivismus aus der Sicht der Dekonstruktion" (MOSER 2001, unpag.). "Auch unsere Aussagen über die Natur, natürliche Vorgänge, also z.B. über das Gehirn, das für radikale Konstruktivisten so bedeutsam wurde, sind immer konstruierte Aussagen aus dem Kontext einer Kultur heraus. Wer diesen Kontext übersieht und nicht reflektiert, der landet in einem nicht haltbaren Naturalismus. Die sozialen Konstruktivisten kritisieren an konstruktivistischen Richtungen, die zu sehr subjektivistisch argumentieren [...], dass sie die kulturelle Einbindung und damit die Intersubjektivität unterschätzen, mithin zu wenig über die soziale Konstruktion des Wissens arbeiten. [...] Man sollte zudem sehen, dass der Konstruktivismus selbst ein Ausdruck sozial-kultureller Entwicklung ist" (REICH 2001, unpag.). [61]
Die Begründung radikalkonstruktivistischer Thesen mit Hilfe wahrnehmungsbiologischer bzw. neurophysiologischer Theorien und Forschungsergebnisse wird meines Erachtens indessen zu Recht als Paralogismus kritisiert. Befunde empirischer Perzeptions- und Kognitionsforschung können nicht zur Begründung radikalkonstruktivistischer Erkenntnistheorie herangezogen werden, wenn sie selbst auf epistemologischen Prämissen beruhen, die von FOERSTER als syllogistisch-aussagenlogische oder realistisch-ontologische Fiktionen eigentlich abzulehnen sind. Die Erkennbarkeit der Außenwelt unter Bezug auf neurophysiologische Erkenntnisse zu bestreiten, führt zu einem Paradox, das sich nach meinem Gefühl nicht einmal mit Hilfe systemisch-konstruktivistischer Sprachspiele überzeugend auflösen lässt: "Wäre diese These der Unerkennbarkeit korrekt, dann könnte auch die Geltung der neurophysiologischen Erkenntnisse nicht gezeigt werden" (SCHNELL et al. 1999, S.70). Auch gibt es ein theorieimmanentes Selbstanwendungsproblem, das den radikalen Konstruktivismus eher zu einer Glaubensfrage denn zu einer Erkenntnistheorie macht: "Wenn kein Zugang zur Wirklichkeit möglich ist, dann kann auch nicht erkannt werden, daß es diesen Zugang nicht gibt" (a.a.O., S.110). Der radikale Konstruktivismus als solcher kann für die Konzeption und Evaluation konkreter empirischer Sozialforschung (sowohl quantitativer als auch qualitativer Art) deshalb keinen eigenständigen Beitrag leisten. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum sich FOERSTER nicht auf diesen festlegen lassen will, ihn mit einiger Skepsis betrachtet sowie sich die Freiheit nimmt, auch sozialkonstruktivistisch und bei Bedarf sogar (naiv) realistisch zu argumentieren. [62]
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Ralf OTTERMANN, Dr. phil., M.A. Studium der Soziologie, Psychologie und Philosophie. Berufstätigkeiten: Soziologische Lehre und Forschung, Sozialwissenschaftliche Beratung, Psychosoziale und Sozialpädagogische Betreuung. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Probleme, Abweichendes Verhalten und Soziale Kontrolle. In FQS finden sich zwei weitere Besprechungen von Ralf OTTERMANN zu: Kriminalsoziologie (EIFLER 2002) und zu Der Strich. Soziologie eines Milieus (GIRTLER 2004).
Kontakt:
Dr. Ralf Ottermann
Agentur für Praxissoziologie
Hunsrückstraße 63
D-65929 Frankfurt am Main
E-Mail: Ottermann@Praxissoziologie.de
Ottermann, Ralf (2005). Konstruktivismus ist die Erfindung eines Kritikers. Review Essay: Heinz v. Foerster & Bernhard Pörksen (2004). Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker (6. Aufl.) [62 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(3), Art. 3, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs050330.